Zwei verfassunggebende Versammlungen, zwei Verfassungsentwürfe: In Kirgistan tobt ein Machtkampf
20 Monate nach der "Tulpenrevolution" nehmen die Spannungen zwischen Regierung und Opposition wieder zu
Zu den aktuellen Auseinandersetzungen in der zentralasiatischen Rebublik Kirgistan (Kirgisien) dokumentieren wir im Folgenden zwei Artikel aus der Tagespresse sowie eine aktuelle Meldung der russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti.
"Sieg des Volkes": Neue Verfassung in Kirgisien verabschiedet
BISCHKEK, 09. November (RIA Novosti). Das kirgisische Parlament hat am Mittwoch (8. November 2006) eine neue Fassung des Grundgesetzes angenommen. Für den Entwurf stimmten 65 von 68 anwesenden Abgeordneten. Für die Verabschiedung der Verfassung waren 51 Stimmen notwendig.
"Sobald ein Beschluss des Parlaments gefasst wird, werde ich ihn dem Präsidenten zur Unterzeichnung vorlegen", sagte der Staatssekretär Kirgisiens, Adachan Madumarow, gegenüber RIA Novosti. "Die Verabschiedung der Verfassung ist ein Sieg des Volkes", erklärte Temir Sarijew, einer der Spitzenvertreter der oppositionellen Bewegung "Für Reformen", vor der Presse. "Das Volk ging auf die Straßen und ließ alle, sich an den Verhandlungstisch zu setzen und alle Fragen zu lösen", sagte er. "Wir haben ein vollkommen neues Regierungssystem in unserem Land eingeführt, so dass uns eine große mühsame Arbeit bevorsteht. Das System wird von selbst noch nicht funktionieren. Alles steht noch bevor", erklärte Omurbek Tekebajew, Co-Vorsitzender der Bewegung "Für Reformen", vor Journalisten.
Die kirgisischen Parlamentarier nahmen in zwei Lesungen eine neue Fassung des Grundgesetzes des Landes an. Die Änderung der Verfassung war die Hauptforderung der Opposition. Die neue Verfassung ist das Ergebnis eines Kompromisses, der nach langen Abstimmungen zwischen der Parlamentsopposition, den anderen Abgeordneten und dem Präsidenten Kurmanbek Bakijew erzielt wurde.
Die oppositionelle Bewegung "Für Reformen", der Vertreter von über 20 Parteien und politischen Bewegungen des Landes sowie Parlamentsabgeordnete angehören, führten in den vergangenen sieben Tagen eine unbefristete Protestaktion auf dem Zentralplatz von Bischkek durch. Die Hauptforderung der Oppositionellen war die unverzügliche Verabschiedung einer neuen Verfassung, die die Vollmachten des Staatschefs wesentlich beschränkt. Anderenfalls forderte die Opposition den Rücktritt des Präsidenten Kurmanbek Bakijew und des Premiers Felix Kulow.
RIA Novosti, 9. November 2006
Machtkampf in Kirgistan dauert an
Oppositioneller Verfassungsentwurf scheiterte im Parlament
Von Irina Wolkowa, Moskau *
Die Spannungen zwischen Regierung und Opposition Kirgistans gewannen zu Wochenbeginn (6. November 2006) an
Schärfe.
Zwei verfassunggebende Versammlungen, zwei Verfassungsentwürfe, zwei Demonstrationen in
Bischkek. Ordnungskräfte versuchten am Dienstag allerdings, die Kundgebung der Opposition
aufzulösen, die seit Donnerstag den Rücktritt von Präsident Kurmanbek Bakijew und Premier Felix Kulow fordert. Vier Teilnehmer wurden dabei verletzt. Gleich daneben halten Anhänger der
Regierung eine Gegenkundgebung ab. Beide Gruppen werden durch die Polizei getrennt.
Die gegnerischen Lager beschuldigen einander, die ganze Macht an sich reißen zu wollen. Mit der
Begründung, der von Präsident Bakijew am Montag vorgelegte Entwurf einer Verfassungsreform
begrenze die Allmacht des Staatschefs nur unzureichend, hatte die Opposition das Papier
abgelehnt. Am Abend legte sie einen eigenen Entwurf vor, der den Übergang zu einer
parlamentarischen Republik zur Folge hätte. Eben diesen Entwurf sollte in der Nacht zum Dienstag
eine verfassunggebende Versammlung verabschieden, die sich als Gegenprojekt zum 114-köpfigen
Verfassungsrat versteht, den Bakijew im Herbst 2005 berufen hatte. Abgeordnete des
Regierungslagers boykottierten die Versammlung jedoch und verhinderten auch im Parlament die
Annahme des oppositionellen Verfassungsentwurfs. Er bekam statt der erforderlichen
Zweidrittelmehrheit von 51 nur 45 Stimmen.
Präsident und Regierung bezeichneten das Vorgehen ihrer Gegner als illegitim und warnten vor den
Folgen übereilter Beschlüsse. In der Tat fehlen dem Land für eine rein parlamentarische
Regierungsform nach Ansicht von Fachleuten derzeit wesentliche Voraussetzungen. Die Vielfalt der
Parteienlandschaft kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Gruppierungen keine
Instrumente demokratischer Willensbildung sind. Als politische Arme regional organisierter Clans
organisieren sie für deren Chefs bei Wahlen die nötigen Mehrheiten und lösen sich dann auf. Diesen
Zwängen beugen sich auch prowestliche Politiker wie die frühere Außenministerin Rosa
Otunbajewa. Bei der »Tulpenrevolution« im März 2005 ritt sie die vier Monate zuvor gegründete
»Atajurt« (Vaterlandspartei), ihr neues Schlachtross »Asaba« (Banner) kam erst im März 2006 zur
Welt.
Vor allem aber: Das von der Opposition angestrebte parlamentarische Modell, das den Präsidenten
mit repräsentativen Kompetenzen abspeist und die reale Macht dem Premier zuschiebt, würde die
Allianz zwischen dem Süden (Bakijew) und dem Norden (Kulow) des Landes sprengen. Sie ist
momentan jedoch, bei allen Reibungsverlusten, einziger Garant der staatlichen Einheit Kirgistans.
Schreibweisen: Die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen haben sich laut dpa darauf
verständigt, statt »Kirgisien« und »Turkmenien« künftig »Kirgistan« und »Turkmenistan« zu
schreiben. Dies entspreche den offiziellen Staatenbezeichnungen bzw. orientiere sich an der
Aussprache des Staatennamens in der jeweiligen Landessprache. ND benutzt diese Schreibweisen
bereits seit Jahren, bevorzugte allerdings die Schreibung »Kirgisstan«, da in der Landessprache
tatsächlich zwei (unterschiedliche) s-Laute geschrieben werden. Da dies die Aussprache aber nicht
beeinflusst, schließen wir uns der Vereinbarung der Agenturen an.
* Aus: Neues Deutschland, 8. November 2006
Vertraute Bilder in Bischkek
Kirgisische Opposition verlangt Rücktritt von Präsident Bakijew
Von Peter Böhm **
Nur anderthalb Jahre nach dem Sturz Askar Akajews, des ersten Präsidenten Kirgisstans, und ein
gutes Jahr nach der Wahl seines Nachfolgers Kurmanbek Bakijew steckt der neue Staatschef in
einer Sackgasse.
Seit Donnerstag haben tausende Demonstranten auf dem zentralen Platz der Hauptstadt Bischkek,
ganz in der Nähe des Präsidentensitzes, gegen Bakijews Politik protestiert. Einige haben Zelte
aufgeschlagen und wollen dort ausharren, bis der Präsident zurücktritt. Die Situation erinnert an den
März 2005, als mehrere tausend Demonstranten den Sitz des Präsidenten stürmten und Bakijews
Vorgänger Askar Akajew zur Flucht nach Russland zwangen.
Dennoch gibt es ernsthafte Zweifel daran, dass die »Bewegung für Reform«, das
Oppositionsbündnis, das die Proteste organisiert hat, die Mehrheit der Bevölkerung außerhalb der
Hauptstadt hinter sich hat. Im September hatte die Bewegung ein Treffen im Bezirk Dschalal-Abad,
einer ihrer Hochburgen im Süden des Landes, organisiert. Aber statt der zehntausend erwarteten
Demonstranten kamen nur etwas mehr als 1000.
Hauptforderung ist eine Verfassungsreform, die zur Einschränkung der Macht des Präsidenten führt.
»Wir wollen das autoritäre System abschaffen«, sagt der Oppositionsabgeordnete Ormunbek
Tekebajew, »wonach das Schicksal des Landes von einem Mann abhängt und die Parteien und
andere gesellschaftliche Bewegungen schwach sind. Wer die Macht hat, kann sie leicht
missbrauchen, denn unser Land ist klein und man kann sehr schnell ein wirtschaftliches Monopol
errichten.« Auch der Abgeordnete Alimbek Beknasarow wirft dem Präsidenten Vetternwirtschaft vor:
»Bakijews Sohn hat alle Geschäfte von Akajews Sohn übernommen.« Bakijew weist den Vorwurf
selbstverständlich zurück.
Die Verhärtung der Fronten ist nicht zuletzt den Umständen der Präsidentenwahl im Juli 2005
zuzuschreiben, und sie wird durch persönliche Ressentiments genährt. Bakijew war
Ministerpräsident unter Akajew und schloss sich erst nach seiner Entlassung im Jahr 2002 der
Opposition an. Einige Oppositionsführer sahen bei der Präsidentenwahl 2005 von einer Kandidatur
ab, weil Bakijew als erfahrenster Politiker galt. Sie übernahmen zunächst hohe Posten in der
Regierung, wurden inzwischen jedoch entlassen. Derweil hat Bakijews 15-monatiges Amtieren
erhebliche Zweifel an seinem Reformwillen aufkommen lassen. Gleich nach der Amtsübernahme
vergab er wichtige Posten an Familienmitglieder. Vor allem aber zwei Ereignisse der vergangenen
Wochen leiteten Wasser auf die Mühlen seiner Gegner: Am 29. September überfielen drei Männer
die Sendeanlage des Radio- und Fernsehsenders »Pyramida«, der der Opposition nahe steht. Die
Täter wussten genau, welche Geräte sie außer Betrieb setzen mussten. Da der Überfall nur der
Regierung nützte, fiel der Verdacht natürlich sofort auf sie. Anfang September wurde dann der
prominente Oppositionelle Ormunbek Tekebajew mit 600 Gramm Heroin im Gepäck am Warschauer
Flughafen festgenommen. Aufnahmen einer Überwachungskamera am Bischkeker Flughafen
belegten, dass nur der kirgisische Geheimdienst das Heroin in Tekebajews Gepäck versteckt haben
konnte. Daraufhin musste Bakijew seinen eigenen Bruder als stellvertretenden Geheimdienstchef
entlassen. Dass er selbst nichts von der Aktion wusste, glaubte ihm kaum jemand.
*+ Aus: Neues Deutschland, 7. November 2006
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