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Kein Rückfall in alte Zeiten, bitte!

Egon Bahr über den Kaukasus-Konflikt, Europas Selbstbestimmung und Sicherheitsinteressen

Als die Argonauten durch das Schwarze Meer segelten, sahen sie die Spitzen des Kaukasus und vernahmen das Stöhnen des an den Felsen geketteten Prometheus wie auch den Flügelschlag des Adlers, der genüsslich an der Leber des bei den Göttern in Ungnade gefallenen Titans pickte. Nicht ihn zu befreien, war der Argonauten Ziel, sondern das Goldene Vlies. Obwohl Jason die von König Äetes gestellte Aufgabe, mit feurigen Stieren den Aresflur zu pflügen und Drachenzähne zu säen, erfolgreich bewältigt hatte, konnte er doch nur mit List und mit Hilfe der Königstochter Medea das Objekt seiner Begierde an sich bringen. Die Argonauten flohen, verfolgt von den zornigen Kolchiern. So die Sage. Tatsächlich gab es Streit und Krieg im Kaukasus schon in der Antike, die Region wurde im Zeitalter der arabischen Eroberungen islamisiert (um 800 u. Z.) und im 19. Jahrhundert dem russischen Zarenreich einverleibt. Begehrlichkeiten weckte das Gebiet, in dem 200 Milliarden Barrel Erdöl vermutet werden, auch in Deutschland: Im Ersten und Zweiten Weltkrieg drang deutsches Militär in den Kaukasus ... Trügerische Ruhe herrscht nach dem jüngsten Waffenstillstand zwischen Russland und Georgien. Ab Mitte Oktober wird sich in Genf die internationale Gemeinschaft mit dem Kaukasus-Konflikt befassen. Egon Bahr, ehemaliger Entspannungspolitiker und renommierter Sicherheitsexperte, ist überzeugt, dass die Verhandlungen – auch wenn sie Zeit brauchen – ein Ergebnis bringen, das alle Streitparteien anerkennen. Mit dem Professor sprach Karlen Vesper.
Wir dokumentieren das Gespräch, das in der Zeitung "Neues Deutschland" erschien.

Neues Deutschland: Am vergangenen Wochenende hatte der stellvertretende Chefredakteur der »Nowaja Gaseta« an der Evangelischen Akademie in Bad Boll erneut die russische Kritik an westlicher Berichterstattung zum Kaukasus-Konflikt bekräftigt; er sprach von einem »westlichen Informationskrieg«. Sehen Sie das ebenso?

Egon Bahr: Ich habe die Berichterstattung über den Kaukasus-Krieg als einseitig empfunden, erschreckend einseitig und überdeutlich in der Ähnlichkeit, die ja nicht befohlen werden kann. Kurzzeitig war erwähnt worden, dass Georgiens Präsident Saakaschwili angefangen hat, doch dann wurde nur noch von einer russischen Aggression gesprochen. Das ist bedenklich. Ist Europa nur noch ein Anhängsel Amerikas?

Sie haben die Vermutung geäußert, dass Saakaschwili für den provokanten Einmarsch in Südossetien grünes Licht aus Washington bekommen hat. Kann man davon ausgehen, dass er von dort sogar angestiftet worden ist?

Das weiß ich nicht. Ich kann nur feststellen, zumindest entspricht dies meiner Lebenserfahrung, dass in einem kleinen Land, in dem 150 oder 200 amerikanische Militärberater stationiert sind, sich kein Regiment ohne Wissen der Amerikaner bewegen kann. Da ist es egal, ob Herr Saakaschwili nun mit Augenzwinkern oder ohne Augenzwinkern ermutigt worden ist. Oder die Amerikaner vielleicht gar versucht haben sollten, ihn abzuhalten – was letztlich fast genauso schlimm wäre, weil das bedeutet, dass dieser sich an keine vernünftigen Ratschläge hält.

Saakaschwili soll einen US-Politikwissenschaftler als Berater haben. Er selber war Stipendiat an der Colombia-University und hat an der George-Washington-Universität promoviert. Mehrere seiner Kabinettsmitglieder haben eine westliche Ausbildung genossen. Da gibt es also enge Bande?

Das weiß ich nicht. Und daraus könnte ich auch noch keinen Beweis ableiten.

Wollte die Bush-Administration, die um Russland einen militärischen Gürtel gelegt hat, einfach mal testen, wie weit sich Moskau provozieren lässt?

Auch das kann ich nicht beantworten. Ich kann nur spekulieren: Wenn der noch amtierende Präsident der USA ein Interesse daran hätte, dem republikanischen Präsidentschaftskandidaten durch eine internationale Spannung, die keine ernsthafte Kriegsgefahr bedeutet, zu helfen, dann kam der Fall Georgien gerade recht. So hat es jedenfalls funktioniert, wie die veröffentlichten Umfrageergebnisse in Amerika zeigten – zumindest, bis die Finanzkrise kam.

Gerhard Schröder nannte Saakaschwili einen »Hasardeur«. Sitzen die eigentlichen Hasardeure nicht im Weißen Haus?

Das könnte ich erst beurteilen, wenn ich genau wüsste, wie die Eskalation in diesem Kaukasus-Konflikt konkret abgelaufen ist und wer der wirkliche Verantwortliche ist, ob er in Tbilissi oder Washington sitzt.

Sie sind gegen eine NATO-Mitgliedschaft Georgiens. Warum?

Wenn nicht einmal die Amerikaner in der Lage sind, den ersten Mann in Tbilissi zu stoppen, dann noch viel weniger die NATO. Und die Vorstellung, dass wir plötzlich in eine Lage gerieten, mit dem dort Herrschenden verbündet zu sein und vielleicht Truppen gegen Russland schicken sollen – da sträubt sich in mir alles. Das wäre abenteuerlich. Für mich ist die Frage einer NATO-Mitgliedschaft Georgiens für längere Zeit ad acta gelegt. Weder Washington noch der NATO-Generalsekretär können über diese einsam bestimmen, es müssen alle NATO-Mitglieder Ja sagen. Ich wäre dann für ein deutsches Nein. Etwas anderes wäre nicht zu verantworten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Vizekanzler, der mit ihr zuvor oft in der Russland-Politik über Kreuz lag, erklärten unisono, dass »wir uns eine Mitgliedschaft wünschen«.

Sie müssen sich den Wortlaut dessen, was beide gesagt haben, Frau Merkel wie Herr Steinmeier, genau ansehen. Im Grunde sagten sie: Wir bleiben bei dem Beschluss von Bukarest im April dieses Jahres, den wir gegen den Wunsch der Amerikaner durchgesetzt haben. Und das heißt: Jetzt keine Mitgliedschaft und auch keine Eröffnung des Verfahrens, an dessen Ende fast automatisch die Mitgliedschaft steht, sondern Aufrechterhaltung einer Perspektive, dass Georgien in die NATO kommen könnte.

Auch in fünf, zehn oder fünfzehn Jahren berührt dies Sicherheitsinteressen Russlands.

Wer weiß, wie die Welt in fünf oder zehn Jahren aussieht? Wie heißt dann der amerikanische Präsident und wie geht die Entwicklung in Russland weiter? Wenn wir im Dezember dieses Jahres nichts weiter tun, als den Bukarester Beschluss zu wiederholen, bin ich zufrieden. Mehr wünsche ich mir erstmal nicht.

Ist mit dem »Fall Georgien« die strategische Partnerschaft der NATO mit Russland, für die Sie stets plädierten, beschädigt?

Sie ist davon nicht berührt.

Moskaus NATO-Botschafter warnte, man werde das Verhältnis zur Allianz gründlich überdenken.

Die strategische Partnerschaft zu Russland ist davon nicht berührt, weil sie einer von Tagesereignissen unabhängigen Linie folgt, nämlich der, dass Sicherheit in und für Europa nicht ohne und nicht gegen Russland möglich ist. Natürlich auch nicht ohne oder gegen Amerika. Für einen Fehler russsischerseits halte ich allerdings die Unabhängigkeitserklärungen für die beiden georgischen Provinzen Südossetien und Abchasien. Und zwar deshalb, weil sie dem widersprechen, was mit russischer Zustimmung formuliert worden ist, seit dem Moskauer Vertrag von 1970: Alle Grenzen in Europa – und natürlich auch außerhalb Europas – können nur im gegenseitigen Einvernehmen geändert werden.

Die Abspaltung Kosovos von Serbien beruhte nicht auf allseitigem Einverständnis.

Russland hat vor der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo gewarnt. Diesen Fehler hat der Westen gemacht – mit dem bekannten Ergebnis, dass 40 Staaten Kosovo anerkannt haben, 160 aber nicht, darunter so wichtige Verbündete wie Spanien und so wichtige Partner wie China. Und natürlich kann auch Russland nicht allein zwei Provinzen eines international anerkannten Staates zu unabhängigen Regionen erklären. Kosovo ist nicht Mitglied der Vereinten Nationen geworden, Abchasien und Südossetien werden es auch nicht schaffen, und die Anzahl ihrer Anerkennungen wird noch geringer sein als im Fall von Kosovo. Ich bin überzeugt, dass die internationale Konferenz zu einer Stabilität der Kaukasus-Region, die am 15. Oktober in Genf beginnt, ein Ergebnis bringt, vielleicht erst 2010 oder später. Das werden dann alle anerkennen, auch Russland.

In der Georgien-Frage gibt es in der NATO und der EU Dissens. Drohen diese beiden Gremien daran zu zerbrechen?

Nein. Ebenso wenig wie die strategische Partnerschaft im Interesse der Stabilität in Europa. Sie darf nicht zur Geisel von zwei Provinzen in Georgien werden. An der Konferenz in Genf werden auch Nichtmitglieder der NATO teilnehmen. Denn wenn man über den Kaukasus verhandelt, dort Stabilität erreichen will, gehören Armenien und Aserbaidshan, die Türkei und vielleicht noch andere Staaten dazu. Die EU ist in diesem Zusammenhang zur Zeit gar nicht gefragt. Sie ist gefragt beim Wiederaufbau in Georgien. Und ich bin sehr gespannt, ob sich auch Amerika daran beteiligen wird, statt nur an einer Wiederbewaffnung Georgiens.

Gerade die neuen Mitgliedstaaten der EU, die Balten und Polen, haben sich im Kaukasus-Konflikt mit Kommentaren nicht zurückgehalten – heftig kontra Russland. Während Frankreich zu vermitteln suchte. Also keine einige Stimme in der EU. Wie soll sie da zu dem von Ihnen immer wieder geforderten Selbstbewusstsein gegenüber der USA und der US-geführten NATO gelangen?

Die Selbstbestimmung Europas ist politisch und sicherheitspolitisch nicht erreichbar, solange Großbritannien nicht mitmacht.

Warum macht Großbritannien nicht mit?

Weil es seit 50 Jahren schon nicht mitmacht, nie richtig mitmachen wollte.

Anglo-amerikanische Bande, historisch tradierte?

Ja, diese Sonderbeziehungen zu Amerika will Großbritannien nicht aufgeben. Ein bekannter britischer Historiker, Timothy Garton Ash, hat vor nicht so langer Zeit geschrieben: »Zwingt uns nicht, uns zu entscheiden zwischen Amerika und Europa. Ihr zerreißt uns. Das können wir nicht.« Und das kann ich verstehen. Umgekehrt muss ich sagen: Es zerreißt auch Europa – wenn es seine Selbstbestimmung x-mal politisch und sicherheitspolitisch beschließt und nicht erfüllen kann.

Sie haben voriges Jahr, auf dem Festkolloquium zur Ihrem 85. Geburtstag, drei Faktoren genannt, die für die Orientierung in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik relevant seien: Amerika, Europa und Russland. Was stünde in einer Prioritätenliste vornean?

Europa. Seine Selbstbestimmung und Sicherheit. Und das verlangt eine Sicherheitsstruktur von Vancouver bis Wladiwostok. Gesamteuropäische Sicherheit gibt es nur mit Russland und Amerika oder Amerika und Russland – wie immer Sie wollen. In Fragen einer solchen Sicherheitspartnerschaft gibt es zwischen beiden Mächten keine Rangunterschiede zu machen.

Unterschiedslos geht es in heutigen Konflikten und Kriegen um Energieressourcen, aus egoistischen nationalen Interessen. Kann man da erwarten, dass Verhandlungen mit vernünftiger Zunge geführt werden?

Kennen Sie irgendeine große Frage, die nicht von nationalen Interessen mitbestimmt wird? Gleich gewichtig wie Öl- oder Gasvorkommen ist hinsichtlich amerikanischer Interessen die Einkreisung Russlands. So hat es jedenfalls der amerikanische Vizepräsident kürzlich in Lettland formuliert.

Und darum sagte Moskau jetzt auch: Stoi! Bis hierhin und nicht weiter.

Da spielt sicher auch ein psychologisches Moment eine Rolle. Moskau kann natürlich nicht vergessen, wie der Westen gehöhnt hat, als man die NATO-Ostausweitungen vorgenommen hat: »Die können das ja nicht verhindern.« Nun haben »die« aber gezeigt, das können sie auch und der Westen kann das nicht verhindern. Solches Verhalten, beidseitig, ist nicht geeignet, die Kooperation zu stärken. Und Kooperation muss der entscheidende Begriff dieses Jahrhunderts bleiben – nicht Konfrontation. Kein Rückfall in alte Zeiten, bitte!

Sie haben vor der Aufstellung der Raketenschilde in Polen und Tschechien gewarnt. Nun sind Tatsachen geschaffen. Enttäuscht?

Nein, Tatsachen sind noch nicht geschaffen. Der Vertrag ist zwar unterzeichnet, aber die Fragen der Ausgestaltung werden Zeit in Anspruch nehmen, die Ratifizierung steht noch aus. Und diese Zeit kann genutzt werden, um einvernehmliche Regelungen, für die es Vorschläge gibt, hinzuzufügen. Warten wir doch ab, bis der nächste amerikanische Präsident sich eingearbeitet hat.

Sie waren Vordenker der neuen Ostpolitik und der Architekt der Ostverträge. Der Warschauer Vertrag und Brandts Kniefall haben Polen mit der Bundesrepublik ausgesöhnt. Die deutschlandfeindlichen Äußerungen in jüngster Zeit aus Polen müssen Sie entsetzt und enttäuscht haben?

Nachdem die Zwillinge nicht mehr gemeinsam Polen regierten, hatte ich Hoffnung, dass unser Nachbarland sich auf seine Interessen in Europa konzentriert. Nun muss ich feststellen, dass das Thema Georgien wie ein Raketentreibsatz gewirkt hat. Das betrifft auch Tschechien und etwas schwächer Rumänien, die drei baltischen Staaten und Bulgarien. Das führe ich darauf zurück, dass sie nicht die 30-jährige Erfahrung haben, die Westeuropa mit der Verlässlichkeit der sowjetischen und dann russischen Zusagen und Absprachen gemacht hat. Die fehlt ihnen. Sie verharren noch in der kollektiven Furcht vor Russland. Das wird Zeit brauchen, aber ich zweifele nicht daran, dass die Kraft der Geografie, die zum Schluss natürlich Interessen und Denken der einzelnen Länder bestimmt, sich durchsetzen wird. Das ist eine Frage der Zeit. Und dies ist auch eine Frage, wie die Wahlen am 4. November in Amerika ausgehen.

Hoffen Sie auf den Demokraten, Barack Obama?

Wie's kommt, wird's genommen.

* Aus: Neues Deutschland, 26. September 2008


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