Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Schock und Entsetzen

Kenia: Jeder misstraut jedem - Alltag in einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft

Von Anja Bengelstorff *


Ida Otieno (28), Grundschullehrerin

Nur wenige Stunden bevor Mwai Kibaki am 30. Januar seine "volle Unterstützung" für den Vermittlungsversuch von Ex-UN-Generalsekretär Kofi Annans verspricht, findet Ida Otieno ein Flugblatt unter ihrer Tür. Bestimmte Ethnien Kenias, darunter ihre, hätten aus der Gegend zu verschwinden, wird ihr mitgeteilt. Otieno lebt in einem Bezirk für die untere Mittelschicht in Nairobi, in dem sie geboren und aufgewachsen ist, geheiratet und zwei Kinder bekommen hat. Die junge Frau ist verzweifelt. Ihr Vermieter hat ihr zwar die Wohnung noch nicht offiziell gekündigt, redet aber seit Wochen nicht mehr mit ihr. Ida Otieno weiß, dass Vermieter von kriminellen Banden unter Druck gesetzt werden: Entweder die Anhänger der Opposition gehen oder das Haus brennt. Aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Volksgruppe wird pauschal auf ein politisches Bekenntnis geschlossen. Ida Otieno ist eine Luo, Oppositionsführer Raila Odinga ist ein Luo - damit ist alles gesagt und entschieden. Viele Hausbesitzer in Nairobi gehören wiederum zu den Kikuyu, dem Volk von Präsident Kibaki.

In den Slums und anderen Armen-Vierteln der Kapitale herrschen Furcht und Entsetzen. Die Bewohner warten darauf, dass ihre frisch gewählten Parlamentsabgeordneten gegen Gewalt und Willkür einschreiten, doch kaum einer hat sich bisher blicken lassen. Drohungen, Verhaftungen und Überfälle lassen die Menschen um ihr Leben bangen. Bewaffnete Banden würden alle terrorisieren, die nach Einbruch der Dunkelheit noch auf der Straße seien, sagen sie.

Sobald es dunkel wird, hängt Ida Otieno ein Bettlaken vors Fenster, "damit niemand sieht, dass ich zu Hause bin". Ihr sechsjähriger Sohn ruft verängstigt: "Sie werden kommen, Mami, schließ die Tür ab!" Die junge Frau redet ohne Unterbrechung, alles bricht aus ihr heraus. Eine Gemüsefrau aus der Kibaki-Ethnie, bei der sie seit Jahren einkaufe, habe ihr ins Gesicht gelacht: "Ich frage mich, wohin ihr Luo demnächst gehen werdet."

Idas Mann sitzt in der Nähe von Kisumu fest. Seit einer Woche schon. Er ist Fahrer bei einer der vielen Transportfirmen, die ihren Betrieb aus Sorge vor Überfällen und Straßenblockaden vorläufig eingestellt haben. Er musste seine Frau bitten, ihm Geld zu schicken. Doch Ida weiß nicht, wie. Der Service eines Fuhrunternehmens, das einen Brief mit Bargeld befördern könnte, kommt nicht in Frage. Die Busse stehen im Depot.

"Das ganze Land braucht psychologische Hilfe", ist Ida Otieno überzeug und sagt diesen Satz nun schon zum dritten Mal. "Es muss in den Schulen anfangen, in den Büros weitergehen und darf in den Hospitälern nicht aufhören. Den Kenianern fehlt es an Respekt füreinander." - Die Schüler ihrer dritten Klasse bringen traumatische Erlebnisse zu Papier. Sie zeichnen Polizisten, die Hunde auf einen Mann hetzen, der ein orangefarbenes T-Shirt der Oppositionspartei ODM trägt. Sie zeichnen Männer, die Macheten schwingen. "Diese Wochen sind eine Folter für die Kinder." Sie ringt die Hände. "Das ist Kenia." Ein Satz voller Ungläubigkeit.

George Ouma (30), Grafiker,
Joel Kariuki (25), Angestellter


Nur wenige Stunden, nachdem Präsident Kibaki am 1. Februar beim Gipfel der Afrikanischen Union in Addis Abeba seine Wiederwahl als legitim verteidigt und der Opposition erneut vorschlägt, das Ergebnis der Präsidentenwahl vor Gericht anzufechten, wird George Ouma, einem Luo, die Wohnung gekündigt. Innerhalb von 24 Stunden muss er ausziehen. Sein Vermieter, ein Kikuyu, hat Angst. Ihm sei gedroht worden - entweder die Luo gehen oder dein Leben ist in Gefahr. Man ist gut beraten, solche Botschaften in diesen Tagen ernst zu nehmen.

George Oumas neues Appartement ist teurer und gehört wieder einem Kikuyu. "Ich habe keine Ahnung, wie lange ich hier bleiben kann", meint er. "Aber in diesem Haus leben viele Luo, und die Frau des Vermieters ist Luo. Also hoffe ich." Seine eigene Frau und die beiden Kinder hat George Ouma schon vor der Wahl Ende Dezember zu seiner Mutter aufs Land geschickt, zur Sicherheit.

Unterdessen steigen die Lebensmittelpreise. Für Ugali-Mehl, einem Grundnahrungsmittel, um 20 Prozent. Ebenso bei Milch und Brot. George Ouma klagt nicht, auch wenn er sich sorgt. In seinem Grafik-Studio bleiben die Aufträge aus. Die Tochter sollte seit einem Monat wieder zur Schule gehen, aber kein Bus fährt nach Nairobi. Er telefoniert jeden Tag mit seiner Frau. Und wartet wie alle anderen, dass es besser wird. Die Anspannung sei unerträglich, sagt er. "Jeder misstraut jedem. Man muss aufpassen, zu wem man was sagt."

Joel Kariuki, angestellt bei der staatlichen Lehrervermittlung, ist seit acht Jahren mit Ouma befreundet. Was in seinem Land passiert, findet er "teuflisch". "Uns Kenianern muss klar sein, dass wir zuallererst Kenianer sind. Erst dann kommt alles andere", sagt der Kikuyu. So zerrissen dieses Land jetzt auch sei, die Freundschaft mit George Ouma nehme keinen Schaden. Eine Freundschaft zwischen Kenianern. Weiter nichts. Sie treffen sich nach wie vor und diskutieren. Nicht immer einig in Details, aber im Kern: "Wir brauchen starke staatliche Institutionen und deshalb eine neue Verfassung. Die Macht darf nicht auf ein Individuum - den Präsidenten - konzentriert sein", sagt Joel Kariuki. Und Ouma nickt.

Die beiden zeigen der Besucherin ihr Viertel Huruma, eines der ärmeren Quartiere Nairobis. Menschen auf engstem Raum. Wäsche flattert von Balkonen. Staub brennt in den Augen, nirgendwo Grün. Immer wieder rußgeschwärzte Mauern von Geschäften und Wohnhäusern. Dort war eine Bar. Mitten auf der Strecke kehren wir um: Weiterzugehen wäre nicht sicher für George Ouma, den Luo. In der anderen Richtung passieren wir ein selbstgemachtes Straßenschild, Raila-Odinga-Straße. Wir kehren um: Weiterzugehen wäre nicht sicher für Joel Kariuki, den Kikuyu.

Francis Aduol (56), Professor
Kim Wafula (35), Dozent


Die Hochschulen Kenias verschieben den Rückruf ihrer Studenten Woche um Woche. Die Universität von Nairobi, die größte öffentliche Lehranstalt des Landes, hat den Betrieb für 15.000 Bachelor-Studenten, denen Platz in Wohnheimen zusteht, vorerst auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. "Wir können die Sicherheit der Studenten nicht garantieren", sagt Francis Aduol, Professor für Ingenieurwissenschaften. "Sie könnten an Demonstrationen teilnehmen, bei denen die Universität sie nie und nimmer schützen kann. Außerdem wissen wir nicht, ob es in den Internaten friedlich bleibt. Nicht zuletzt befürchten wir, dass die Studenten das Ziel von Milizen sein könnten, vor allem in den Wohnheimen außerhalb der Stadt. Außerdem gibt es augenblicklich viele Flüchtlinge auf dem Universitätsgelände."

Graduierte, die Master-Kurse belegen, kommen zum Unterricht, klagen aber, dass es gefährlich sei, erst bei Dunkelheit nach Hause zu kommen. "Zwischen den Dozenten habe ich noch keine offene Feindseligkeit beobachtet, auch keine, die gegen mich selbst gerichtet wäre", sagt Francis Aduol. Das Misstrauen sei eher subtil - man halte Abstand zueinander. In jeder Fakultät seien Gruppen gebildet worden, die psychologische Beratung anbieten.

An den Hochschulen außerhalb der Hauptstadt zeigt sich ein anderes Bild. Universitätsangestellte, die nicht aus den jeweiligen Gegenden stammen, mussten fliehen und haben Angst, zurück zu kommen. Häuser und anderer Besitz wurden zerstört.

Die Stimmung an der Universität Nairobi sei tatsächlich angespannt, fasst Kim Wafula, Dozent für Theaterwissenschaften, seinen Eindruck zusammen. "Im Klub, wo sich die Dozenten treffen, muss man aufpassen, an welchen Tisch man sich setzt. Gespräche geraten schnell außer Kontrolle. Als in Kisumu Demonstranten von Polizisten erschossen wurden, meinte ein Kollege, das müsse ein Polizist aus Zentralkenia gewesen sein. Daraufhin begann eine Kollegin fürchterlich zu weinen."

Ida Otieno (28), Grundschullehrerin

"Kibaki muss zurücktreten. Dann können wir Odinga für eine Woche eine Chance geben oder sogar für einen Monat. Wenn die Gewalt dann auch nicht aufgehört hat, muss er gehen", hatte mir Ida Otieno Anfang Januar erklärt. Nach mehr als einem Monat Angst glaubt sie nicht mehr, dass Kibaki und Odinga gemeinsam den verlorenen Faden des Lebens in Kenia wieder aufnehmen können. "Wir brauchen eine neutrale Person an der Regierung, die uns klarmacht, dass wir alle Menschen sind."

Abends läuft in den Hauptnachrichten des kenianischen Fernsehens der Bericht über eine Hochzeit. Zehn Minuten lang. Es sind keine Prominenten, die heiraten. Der Bräutigam ist Kalenjin, die Braut Kikuyu. "Wir müssen als Kenianer zusammenhalten", sagt der frisch verheiratete Mann. Dass er seine Frau liebe, erzähle er wohl besser nicht im Fernsehen. Die Kamera bleibt auf seinem Gesicht, um dann über die Gäste zu schwenken. Der Reporter weist darauf hin, wie multiethnisch diese Hochzeitsgesellschaft doch sei.

* Aus: Freitag 06, 8. Februar 2008


Zurück zur Kenia-Seite

Zurück zur Homepage