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Ingrid Betancourt befreit: Filmreifes Ende der "Operation Schach"

Kolumbianisches Militär setzt Unterwanderung der Guerilla fort

Von Tommy Ramm, Bogotá *

Die Befreiung Ingrid Betancourts nebst dreier US-Amerikaner und elf Soldaten und Polizisten ist ein großer Erfolg für Kolumbiens Präsidenten Alvaro Uribe. Die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) verlieren ihr wichtigstes Faustpfand für Verhandlungen und stecken in der tiefsten Krise ihrer Geschichte.

Mit einem kleinen Rucksack und einer Armeemütze auf dem Kopf stapfte eine abgemagerte, schmalgesichtige, aber lächelnde Ingrid Betancourt am Mittwochnachmittag die Treppe des Armeeflugzeugs herab, das sie von einer Militärbasis in Zentralkolumbien zum Luftwaffenstützpunkt nahe der Hauptstadt Bogotá brachte. Die vielen Jahre Geiselhaft im kolumbianischen Urwald hatten die 46-Jährige zwar sichtlich physisch mitgenommen, aber offenbar nichts von ihrer persönlichen Stärke einbüßen lassen. Mit spitzem Humor erklärte sie vor dutzenden Journalisten, dass sie nach mehr als sechs Jahren Geiselhaft einen Doktortitel in Kenntnissen über die Bewaffneten Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) erworben habe, und erklärte detailliert und gefasst den Ablauf der Befreiungsaktion, die sie wenige Stunden zuvor durchlebt hatte. »Die Operation war perfekt«, sagte Betancourt in einem Ton, als handle es sich dabei um ein Kunstwerk.

Weit davon entfernt war die Operation »Schach« im militärischen Sinne nicht. In spektakulärer Weise gelang es der kolumbianischen Armee, die FARC-Guerilla hinters Licht zu führen. Bei der unblutigen Befreiungsaktion fiel nicht ein einziger Schuss.

Die Armee, die offenbar bereits seit Anfang des Jahres über den Aufenthaltsort der Geiseln Bescheid wusste, schleuste mehrere Spitzel in die Rebellengruppe ein, die mit der Zeit das Vertrauen des zuständigen Kommandanten gewannen. Laut Verteidigungsministerium machten sich die Streitkräfte dabei die prekäre logistische Situation der FARC zunutze. So wurden angebliche Befehle des FARC-Sekretariats zur Konzentration und zur Verlegung der Geiseln durch Hubschrauber gestreut. Wegen der Unterbrechung der Kontakte zwischen den Fronten und zum Sekretariat konnte sich der Rebellenkommandant die Anweisungen nicht bestätigen lassen.

Am frühen Mittwochmorgen (2. Juli) schlug die Armee schließlich zu: Zwei getarnte Hubschrauber der Armee näherten sich dem Rebellenlager in einem unzugänglichen Gebiet im Osten Kolumbiens, um die Geiseln zu verlegen. »Als ich die Besatzung mit ihren Che-Guevara-Shirts sah, war ich sicher, dass es wieder nur Guerilleros waren«, erzählte Betancourt, die zuvor gehofft hatte, dass es sich um eine internationale Delegation handelt. In Handschellen mussten die Geiseln die Maschinen besteigen, was den Entführten kein Ende ihres Martyriums verhieß. Nachdem der Hubschrauber jedoch abgehoben hatte, sah Betancourt den FARC-Kommandanten plötzlich von der Besatzung überrumpelt und geknebelt auf dem Boden liegen. »Wir sind die kolumbianische Armee, und Sie alle auf dem Weg in die Freiheit«, erklärten die Armisten den verblüfften Passagieren. »Wir wären fast abgestürzt, so sehr sprangen, weinten und schrieen wir vor Freude in dem Hubschrauber«, erzählte Betancourt aufgelöst wenige Stunden später in Begleitung ihrer Mutter und ihres Ehemanns.

»Wir haben mit der Befreiungsaktion nichts zu tun«, erklärte USA-Botschafter William Brownfield in Bogotá und beglückwünschte die kolumbianische Seite zu ihrem Erfolg. Allerdings gestand Gordon Johndroe, Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats in Washington, dass die USA-Regierung bei der Operation geholfen habe. »Wir haben spezifische Hilfe geleistet«, brüstete sich Johndroe, ohne genauere Angaben zu machen. Die Vermutung liegt nahe, dass auch die letzten schweren Schläge gegen die Guerilla nicht allein durch die kolumbianische Armee zustande kamen. Anfang März attackierten die Streitkräfte ein Guerillacamp auf ecuadorianischem Territorium, wobei der Vizechef der FARC, Raúl Reyes, ums Leben kam. Lokalisiert wurde dessen Position durch ein abgehörtes Satellitentelefonat, wofür es der kolumbianischen Armee an der nötigen Technik fehlt.

Mit oder ohne US-Unterstützung: Die Befreiung Betancourts versetzt die FARC-Guerilla in eine schier ausweglose Lage. Die französisch-stämmige Politikerin galt neben den US-Amerikanern als bedeutendstes Faustpfand gegenüber der kolumbianischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft bei den Bemühungen um einen Gefangenenaustausch und um Friedensgespräche. Nun ist zu erwarten, dass die Regierung in Bogotá keinerlei Gesprächsbedarf sieht und auf Militäroperationen setzt, die schon in der Vergangenheit zum Tod zahlreicher Verschleppter geführt hatten.

Zur Person - Die Risikofreudige

Das Video brannte sich Ende letzten Jahres in die Köpfe der Weltöffentlichkeit ein: Stumm und abgemagert, den Blick auf den Boden gerichtet, stellte die 46-jährige Ingrid Betancourt ohne Worte ihr Leiden in der Geiselhaft dar, das für sie am 23. Februar 2002 begann und am Mittwoch nach mehr als sechs Jahren glücklich endete.

2002 reiste die kolumbianische Präsidentschaftskandidatin, die die französische Staatsbürgerschaft besitzt, trotz aller Warnungen in den Süden des Landes, um Wahlkampf für ihre Kandidatur und die Grüne Partei zu machen. Ihr Ziel war die Provinzhauptstadt San Vicente del Caguán, die auch als Machtzentrum der FARC-Guerilla galt und wo wenige Tage zuvor drei Jahre lang geführte Friedensgespräche zwischen den Rebellen und der Regierung ergebnislos abgebrochen worden waren. Das Risiko war ihr bewusst. »Ich würde es wieder machen«, gab sie nach ihrer Freilassung an, obwohl Schuld und Zweifel in den letzten Jahren an ihr genagt hätten.

Ingrid Betancourt, die in Paris Politikwissenschaft studierte, führte zunächst ein unbeschwertes Leben an der Seite ihres ersten Ehemanns, des Franzosen Fabrice Delloye, mit dem sie zwei Kinder hat. Erst 1989 kehrte die Diplomatentochter nach Kolumbien zurück. Nach der Trennung von Delloye hatte sie das feste Ziel, sich in die Politik einzumischen.

1994 wurde sie als Abgeordnete der Liberalen Partei in den Kongress gewählt, 1998 zog sie in den Senat ein. Nach dem Bruch mit den Liberalen gründete sie die Grüne Partei. Schlagzeilen machte sie als unkonventionelle und bissige Politikerin, die auf den Straßen eines tief katholischen Landes Kondome verteilte. Bekannt wurde sie für ihren Kampf gegen die ausufernde Korruption in allen Machtetagen des Staates. 2001 verließ sie vorzeitig den Senat, den sie »ein Rattennest« nannte, und kündigte ihre Präsidentschaftskandidatur an. Mitten im Wahlkampf wurde sie entführt. TR


* Aus: Neues Deutschland, 4. Juli 2008

Frankreich jubelt

Von Ralf Klingsieck, Paris *

Nirgendwo sonst in Europa bewegte das Schicksal der in Kolumbien verschleppten Grünen-Politikerin die Menschen so stark wie in Frankreich. Hunderte Menschen arbeiteten jahrelang in Unterstützerkomitees für Betancourt, die auch einen französischen Pass besitzt.

Zu den ersten Worten, die die gerade erst befreite Ingrid Betancourt noch auf dem Flugfeld vor den Medien sprach, gehörte ein herzlicher Dank an Frankreich und all die Franzosen, die sie die sechs Jahre ihrer Gefangenschaft über nicht vergessen, mit ihr gebangt und sich für ihre Freilassung eingesetzt hatten. Entsprechend groß waren hier Freude und Erleichterung über die Nachricht von ihrer Befreiung. Die Worte »Merci la France« und ihre Ankündigung, dass sie gleich in den nächsten Tagen nach Frankreich kommen werde, wurden freudig aufgenommen.

In Paris, wo ihr Vater kolumbianischer UNESCO-Botschafter war, hat sie einen Großteil ihrer Kindheit und Jugend verbracht, hier hat sie Politikwissenschaften studiert. Ihre Kinder Mélanie und Lorenzo, die zum Zeitpunkt der Entführung 2002 16 und 13 Jahre alt waren, wurden dort geboren. Zusammen mit ihrem Vater Fabrice Delloye, der inzwischen von Ingrid geschieden war, hatten sich die Kinder in den Jahren der Gefangenschaft ihrer Mutter immer wieder an die französische und die Weltöffentlichkeit gewandt und gemahnt, nicht nachzulassen in den Bemühungen um die Befreiung Betancourts und der anderen Geiseln im kolumbianischen Dschungel.

Aufgegriffen wurde dieses Anliegen durch zahlreiche Verbände und Organisationen sowie durch Politiker vor allem linker Parteien, aber auch aus dem rechten Lager. So fand der Vorschlag des sozialistischen Pariser Bürgermeisters Bertrand Delanoe, Ingrid Betancourt zur Ehrenbürgerin der Hauptstadt zu machen, quer durch alle Parteien eine breite Mehrheit im Stadtrat. Auf dem Platz vor dem Pariser Rathaus, an dem seit Jahren ein riesiges Porträt und die jeweilige Zahl der Tage ihrer Gefangenschaft an Ingrid Betancourt erinnert hatten, fand ab Donnerstagnachmittag ein riesiges Volksfest statt. Am Freitag kommt Betancourt selbst, um sich zu bedanken. Präsident Nicolas Sarkozy wird da gewiss nicht fehlen.

* Aus: Neues Deutschland, 4. Juli 2008



Zugriff im Dschungel

Kolumbiens Militär hat mit US-Hilfe die Franco-Kolumbianerin Ingrid Betancourt, drei US-Söldner und elf Soldaten aus den Händen der FARC-Guerilla befreit

Von Ingo Niebel **

Kolumbiens Präsident Álvaro Uribe kann nach der Befreiung der franco-kolumbianischen Politikerin Ingrid Betancourt am Mittwoch einen weiteren Schlag gegen die linke Guerillaorganisation Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens (FARC) feiern. Die ehemalige Präsidentschaftskandidatin, die neben der kolumbianischen auch die französische Staatsbürgerschaft besitzt, war vor sechs Jahren während einer Wahlkampftour in die Hände der Guerilla geraten. Für ihre Freilassung setzte sich auch Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy ein. Er gratulierte Uribe am Donnerstag zu dem militärischen Erfolg. Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández sprach von »einem Sieg des Lebens und der Freiheit«. Brasiliens Staatschef Inácio »Lula« da Silva gab seiner Hoffnung Ausdruck, daß man mit der Aktion »einen wichtigen Schritt hin zur Befreiung der übrigen Entführten, für die Versöhnung aller Kolumbianer und den Frieden in Kolumbien getan hat«.

Für Verhandlungen

In das Konzert stimmen Medien ein. Für sie ist Venezuelas Präsident Hugo Chávez der »große Verlierer«, wie es etwa in der Onlineausgabe des Hamburger Nachrichtenmagazins Der Spiegel hieß. Chávez habe mit dem Niedergang der FARC einen seiner wichtigsten Verbündeten verloren, war in dem Korrespondentenbericht zu lesen. Daß er gemeinsam mit der kolumbianischen Senatorin Piedad Córdoba und gegen den Willen Uribes sieben FARC-Gefangenen die Freiheit brachte, scheint vergessen. Immerhin fand Erwähnung, daß Betancourt Chávez und dessen ecuadorianischem Amtskollegen Rafael Correa für ihren Einsatz dankte. In Quito sagte Ecuadors Verteidigungsminister Javier Ponce, der sich ebenfalls erleichtert über den Ausgang des Dramas zeigte: »Es ist schade, daß all dies nicht im Rahmen eines Friedensprozesses geschehen ist, sondern im Verlauf einer militärischen Rettungsaktion.« Ähnlich äußerte sich Boliviens Präsident Evo Morales, der Chávez’ Vermittlerrolle lobte. Auch er unterstrich die Notwendigkeit, den bewaffneten Konflikt in Kolumbien friedlich zu lösen. »Wir befinden uns nicht in Zeiten des bewaffneten Kampfes, und noch weniger in denen der sogenannten Terrorkämpfe, sondern in den Zeiten der demokratischen Kämpfe, die die Völker, die Lateinamerika befreien«, so Morales weiter. Bolviens Staatsoberhaupt unterstützt so die Position von Correa und Chávez, die die Sicherheit in ihren Ländern durch den kolumbianischen Binnenkonflikt gefährdet sehen und daher für eine Verhandlungslösung plädieren.

Eine solche paßt aber nicht in das militärische Szenario der Regierung Uribe. In einem Kommuniqué, das unmittelbar nach der Befreiungsaktion veröffentlicht wurde, wird die Operation »Jaque« (Schach) wie folgt geschildert: Es sei dem Geheimdienst gelungen, die Kommandostrukturen der FARC zu infiltrieren. Die Analyse des Mailverkehrs auf den Laptops des im März ermordeten FARC-Kommandanten Raúl Reyes hätten es ermöglicht, die Kommunikationsstruktur der Guerilla zu erkennen. Hierbei spielte die Hilfe der USA eine wesentliche Rolle. Daß US-Behörden bereits die Operation mitplanten und »spezifische Unterstützung« bereitstellten, bestätigte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates der USA, Gordon Johndroe, am Mittwoch. Die Aufklärung stellte außerdem fest, daß die FARC Betancourt, drei US-amerikanischen Söldner und elf Soldaten an drei verschiedenen Plätzen festhielt.

Bogotás Version

Auf der Basis all dieser Informationen sei es der kolumbianischen Armee gelungen, die verantwortlichen FARC-Kommandeure mit einer Version zu täuschen, derzufolge eine »internationale Kommission« die 15 Gefangenen gemeinsam in Empfang nehmen solle. Mittels gefälschter Befehle will der kolumbianische Geheimdienst eine Zusammenführung der verschiedenen Gefangenengruppen erreicht haben. Laut Aussage von Betancourt erwartete sie ein weißer Hubschrauber. Diese Farbe hatten auch die venezolanischen Maschinen, die im Januar mehrere ehemalige FARC-Gefangene ausgeflogen hatten. An Bord hätten die Agenten den FARC-Kommandanten César und seinen Begleiter entwaffnet.

Für die FARC ist diese Operation der vierte schwere Schlag in Folge. Anfang März wurde ihre Nummer zwei, Raúl Reyes, Opfer eines Militärangriffs. Ende desselben Monats gab die Guerilla den Tod ihres legendären Anführers, des über 70jährigen Manuel Marulanda, bekannt. Vor wenigen Wochen dann desertierte die FARC-Kommandeurin Karima und rief ihre Kampfgenossen auf, die Waffen niederzulegen. Die Frage ist, ob die FARC ein gravierendes Sicherheitsproblem hat oder sich tatsächlich in einem Verfallsprozeß befindet.

Ingrid Betancourt hat angekündigt, sie werde weiterkämpfen: »Für diejenigen, die noch im Dschungel sind«, für den Frieden und den Dialog. Notfalls auch mit Hilfe des Militärs, so die Exgefangene.

** Aus: junge Welt, 4. Juli 2008


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