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In Montreal brennt die Luft

Die kanadischen Studentenproteste weiten sich aus

Von Ina Beyer *

Die Regierung der ostkanadischen Provinz Quebec hat zur Eindämmung der seit drei Monaten währenden Studentenproteste ein Gesetz erlassen, das das Demonstrationsrecht drastisch einschränkt. Jetzt solidarisiert sich auch die breite Bevölkerung mit den Studenten.

»So sieht es derzeit in Quebec aus: Jede Nacht Tränengas und Polizei in voller Montur, aber auch Freude, Gelächter, Freundlichkeit, Zusammensein und schöne Musik. Wir sind so stolz aufeinander, auf die Quebecer Wesensart und auf die Menschen hier, auf unsere Fähigkeit, Widerstand zu leisten und miteinander zu kollaborieren. « Diese Zeilen finden sich in einem offenen Brief an die bürgerliche Presse, den ein Montrealer Demonstrant vor einigen Tagen ins Internet stellte. In dem Brief versucht er, die derzeitige Stimmung in der ostkanadischen Metropole zu schildern, in der seit mehr als drei Monaten die Studenten gegen höhere Studiengebühren demonstrieren.

Begonnen hatte alles mit den Plänen der Quebecer Regierung, das Studium in der Provinz bis 2019 um jährlich 254 kanadische Dollar (190 Euro) zu verteuern. Statt derzeit umgerechnet rund 1700 Euro müssten die Studenten dafür dann jährlich rund 3000 Euro löhnen.

Zwar wäre selbst nach der Erhöhung das Studium in Quebec für nordamerikanische Verhältnisse noch vergleichsweise günstig. Derzeit sind die Studiengebühren nirgendwo in Kanada so niedrig wie in Quebec. Doch in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit, in der eine gute Ausbildung keine Garantie mehr für eine finanziell abgesicherte Zukunft ist, befürchten viele Studenten, nach dem Abschluss mit hohen Schulden dazustehen, die sie auf absehbare Zeit nicht begleichen können.

Die Proteste gegen die Regierungspläne sind in den vergangenen Monaten vor allem von drei Studentenverbänden getragen worden: den gemäßigten Verbänden FEUQ (Vereinigung der Universitätsstudenten) und FECQ (Vereinigung der Collegestudenten) und der radikaleren Koalition CLASSE. Gemeinsam fordern sie, die Studiengebühren auf ihrem derzeitigen Niveau einzufrieren. CLASSE will darüber hinaus deren komplette Abschaffung erreichen. »Zum ersten Mal seit rund 20 Jahren gibt es einen breiten Konsens unter den Studierenden in Quebec«, sagt die linke Professorin Anna Kruzynski, die sich den Protesten angeschlossen hat. Die drei Verbände verhielten sich sehr solidarisch zueinander.

In der Bevölkerung waren die Forderungen der Studenten bislang auf ein geteiltes Echo gestoßen. Eine Mehrheit in Quebec befürwortete sogar die Gebührenerhöhung. Nach der übereilten Verabschiedung des Sondergesetzes »Bill 78« – es gab nur 20 Stunden parlamentarischer Debatte – am 18. Mai sind die Sympathien jedoch umgeschlagen. Bis zu 95 000 Euro Geldstrafe für einen Streikposten sieht das Gesetz vor. Für eine ungenehmigte Demonstration wird genauso viel fällig.

Mit »Bill 78« hatte die Provinzregierung gehofft, die Proteste eindämmen zu können. Doch diese Maßnahme ging selbst den sonst so höflichen und gesetzestreuen Kanadiern zu weit. Der Lehrer für Politikwissenschaft François-Olivier Chené verglich in Montreal das Vorgehen der Provinzregierung mit den Zuständen in einer Diktatur. Im sozialen Netzwerk Facebook rief er kurz nach der Verabschiedung des Gesetzes dazu auf, es der »Casserole «-Bewegung in Chile während der Pinochet-Diktatur gleichzutun. Der Diktator habe damals »entschieden, dass Treffen von mehr als vier Leuten illegal seien. Als Reaktion darauf benutzten die Bürger ihre Töpfe, um ihrer Wut Ausdruck zu verleihen. Lasst es uns so machen wie sie.«

Seitdem gehen jeden Abend um 20.15 Uhr Tausende, manchmal Hunderttausende Montrealer mit Töpfen und Pfannen auf die Straße, um Provinzpremier Jean Charest zu zeigen, dass sie mit dem Krisenmanagement seiner Regierung nicht einverstanden sind. Für die Studenten heißt die Parole unterdessen weiter: »Jeden Abend demonstrieren – bis wir siegen.«

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 30. Mai 2012


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