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Eurasischer Flickenteppich

Kirgistan tritt in dieser Woche als fünfte ehemalige Sowjetrepublik der Eurasischen Union bei. Kosten und Nutzen umstritten

Von Reinhard Lauterbach *

Mit dem für den 15. Mai geplanten offiziellen Beitritt Kirgistans erreicht die »Eurasische Union« ihre einstweilen politisch durchsetzbare Ausbaustufe. Von den einst 15 Republiken der Sowjetunion haben sich mit Russland und Kasachstan die beiden flächenmäßig größten zusammengeschlossen, dazu das als Transitland nach Europa wichtige Belarus sowie Armenien und das zentralasiatische Kirgistan. Der Beitritt der beiden letzten bringt der Union wenig wirtschaftlichen Mehrwert und dürfte in erster Linie geopolitisch begründet sein: Armenien ist Russlands letzter Verbündeter im Südkaukasus, der allerdings im Konfliktfall mangels direkter Landverbindung schwer zu versorgen und zu halten wäre.

Die Integration von Kirgistan verschafft Russland einen Fuß in Zentralasien, kostet Moskau aber sozial- und energiepolitische Zugeständnisse. Größter Misserfolg der russischen Integrationsstrategie war in letzter Zeit die Absage der Ukraine und ihre Hinwendung zur EU.

Die Konzeption für die Eurasische Union ist im wesentlichen vor 2012 entstanden. Das weitgehend der EU nachgebildete Rechtssystem sieht eine Zone freier Bewegung für Waren, Kapital und Menschen vor. Anders als in der EU ist aber keine tiefergehende politische Vereinheitlichung vorgesehen. Unisono wird der Wert der nationalen Souveränität betont.

Mehr als stillschweigende Neutralität der Unionspartner hat Russland in der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit NATO und EU nicht erreichen können. Sowohl Alexander Lukaschenko, der lange vom belarussisch-russischen Unionsstaat geredet hatte, als auch der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew, haben zuletzt deutlich gemacht, dass sie ihre politische Eigenständigkeit nicht einzuschränken gedenken.

Kasachstan ist dabei einerseits in der besseren Ausgangsposition, da es über reiche Rohstoffvorkommen verfügt und auch von China und zuletzt der EU umworben wird. Andererseits weiß Nasarbajew, dass der Norden seines Landes etwa zur Hälfte von ethnischen Russen besiedelt ist. Das von Wladimir Putin anlässlich der Krim-Übernahme ins Spiel gebrachte Argument von der »Rettung« russischer Landsleute im Ausland fände in Kasachstan genug Betätigungsfeld, sollte ein Bruch mit Russland versucht werden. Doch auch ein eventueller Übergang Kasachstans mit einer Tausende Kilometer langen Landgrenze zu Westsibirien ins westliche Lager wäre für Moskau ein strategischer Alptraum, gegen den der Verlust der Ukraine eine Kleinigkeit wäre.

Für Kirgistan, das in den Jahrzehnten seiner Unabhängigkeit eine Schaukelpolitik zwischen Russland und den USA betrieben hat, haben wirtschafts- und sozialpolitische Argumente den Ausschlag für den Anschluss an die Eurasische Union gegeben. Hunderttausende der sechs Millionen Kirgisen arbeiten als Migranten in Russland. 2013 haben sie gut zwei Milliarden US-Dollar in die Heimat überwiesen und damit einen wesentlichen Beitrag zur kirgisischen Zahlungsbilanz geleistet. Auf der anderen Seite dürfte mit dem Beitritt zur Eurasischen Union der derzeit blühende mehr oder minder informelle Handel entlang der chinesischen Grenze belastet werden. Im Zweifelsfall dürfte sich Moskau kirgisischen Forderungen ausgesetzt sehen, das Land für die entsprechenden Verluste zu entschädigen. Gleichzeitig leiden die kirgisischen Migranten unter der Wirtschaftskrise in Russland, die insbesondere Sektoren wie die Bauwirtschaft wegen der hohen Kreditzinsen in Mitleidenschaft zieht. Die komplizierte soziale und wirtschaftliche Lage des Landes droht im Kontext der Ende 2015 stattfindenden Wahlen auch zu innenpolitischen Konflikten zu führen.

Westliche Stiftungen analysieren vermehrt mögliche Bruchstellen des politischen Systems in Kirgistan. Nachdem die USA einen Mann mit Erfahrung beim Anzetteln »bunter Revolutionen« als Geschäftsträger in die Hauptstadt Bischkek geschickt haben, fürchtet Russland, dass hier der nächste Stein eines geopolitischen Dominospiels umgestoßen werden soll.

Vorwürfe der Wahlfälschung und eines clanorientierten Klientelismus sind in Zentralasien immer leicht bei der Hand. »Zivilgesellschaftliche« Organisationen lassen sich mit ein paar US-Dollars auf die Beine stellen. Die OSZE hat ihre Aktivitäten in diese Richtung in Kirgistan in den letzten Monaten verstärkt.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 13. Mai 2015


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