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Der Colombia-Plan führte zu einer Intensivierung des Krieges

Noam Chomsky über Lateinamerika (Interview)*

Christian Stache: Könntest du uns etwas über die Lage in Lateinamerika sagen? Wie ist die Situation seit der Umsetzung des Colombia-Plans und seit dem Machtantritt der Uribe-Regierung?

Seit Beginn der Durchführung des Colombia-Plans haben die Gräuel rapide zugenommen, die Kämpfe haben sich militarisiert, die Zahl der Ermordeten ist gewachsen, die Zahl der ermordeten Gewerkschaftsaktivisten hat massiv zugenommen, so sehr, dass Kolumbien – ich weiß die Zahlen im Augenblick nicht genau – einen Großteil der ermordeten Gewerkschaftsaktivisten weltweit stellt. Die Zahl der Menschen, die von ihrem Land vertrieben wurden, ist gestiegen, immer mehr Leute werden in die städtischen Slums getrieben. Einige Zahlen darüber finden sich in meinem Buch Hegemony or Survival.[1] Und dabei hinken die Statistiken immer ein Jahr hinter der Realität her. Eine weitere Auswirkung der Umsetzung des Plans ist, dass inzwischen auch die FARC nur noch eine weitere paramilitärische Kraft ist. Ich meine, was immer die FARC einmal war – ursprünglich hat sie sich tatsächlich aus den Nöten und Forderungen der Bauern entwickelt, und sie hatte ein politisches Programm, das auch eine Bedeutung hatte. Mit all dem ist es jetzt vorbei. Heute ist die FARC nur noch eine weitere terroristische Kraft, die den Bauern im Nacken sitzt. Der Plan hat also zu einer Militarisierung des Konfliktes geführt. Für die Menschen in Kolumbien ist das natürlich nicht gut. Ich war vor ungefähr einem Jahr dort, in Südkolumbien.

Die Leute dort haben Angst, darüber zu sprechen: Bauern, die durch die Programme chemischer Kriegführung im Rahmen des Colombia-Plans von ihrem Land vertrieben worden sind. Und inzwischen haben sie genauso viel Angst vor der FARC wie vor den Paramilitärs.

Kannst du das ein bisschen genauer ausführen?

Der Colombia-Plan führte zu einer Intensivierung des Krieges, und in Reaktion darauf nahm die FARC einen verstärkt militärischen Charakter an und ließ ihr soziales Programm fallen. Das ist eine ziemlich naheliegende Reaktion, wenn man militärisch angegriffen wird. Und die militärischen Angriffe auf sie wurden verschärft. Sie wurde aus einigen der von ihr kontrollierten Gebieten vertrieben, und sie reagierte darauf, indem sie mehr und mehr zu einer militanten terroristischen Kraft wurde, eine Veränderung, die deutlich sichtbar war. Inzwischen hat sie kaum noch ein soziales Programm. Ich glaube nicht, dass die Bauern und die Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten, die ursprünglich gewisse Sympathien für die FARC hegten, sie noch als soziale und politische Kraft betrachten. Die ELN vielleicht schon, ja sogar wahrscheinlich, aber das ist eine ziemlich kleine Gruppe. Es gibt jetzt Bemühungen, die paramilitärischen Kräfte in die Gesellschaft zu integrieren, was bedeutet, dass ihre Rolle als Vollstrecker der vorherrschenden Machtverhältnisse formalisiert wird. Wie das im einzelnen aussehen wird, kann ich nicht sagen.

Es ist sehr schwer, irgendetwas über die öffentliche Meinung in Kolumbien zu sagen, weil es dort zwar Meinungsumfragen gibt – die aber total wertlos sind. Die Umfragen werden größtenteils telefonisch gemacht, und drei Viertel der Bevölkerung kennen so etwas wie ein Telefon nur vom Hörensagen. Selbst in Bogotá waren die Vorhersagen für die Wahlen völlig falsch. Das erinnert an das, was gerade in Indien passiert ist – man weiß nicht, was der größte Teil der Bevölkerung denkt, weil diese Menschen außerhalb des Systems der Reichen stehen. Ansonsten hat der Colombia-Plan wohl einfach eine Intensivierung aller hässlichen Züge der Gesellschaft bewirkt. Was seine Auswirkungen auf die Kokainproduktion angeht – um die es ohnehin gar nicht geht –, nun, in dieser Hinsicht scheint er gar keine Auswirkungen gehabt zu haben. Wenn man eine Einschätzung davon bekommen will, wie viel Kokain produziert wird, muss man sich die Preise in New York und London ansehen. Und diese Preise sinken. Als ich vor ein paar Tagen in England war, las ich dort in der Presse, dass die Kokainpreise jetzt die niedrigsten seit Menschengedenken sind, was bedeutet, dass die Produktion enorm gestiegen ist. Wenn man die Produktion im einen Gebiet unterbindet, verlagert sie sich eben an einen anderen Ort. Der Gedanke, auf diese Art gegen Drogen zu kämpfen, ist ohnehin grotesk. Aber selbst wenn man ihn aus welchen Gründen auch immer akzeptiert, stellt sich heraus, dass diese Form der Drogenbekämpfung wahrscheinlich wirkungslos ist. Sie bewirkt einzig und allein, dass die Bauern von ihrem Land vertrieben werden. Sie werden vertrieben, die Bergbaugesellschaften übernehmen das Land und betreiben dort Tagebau, die großen Agrogesellschaften kommen und produzieren für den Export, und so wird das übliche Wirtschaftsmodell eingeführt.

Die indianischen Gemeinschaften und die Bauern leisten an verschiedenen Orten Widerstand, was angesichts der Situation wirklich erstaunlich ist, aber ohne Hilfe von außen haben sie keine Chance.

Kannst du uns etwas über die Rolle der USA bei dem Putschversuch gegen Chavez und bei den Aktivitäten gegen seine Regierung in letzter Zeit sagen?

Wir wissen nicht, ob die USA den Putsch organisiert haben. Ich wäre nicht überrascht, wenn es so wäre, aber es gibt keine direkten Beweise dafür. Unterstützt haben sie ihn, das ist völlig klar. Sie haben die Putschregierung sofort anerkannt. Dann mussten sie wegen der lateinamerikanischen Reaktionen zurückrudern. In Lateinamerika war man entschieden gegen eine Anerkennung des Putsches, und so nahmen auch die USA wieder Abstand davon. Danach wurde der Putsch binnen weniger Tage niedergeschlagen. Aber das ist noch nicht das Ende der Geschichte. Der Oberste Gerichtshof Venezuelas, der ein Überbleibsel des früheren Regimes ist, verweigerte der Regierung die Erlaubnis, den Führern des Putschs den Prozess zu machen, und erstaunlicherweise nahm die Regierung das hin und stellte die Anführer des Putsches nicht vor Gericht. Darüber wurde nicht berichtet, weil es das Bild von der totalitären Chavez-Regierung in Frage stellen würde. Einige Wochen später gab es einen terroristischen Bombenanschlag in Caracas, und die Untersuchung des Anschlags führte zu zwei Militäroffizieren, die sich am Putsch gegen Chavez beteiligt hatten. Sie flohen aus Venezuela nach Florida und beantragten dort politisches Asyl. Venezuela beantragte ihre Auslieferung, damit sie angeklagt werden können – das sagt uns einiges darüber, wie wichtig den USA der Kampf gegen den Terror ist. Das war Anfang März – ich habe in den USA keinen Mucks davon gehört, und soweit ich weiß, ist in den Medien überhaupt nicht darüber berichtet worden. Fakten wie diese sind sehr schwer herauszufinden, weil nichts darüber berichtet wird.

Justin Podur hat darüber geschrieben. Er brachte einen Artikel über Kolumbien und verband seinen Bericht mit der Situation in Venezuela. Dabei sprach er auch von den kolumbianischen paramilitärischen Kräften, die vor Kurzem in Venezuela aufgetaucht sind...

Wir wissen nicht wirklich, was da vorgefallen ist. Wir haben zwei Seiten, die widersprüchliche Versionen davon geben. Die Behauptungen der venezolanischen Regierung hören sich völlig plausibel an, aber Kolumbien bestreitet sie, und wir haben keine unabhängigen Beweise. Wir haben keine Beweise, niemanden, der Nachforschungen durchführt, und so können wir im Moment nur spekulieren. Vom Standpunkt der USA aus gesehen ist die gesamte Region, von Venezuela bis Argentinien, außer Kontrolle geraten. Und dieses Phänomen findet sich überall. Das gefällt den USA gar nicht, aber in Wirklichkeit können sie nicht viel dagegen tun. Man kann sich vorstellen, was sie versuchen werden, aber sie befinden sich in einer ziemlich schwachen Position. Wenn sie den Krieg im Irak problemlos gewonnen hätten, wovon ich eigentlich ausging – ich dachte, das würde ihnen gelingen, aber erstaunlicherweise war dem nicht so –, wenn sie also im Irak erfolgreich gewesen wären, hätte ich damals vermutet, dass sie sich als Nächstes die Andenregion in Lateinamerika vornehmen würden. Die Region ist voll von Streitkräften, Militärstützpunkten, Truppen überall. Sie ist enorm wichtig für die USA. Es gibt sogar Öl dort. Aber momentan glaube ich, dass die USA zu schwach sind, ihre Pläne durchzuführen. Sie werden es vielleicht mit Subversion versuchen. Ich glaube nicht, dass die Bevölkerung in den USA derzeit, nach dem Fiasko im Irak, irgendwelche militärischen Aktionen dort tolerieren würde.

Außerdem gibt es für die USA noch andere Probleme, wie zum Beispiel Argentinien, das sich weigert, die Anordnungen des Internationalen Währungsfonds IWF durchzuführen – und ohne dass der IWF wirklich etwas dagegen machen kann. Er kann nicht einfach die Wirtschaft dort zusammenbrechen lassen, weil US-Banken und US-amerikanische Kreditgeber dort zu viel investiert haben. Und so finden sie sich so halbwegs mit der Weigerung Argentiniens ab, weil ihnen nicht viel anderes übrigbleibt. Und Argentinien fährt ziemlich gut damit.

Vor einigen Wochen hatten wir einige Leute aus Argentinien in Hamburg, die uns erklärten, dass die Kirchner-Regierung gar nicht so großartig ist, wie sie in einigen deutschen Zeitungen hingestellt wird. Sie unterdrückt die Piqueteros und anderes mehr.

Ich bin sicher, dass das stimmt, aber sie weigert sich auch, dem IWF zu gehorchen. Niemand geht davon aus, dass das eine linke Regierung ist. Sie mag die Piqueteros nicht – aus Gründen, die auf der Hand liegen. Keine Zentralregierung mag es, wenn die Leute unabhängig von ihr handeln.

Anmerkungen:

[1] Zu Kolumbien, siehe Hegemony or Survival, S. 52-53 und S. 59-61; deutsch Hybris, S. 68-69 und S. 76-78. In Hybris heißt es auf S. 69: „Die bekannteste kolumbianische Menschenrechtsorganisation schätzt die Zahl der gewaltsam Vertriebenen auf 2,7 Millionen, wobei jeden Tag 1000 weitere dazukommen. In den ersten neun Monaten des Jahres 2002 sollen 350 000 Personen, mehr als im gesamten Vorjahr, mit Gewalt aus ihren Wohnstätten vertrieben worden sein. Die Zahl der politischen Morde ist auf zwanzig pro Tag gestiegen, während es 1998 noch zehn waren.“

* Quelle: ZNet Deutschland 24.05.2004, www.zmag.de


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