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Otunbajewa verliert ihre Gefolgschaft

Kirgistan: Vorwürfe gegen Interimspräsidentin

Von Irina Wolkowa, Moskau *

Die Interimspräsidentin Kirgisistans, Rosa Otunbajewa, hat am Freitag (13. Aug.) ein Dekret erlassen, mit dem der 2005 gestürzte erste Präsident der zentralasiatischen Ex-Sowjetrepublik, Askar Akajew, seine Immunität verliert. Die Generalstaatsanwaltschaft in Bischkek wurde beauftragt, von Russland seine Auslieferung zu fordern.

Akajew werden Verbrechen gegen den Staat und das eigene Volk sowie Vergeudung von Volkseigentum vorgeworfen. Gemeint sind der Polizeieinsatz gegen die Opposition 2002, bei dem es Tote und Verletzte gab, Gebietsabtretungen an China und Kasachstan sowie wirtschaftliche Usancen. So hatte Akajew den Großteil der Erlöse aus Kumtor, einer der weltweit größten Goldminen, die Kirgisistan seit Mitte der Neunziger zusammen mit einer kanadischen Firma ausbeutet, am Fiskus vorbeigeschmuggelt.

Akajew wurde im März 2005 bei der sogenannten Tulpenrevolution zum Rücktritt gezwungen. Sie brachte Kurmanbek Bakijew an die Macht, der im letzten April ebenfalls gestürzt wurde und nach Belarus floh. Die Übergangsregierung sieht nicht nur in Bakijew, sondern auch in Akajew, der im russischen Exil lebt, die Drahtzieher ethnischer Unruhen, bei denen im Juni im Süden des Landes Kirgisen und Usbeken aufeinander losgingen. Dabei kamen nach offizieller Angaben 371 Menschen um, vor allem ethnische Usbeken. Menschenrechtler gehen von über 2000 Todesopfern, hunderten Verletzte und zeitweilig fast einer halben Million Flüchtlinge aus.

Der Vorwurf, so Akajew, ein promovierter Mathematiker, der seit 2005 an der Moskauer Lomonossow-Universität arbeitet, sei absurd, die Aufhebung seiner Immunität illegitim, weil nur das Parlament sie beschließen könne. Das alte aber sei von der Übergangsregierung aufgelöst worden, das neue werde erst im Oktober gewählt. Mit dem Erlass wollten die neue Machthaber ohnehin nur davon ablenken, dass sie nicht in der Lage sind, für elementarste Ordnung im Lande zu sorgen und dessen wirtschaftliche und soziale Probleme zu lösen.

In der Tat wird die Interimsregierung, die die sehr heterogene Opposition im April bildete, von internen Konflikten gebeutelt. Mehrere Minister sind bereits ausgeschieden, ihre Parteien kandidieren gegen die sozialliberale Atameken-Partei - die Hausmacht Otunbajewas. Zwar wurde die 60-jährige im Juni bei einem umstrittenen Referendum über die nicht minder umstrittene neue Verfassung, mit der Kirgisistan parlamentarische Republik wird, bis Ende 2011 als amtierende Präsidentin bestätigt. Ihr kommt jedoch zunehmend die Gefolgschaft abhanden. Jetzt muss sie sich auch noch schwere Vorwürfe von Menschenrechtlern gefallen lassen.

Die Regierungstruppen, heißt es in einem 91 Seiten starken Report, den Human Rights Watch (HRW) gestern auf Pressekonferenzen in Moskau und Bischkek vorstellte, hätten bei den Zusammenstößen im Juni der Gewalt - wissentlich oder unwissentlich - Vorschub geleistet, die Soldaten und lokale Ordnungskräfte rund 3500 konkrete Straftaten begangen: Plünderungen, Brandschatzungen, Folterungen und willkürliche Verhaftungen. Dazu kämen Vertuschungsversuche bei der Untersuchung der Vorfälle und neue Akte der Gewalt. Die Regierung habe keine Lösung für die Probleme und sei selbst ein Teil dieser, heißt es in dem Bericht. Die Verantwortliche müssten unabhängig von ethnischer Zugehörigkeit und Amt bestraft werden. Objektive Untersuchungen seien indes nur möglich, wenn die Regierung nationales und internationales Recht respektiert. Darauf müssten auch UNO und OSZE drängen.

* Aus: Neues Deutschland, 17. August 2010


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