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Harpers Geste für Kanadas Ureinwohner

Regierungschef entschuldigt sich für verfehlte Assimilationspolitik

Von John Dyer, Boston *

Jahrzehntelang sind Kinder von kanadischen Ureinwohnern ihren Eltern entrissen und in christliche Schulen gesteckt worden. Sie sollten damit ihrer Sprache und Kultur entfremdet werden. Nun hat sich Ministerpräsident Harper dafür entschuldigt.

Stephen Harper hat endlich getan, was Kanadas Ureinwohner seit langem fordern. »Die Behandlung von Kindern in Internatsschulen für Ureinwohner ist ein trauriges Kapitel unserer Geschichte«, erklärte der kanadische Ministerpräsident in dieser Woche vor dem Parlament in Ottawa. »Heute sehen wir, dass diese Politik der Assimilation falsch gewesen ist, viel Leid verursacht und keinen Platz in unserem Land hat.« Die Schulen hatten während eines Jahrhunderts existiert und waren erst in den 1970er Jahren geschlossen worden. Sie wurden von den Kirchen des Landes betrieben, darunter die Anglikanische und die Katholische Kirche.

Etwa 150 000 Kinder wurden in 130 Schulen gehalten. Von ihnen leben heute noch rund 90 000, bei insgesamt einer Million Ureinwohnern in ganz Kanada. Ziel dieser Schulen war es, die sogenannten Ersten Nationen des Landes zu assimilieren, ihre Sprachen, Traditionen und Kulturen auszurotten. Eine Bemerkung des Regierungsbeamten Duncan Campbell Scott fasst die Regierungspolitik vieler Jahrzehnte zusammen: »Ich will das Indianerproblem loswerden. Wir werden solange weitermachen, bis auch der letzte Indianer in Kanada sich in unsere Gesellschaft eingefügt hat.« Ministerpräsident Harper distanzierte sich jetzt von dieser Politik. »Wir erkennen an, dass die Trennung der Kinder von ihren Familien auch deren Fähigkeit untergraben hat, selbst Kinder großzuziehen. Damit wurde eine Saat des Unheils für Generationen gesät.« Dafür entschuldige sich die Regierung. Tatsächlich werden diese Schulen mitverantwortlich gemacht für den hohen Grad an Alkoholismus und häuslicher Gewalt sowie für die hohe Selbstmordrate unter den Ureinwohnern.

Oft hat man die Kinder in den Schulen misshandelt. So wurde der heute 53jährige Willie Blackwater als Zehnjähriger in die Schule von Port Alberni in der Provinz British Columbia eingeliefert. Dort wurde er Woche für Woche vergewaltigt. In den 1990er Jahren startete er deshalb eine Kampagne für Wiedergutmachung der Schäden, die in der Schule angerichtet worden waren. In der Folge wurde sein ehemaliger Lehrer für die Vergewaltigung von 30 Knaben zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. 2005 begann ein Verfahren vor dem Obersten Gericht des Landes. Die Richter hielten fest, dass die Regierung und die Kirchen für die Zustände an den Schulen aufkommen müssten.

Dieses Urteil löste eine Welle von Tausenden ähnlicher Klagen aus. Ein Jahr später einigten sich Regierung und Kirchen auf der einen Seite und ehemalige Schüler auf der andern auf einen Vergleich, der eine Zahlung von mehreren Milliarden Dollar Entschädigung vorsah. Blackwater begrüßte die nunmehrige Entschuldigung. »Sie wird große Gefühle auslösen. Einige werden glücklich sein. Andere werden traurig sein. Einige werden wütend sein.«

Der oberste Vertreter der kanadischen Ureinwohner, Phil Fontaine, verwies auf den Mut von Menschen wie Willie Blackwater. Diese hätten es gewagt, über ihr Leid zu sprechen und damit die Regierung zu ihrer Entschuldigung zu zwingen, sagte der Vorsitzende der Versammlung der Ersten Nationen. Fontaine sprach im Parlament unmittelbar nach Ministerpräsident Harper und mit vollem Haarschmuck – eine Premiere in der kanadischen Volksvertretung. »Die Erinnerungen an die Internatsschulen schneiden wie ein gnadenloses Messer in unsere Seelen. Dieser Tag wird uns helfen, diese Schmerzen hinter uns zu lassen.« Bereits im Februar hatte sich der australische Ministerpräsident Kevin Rudds in einer ähnlichen Erklärung bei der »Gestohlenen Generation« der australischen Ureinwohner entschuldigt. In Australien wurden zwischen 1910 und 1970 ebenfalls Tausende Kinder ihren Eltern entrissen, um die Sprachen und Kulturen der Ureinwohner auszurotten.

* Aus: Neues Deutschland, 14. Juni 2008


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