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Waffenruhe in Kaschmir vereinbart

Eine Chance zum Frieden?

Nachdem eine islamische Untergrundorganisation in Kaschmir überraschend einseitig eine Feuerpause angekündigt hat (30. Juli 2000), gibt es Anzeichen, dass die indische Regierung in offizielle Waffenstillstandsverhandlungen mit den Separatisten eintreten will. Auch aus Pakistan kommen positive Signale. Zur Freude ist es indessen noch zu früh. Wenige Tage nach der Ankündigung gab es wieder grausame Massaker, denen rund 100 Inder zum Opfer gefallen sind. Gefunden wurde am 3. August auch die Leiche eines deutschen Touristen aus Hessen, der seit Mitte Juli in Kaschmir vermisst wurde.
Ein gründlicher Beitrag über die angekündigte Waffenruhe ist am 31. Juli 2000 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen. Daraus die folgenden Auszüge:


Zum ersten Mal in elf Jahren haben am Wochenende in Kaschmir die Waffen geschwiegen. Am 24. Juli überraschte die militante Untergrundorganisation Hezb ul-Mujahedin die Öffentlichkeit mit der Ankündigung, sie habe einen einseitigen Waffenstillstand von drei Monaten verfügt. Damit solle die politische Blockierung gelöst werden und auf dem Gesprächsweg das Leiden der kaschmirischen Bevölkerung gemildert werden. Die indische Regierung reagierte positiv auf das Angebot und erklärte sich ihrerseits zu Gesprächen bereit.

Eine Einzelinitiative?

Ab Freitag setzte die Armee eine Feuerpause in Kraft, die sich allerdings auf die Kämpfe gegen den Hezb beschränkt. Aber angesichts der Schwierigkeit, diese und andere Guerillagruppen auseinander zu halten, ist anzunehmen, dass sich die Sicherheitskräfte bewusst zurückhalten werden. Die anderen Guerillagruppen in Kaschmir haben den einseitigen Schritt des Hezb allerdings scharf verurteilt. Der in Pakistan domizilierte United Jihad Council, der aus sechzehn Organisationen besteht, schloss den Hezb aus seinen Reihen aus. Auch die pakistanische Jamaat-Islami- Partei, deren militärischer Arm der Hezb ul- Mujahedin offiziell darstellt, bezeichnete den Entscheid als Verrat an der Sache Kaschmirs. Selbst die Hurriyat-Konferenz, ein Zusammenschluss von 24 islamischen Parteien im indischen Kaschmir, distanzierte sich. Erst als der Chef des Hezb, Sayed Salahuddin, am Samstag erklärte, die Gespräche mit der indischen Regierung würden ausschliesslich über die Hurriyat geführt, änderte diese ihr Urteil.

Der Schritt des Hezb ul-Mujahedin ist bedeutungsvoll. Es ist das erste Mal, dass eine bewaffnete Organisation zu Verhandlungen bereit ist. Der Hezb ist die grösste der Guerillagruppen und umfasst laut Angaben der indischen Armee rund die Hälfte der 1500 gegenwärtig in Kaschmir aktiven Kämpfer, weitere 4000 werden in Pakistan vermutet. Er ist zudem, obwohl pro-pakistanisch eingestellt, eine Organisation, die hauptsächlich aus Kaschmirern besteht. Die anderen Gruppen rekrutieren eine grosse Zahl ihrer Kämpfer aus Koranschulen in Pakistan. Es ist wenig wahrscheinlich, dass die plötzliche Gesprächsbereitschaft der wichtigsten Guerillagruppe ohne das Einverständnis Pakistans zustande gekommen ist. Die finanzielle und logistische Abhängigkeit aller militanten Gruppen in Kaschmir von Islamabad ist nahezu vollständig. Zudem gibt es Anzeichen, dass die Initiative wenn nicht von Islamabad ausgegangen, so doch von dort gefördert worden ist. Pakistan ist auf Grund seiner Wirtschaftslage von internationalem Wohlwollen abhängig und daran interessiert, im Kaschmir-Konflikt nicht ständig als Aggressor dazustehen. Sowohl indische wie pakistanische Zeitungen sehen im Schritt des Hezb aber in erster Linie die Hand der USA. Washington hat seit den Atomtests vor zwei Jahren eine Lösung des Kaschmir-Konflikts zu einer aussenpolitischen Priorität erklärt. Die Freilassung der Hurriyat-Führungsriege und die Bereitschaft Delhis zu Gesprächen mit dieser werden auf amerikanischen Druck zurückgeführt. Und bei der neusten Initiative hat ausgerechnet Pakistans Militärherrscher General Musharraf in einem Interview mit der Londoner «Times» den USA für ihren jüngsten Beitrag zur Beruhigung der Spannungen in Kaschmir gedankt.

Keine Bedingungen Delhis

Delhi reagierte auf das Gesprächsangebot ohne die übliche Bedingung, auf Verhandlungen nur im Rahmen der indischen Verfassung einzutreten. Dies zeigt, wie sehr auch Indiens Regierung daran interessiert ist, dem Krieg endlich ein Ende zu setzen. Die kürzlich in Gang gekommene Diskussion über vermehrte Autonomie innerhalb eines Staatenverbunds war ein erster Schritt. Aber solange der bewaffnete Untergrund - und Pakistan dahinter - nicht darin einbezogen wird, ist die Chance für eine tragende Lösung gering. Doch selbst wenn die gegenwärtige Waffenruhe halten sollte, bleiben die Hindernisse gewaltig. Alle drei Kontrahenten, Indien, Kaschmir und Pakistan, haben diametral entgegengesetzte Vorstellungen über eine Lösung des Konflikts. Und vorläufig zeichnet sich keine Formel ab, in der sich deren Grundforderungen - Integration (Indien), Annexion (Pakistan) und Souveränität (Kaschmir) - in einen Kompromiss überführen liessen. Dies hat die politischen Lösungsversuche von indischer Seite bisher immer scheitern lassen und den permanenten Belagerungszustand als einzige Option zurückgelassen.
Aus: Neue Zürcher Zeitung, 31. 7. 2000

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