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Zu früh gefreut

Waffenruhe in Kaschmir hielt nur wenige Tage

So einfach ist in der umkämpften Region Kaschmir kein Waffenstillstand, geschweige denn ein Friede zu machen. Nur wenige Tage, nachdem eine führende Separatistengruppe einen auf drei Monate befristeten Waffenstillstand erklärt hatte, explodierten wieder Autobomben.

Tote bei Anschlag in Kaschmir
Bei der Explosion einer Autobombe in einem belebten Einkaufsviertel in Srinagar sind am Donnerstag, den 10. August, zehn Menschen getötet und 20 verletzt worden. Zu dem Anschlag bekannte sich die größte moslemische Rebellengruppe in Kaschmir, die Hizbul Mujahideen; sie hatte am Dienstag ihren Waffenstillstand aufgekündigt.

Die Opfer des Anschlags in Srinagar, der Sommerhauptstadt des indischen Bundesstaates Jammu und Kaschmir, sind nach Angaben der Behörden neun Polizisten und ein Fotoreporter. Sie waren in das Viertel gekommen, nachdem dort zehn Minuten zuvor ein kleinerer Sprengsatz detoniert war. Bei der Explosion nahe einer Filiale der Staatsbank wurden mehrere Autos und Motorräder sowie umliegende Geschäfte beschädigt.

Ein Sprecher der Hizbul Mujahideen sagte in Pakistan, der Anschlag solle Indien an die militärische Stärke der Gruppe erinnern. "Mit unserem Waffenstillstand haben wir den Indern gezeigt, dass wir friedfertig sein können, aber hiermit (mit dem Anschlag) haben wir gezeigt, dass wir auch starke Kämpfer sein können", sagte der Sprecher. Er kündigte "noch schwerere Attentate" an, falls die Regierung in Neu-Delhi weiterhin nicht einlenke.

Die Hizbul Mujahideen hatten am 24. Juli eine dreimonatige Waffenruhe verkündet, diese jedoch bereits am Dienstag wieder aufgekündigt. Das Ende ihrer Feuerpause begründete die Gruppe damit, dass die indische Regierung sich weigere, Pakistan in Friedensgespräche zur Lösung des Kaschmir-Konflikts einzubeziehen. Andere Guerillaorganisationen in der Region hatten den Waffenstillstand von Anfang an scharf kritisiert. Die Moslemgruppe Lashkar-e-Tayyaba verurteilte den Anschlag vom Donnerstag als unnötigen Angriff gegen Zivilisten.

Die indische Regierung machte Pakistan für das Ende des Waffenstillstands verantwortlich. Pakistan wiederum warf der Regierung in Neu-Delhi vor, auf Vorschläge für Friedensgespräche ablehnend reagiert zu haben.

Insgesamt kämpfen mehr als ein Dutzend Guerillagruppen für die Unabhängigkeit Kaschmirs von Indien. Dem Konflikt, fielen bisher mehr als 25 000 Menschen zum Opfer. Erst Anfang August wurden bei neun Guerilla-Überfällen auf Städte und Dörfer im Süden Kaschmirs 102 Bewohner getötet.

Der Konflikt um Kaschmir geht auf die Teilung der Region 1947 zurück, als die britische Kolonialmacht die Staaten Indien und Pakistan gründete. Etwa 45 Prozent Kaschmirs stehen unter indischer, rund ein Drittel unter pakistanischer Verwaltung. Der Rest untersteht der Volksrepublik China. Seit der Teilung haben Indien und Pakistan drei Kriege geführt, zwei davon um die Himalaya-Region.
Aus: Frankfurter Rundschau, 11.08.2000

Dazu ein Kommentar aus der jungen welt vom 15. August 2000:

Schnelles Ende eines Traumes

Kaschmiren sehen sich wieder einmal in ihren Hoffnungen auf Frieden betrogen

Das Intermezzo, mit dem sich das Tor zum Frieden in Kaschmir öffnen sollte, dauerte nur zwei Wochen. Blutige Konfrontation bestimmt wieder den Alltag im nördlichen indischen Unionsstaat. Am 24. Juli hatte überraschend die Rebellenorganisation Hisb-ul Mudjahidin einen einseitigen Waffenstillstand erklärt und die indische Regierung zu einer entsprechenden Antwort aufgefordert. Ebenso überraschend reagierte Neu-Delhi prompt, gab den Streitkräften Befehl, den Waffenstillstand zu respektieren, und schickte Emissäre nach Srinagar. Die seit mehr als zehn Jahren unter dem Krieg zwischen der Guerilla und der Armee leidenden Kaschmiren begannen Hoffnung zu schöpfen. Vielleicht war das der Ansatz zur Normalisierung, zum Frieden, zur Lösung des fast 53 Jahre alten Kaschmir-Konflikts.

Die Hisb-ul Mudjahidin ist eine einheimische kaschmirische Organisation, handelt aber nicht unabhängig von Pakistan, das nahezu alle Rebellengruppierungen im indischen Kaschmir-Teil auf vielfältige Weise unterstützt. Deshalb galt der einseitige Waffenstillstand, der vorerst drei Monate dauern sollte, durchaus als Sensation. Deutete Pakistan im Hintergrund damit an, konstruktiv an die Lösung des Kaschmir-Problems zu gehen? Hatten die USA, die sich als globale Super- und Ordnungsmacht berufen fühlen, den südasiatischen Krisenherd mit seinem nuklearen Potential einzudämmen, Islamabad zu diesem Schritt gezwungen? Ehe es unmißverständliche Antworten auf diese Fragen geben konnte, änderte sich das Szenario plötzlich wieder. Die Feinde des gerade begonnenen Dialogs machten mobil. Mit sechs verschiedenen Attacken an einem einzigen Tag versuchten sie, den Abbruch der Gespräche zu provozieren. 100 unschuldige Zivilisten, hinduistische Pilger, arme Wanderarbeiter und einheimische Kaschmiren wurden bei den Massakern getötet. Doch die indische Regierung ließ sich nicht beirren und hielt am Dialog fest.

Den nächsten Torpedo feuerte die Hisb-Führung selbst ab, als sie nach wenigen Gesprächstagen die Bedingung stellte, Pakistan mit an den Verhandlungstisch zu holen. Beugte sich Neu-Delhi dem Fünf-Tage-Ultimatum nicht, wollten die Guerilla-Gruppen den bewaffneten Kampf wieder aufnehmen. Die Vajpayee-Regierung dachte natürlich nicht daran, sich von der Hisb erpressen zu lassen, und war offenbar bereit, die gerade im Bau befindliche Brücke abrupt wieder einstürzen zu lassen.

Ein Kompromiß ohne Gesichtsverlust wäre gewesen, wenn Neu-Delhi seine grundsätzliche Bereitschaft bekundet hätte, Pakistan mit ins Boot zu nehmen - was ohnehin unvermeidbar für die Regelung des Konflikts ist -, aber zu einem Zeitpunkt, wenn es erste Fortschritte bei den Gesprächen mit der Hisb gegeben hätte. Aber Indien blieb stur. Die Hisb ebenfalls. Am 8. August war das Tischtuch zerschnitten, die Rebellen kehrten zu ihren AK-47-Gewehren zurück, und die Kaschmiren sahen sich wieder einmal in ihren Friedenshoffnungen betrogen.

Von da an überschlugen sich die Ereignisse. In Srinagar explodierte am Donnerstag voriger Woche ein in einem Auto versteckter Sprengsatz. Zwölf Personen wurden dabei getötet und 25 verletzt. Am nächsten Tag forderten die Auseinandersetzungen zwischen Militär und Rebellen 16 Menschenleben, auch darunter Zivilisten. Am Wochenende kamen bei Terroranschlägen erneut über ein Dutzend Menschen ums Leben. Zahlreiche Zivilisten, darunter zwei ungarische Touristinnen, erlitten Verletzungen. Die Hisb-ul- Mudjahidin und die Lashkar-e-Tayaba, die ihren Sitz in Pakistan hat und mit ausländischen Söldnern operiert, wetteiferten darin, sich als verantwortlich für die tödlichen Überfälle zu bezeichnen. Hisb-Chef Syed Salahuddin bekräftigte in Islamabad, seine Organisation werde »nicht von ihrem Ziel abweichen, Kaschmir vom indischen Joch zu befreien.« Warum und worüber wollte er dann überhaupt mit den Indern sprechen? Für die nächsten Tage - am heutigen Dienstag feiert Indien seinen 53. Jahrestag der Unabhängigkeit - kündigte er »die größte Explosion der letzten zehn Jahre« an.

Polizei und Sicherheitskräfte sind nicht nur in Kaschmir, sondern in allen Metropolen des Landes in höchste Alarmbereitschaft versetzt worden. Salahuddin forderte, als ob er von Sinnen sei: »Pakistan sollte sich physisch in Kaschmir beteiligen. Wir wollen Krieg, weil Krieg das Problem lösen wird.«

Neu-Delhi macht für die jüngste Entwicklung voll und ganz Islamabad verantwortlich. Premier Atal Bihari Vajpayee sagte im Parlament zu dem Sprengstoffattentat in Srinagar: »Das ist ein weiteres Beispiel für Islamabads anhaltende Kampagne von grenzüberschreitendem Terrorismus.« Auch für Innenminister Lal Krishna Advani besteht kein Zweifel, daß Pakistan die Aussichten auf Frieden in Kaschmir sabotiert hat.

Eine Überlegung stimmt gewiß: Ein längerer Waffenstillstand wäre von den Kaschmiren begrüßt worden und hätte ihre Einstellung gegenüber den indischen Soldaten und der Regierung ändern können. Diese Perspektive paßt schlecht ins Konzept Pakistans, das den indischen Kaschmirteil am liebsten mit dem eigenen Kaschmir-Gebiet unter rein islamischen Vorzeichen vereinen möchte, und auch nicht in die Strategie der meisten Rebellengruppen. Sie wollen Anschluß an Pakistan oder Unabhängigkeit. Am wenigsten interessiert die Konfliktparteien, was die Kaschmiren wollen.

Welche Lösung strebt Indien an? Hat es ein tragbares politisches Konzept, das auch die kaschmirischen Interessen berücksichtigt? Was sind die kaschmirischen Interessen? Wer vertritt sie - die militanten Organisationen, der politische Dachverband Hurriyat, die Regierung des Unionsstaates Jammu und Kaschmir, die unlängst für Autonomie plädierte? Wäre Indien bereit, einen Teil Kaschmirs für einen unabhängigen Staat zu opfern und wäre Islamabad bereit, sein Kaschmir-Gebiet, das ja schon den hochtrabenden Namen »Azad« (frei) trägt, in wirkliche Unabhängigkeit zu entlassen? Welche Regelung schwebt Washington vor? Wer müßte an Verhandlungen teilnehmen? Antworten darauf gibt es gegenwärtig nicht. Auch wenn der erste Dialogversuch gescheitert ist, der Konflikt läßt sich nur politisch, durch Kontakte, Vertrauen bildende Maßnahmen, Verhandlungen und schließlich bindende Verträge beilegen. Dazu gibt es keine Alternative.

Die Neue Zürcher Zeitung vom 11. August 2000 berichtete über Pressereaktionen auf das Ende des Waffenstillstands:

Enttäuschung über die Realität in Kaschmir
Pressestimmen zum Bruch der Waffenruhe


In die allgemeine Enttäuschung über die vorzeitige Kündigung des Waffenstillstands durch den Hezb ul-Mujahedin in Kaschmir mischt sich auch Realitätssinn. Nach Meinung vieler Kommentatoren in Indien und Pakistan wird die Lösung eines so alten Konflikts noch viele Rückschläge erleben. Dennoch sei das Eis gebrochen, und ein Dialog der Widerstandsgruppen mit der indischen Regierung sei nun nicht mehr tabu.

By. Delhi, 10. August
Nach dem Abbruch des Waffenstillstands durch den Hezb ul-Mujahedin am Dienstag haben Indien und Pakistan eine Runde von gegenseitigen Schuldzuweisungen ausgetragen. Sie liefen entlang der erwarteten Fronten - der Hezb und die pakistanische Regierung wiesen die Verantwortung Indien zu, Delhi replizierte mit gleicher Münze. Immerhin zeigte die Enttäuschung über den Zusammenbruch der Initiative indirekt auch, dass beide Seiten Gespräche als eine bessere Alternative zum aufreibenden Kleinkrieg betrachten. Es waren die radikalen Gruppen, denen das Intermezzo gleichgültig war, da für sie der bewaffnete Kampf ohnehin die einzige Alternative darstellt. Auch die kaschmirische Bevölkerung kümmerten die Schuldzuweisungen nicht, allerdings aus gegenteiligen Motiven: Während zweier Wochen hatte sie gehofft, dass dies der Anfang vom Ende des elfjährigen Bürgerkriegs sei. Nun wurde diese aufgekeimte Friedenschance wieder zunichte gemacht, und dies wog schwerer als die Frage, wer dafür die Schuld trage.

Fehlende Kaschmir-Strategie

Zeitungen beider Länder weisen, bei aller Enttäuschung, darauf hin, dass es naiv gewesen wäre, von diesem ersten Anlauf bereits positive Resultate zu erwarten. Der Konflikt habe so viele Wunden geschlagen, meint die «Times of India», und die Verschiedenheit der Interessen sei nach wie vor so fundamental, dass es noch zahlreiche Anläufe und Rückschläge geben werde, bevor sich schliesslich ein gangbarer Ausweg präsentiere. Auch der Srinagar-Korrespondent des «Indian Express» sah Positives, denn mit den ersten Kontakten sei das Eis gebrochen. Bisher sei es bei den Widerstandsgruppen immer um die Frage gegangen, ob eine Kommunikation mit Indien überhaupt wünschbar sei. Von nun an werde die Frage nicht mehr um den Grundsatz eines Dialogs, sondern um die Bedingungen kreisen, die in einem solchen auf den Tisch kommen müssen.

Auch wenn die indischen Blätter die Ursache für die Aufkündigung des Waffenstillstands unisono im Druck der pakistanischen Regierung sehen, gehen sie einmal mehr mit ihrer eigenen Regierung scharf ins Gericht. Ein weiteres Mal sei diese gezwungen worden, auf Ereignisse und Initiativen anderer zu reagieren. Die südindische Tageszeitung «The Hindu» zählt auf, wie die Vajpayee-Mannschaft in den letzten Monaten von einer Initiative zur anderen gestossen worden sei: Zuerst habe sie auf amerikanischen Druck hin die Führer der oppositionellen Hurriyat-Parteiengruppe freigelassen, es dann aber unterlassen, einen Dialog zu beginnen. Darauf habe sie auf die Autonomieforderung ihres Koalitionsmitglieds Farooq Abdullah, dem Regierungschef des Unionsstaates Jammu und Kaschmir, zuerst mit schroffer Ablehnung, dann mit Annäherung reagiert. Schliesslich habe sie das Waffenstillstandsangebot des Hezb ul-Mujahedin zwar angenommen, dabei aber einen Mangel an diplomatischer Finesse gezeigt, der den Schiffbruch mitverantwortet habe. Die Vajpayee-Regierung «hat sich unfähig gezeigt», meint die Zeitung, «eine kohärente Kaschmir-Politik zu formulieren». Dies ist auch das Resultat der Konfusion in der Regierungspartei, die sich immer noch nicht darüber im Klaren ist, ob Kaschmir nun mehr oder weniger Autonomie braucht.

Kein Weg führt an Pakistan vorbei

Mehrere Zeitungen halten der Regierung zugute, dass sie die Initiative zumindest begrüsst habe und sich nun zu eigen mache. Innenminister Advani wiederholte im Parlament die Einladung an alle in Kaschmir kämpfenden Gruppen, an den Verhandlungstisch zu kommen. Im Urteil der Presse ist dagegen Delhis Weigerung, Pakistan an solchen Gesprächen zu beteiligen, zwar verständlich, aber dennoch ziemlich spitzfindig. Die Begründung eines Dialogs mit dem Hezb ul-Mujahedin - diese seien «our boys» (Kaschmiri) - übersehe geflissentlich die Tatsache, dass jede Gruppierung wesentlich von pakistanischer Hilfe abhängig ist und dass der Hezb offen für einen Anschluss an Pakistan kämpfe. Pakistans Militärchef General Musharraf hieb in dieselbe Kerbe, als er in einer Kabinettssitzung auf Indiens Rechtfertigung verwies, dass die Freiheitskämpfer aus dem indischen Teil Kaschmirs stammten. Dies widerlege Delhis Routinebehauptung, der Bürgerkrieg werde von Islamabad aus orchestriert.
Aus: Neue Zürcher Zeitung, 11. August 2000

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