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Verquere Fronten

Vor 40 Jahren eroberten die Roten Khmer die Macht in Kambodscha. Die brutale Pol-Pot-Despotie (1975-79) verdankte sich nicht zuletzt der Politik der USA und wurde von verschiedenen Seiten protegiert

Von Rainer Werning *

Am 17. April 1975, zwei Wochen vor der desaströsen Niederlage der USA in Vietnam und dem Fall Saigons, marschierten im Nachbarland Kambodscha die in Schwarz und mit rotweißen Halstüchern gekleideten Truppen der Roten Khmer unter dem Jubel der Bevölkerung in die Hauptstadt Phnom Penh ein. Vorbei war die verhasste Militärherrschaft unter dem damaligen Premier- und Verteidigungsminister Lon Nol, der sich 1970 mit Hilfe der CIA an die Macht geputscht und den im Ausland weilenden Staatschef Prinz Norodom Sihanouk abgesetzt hatte. Die weltweit antiimperialistischen Kräfte feierten die Ereignisse in Kambodschas Hauptstadt und wenige Tage darauf in Saigon als das langersehnte Heraufziehen einer Morgenröte.

Im April 1975 begann in Kambodscha lediglich der zweite von drei Akten der Tragödie eines blutigen Jahrzehnts, deren erster Akt seinen Ausgang im Frühjahr 1970 mit dem Putsch Lon Nols und dem kurz darauf erfolgten Einmarsch US-amerikanischer Kampftruppen und verbündeter südvietnamesischer Verbände in das vormals neutrale Königreich Kambodscha nahm. Den letzten Akt bestritten nach knapp vierjähriger Herrschaft der Roten Khmer vietnamesische Truppenverbände, die im Januar 1979 – je nach Perspektive – als »Befreier« oder »Invasoren« in das Nachbarland einmarschierten und dessen Regime ein Ende bereiteten. Was heute als »humanitäre Intervention« bezeichnet würde, galt in der Zeit des Kalten Krieges als völkerrechtswidrige Aggression.

Das Kambodscha-Tribunal: Halbwahrheiten, selektive Erinnerung

Erst am 4. Oktober 2004, ein Vierteljahrhundert nach dem Untergang des Demokratischen Kampuchea, wie sich das Land während der Herrschaft Pol Pots nannte, und nach siebenjährigen zähen Verhandlungen auf nationaler sowie internationaler Ebene, billigte die Nationalversammlung in Phnom Penh die Einrichtung eines UN-Tribunals, vor dem sich Führungskader der Roten Khmer für die etwa 1,7 Millionen Opfer ihrer Gewaltherrschaft verantworten mussten.

Das Kambodscha-Tribunal, offiziell trägt es die sperrige Bezeichnung »Außerordentliche Kammern an den Gerichten Kambodschas für die Verfolgung von Verbrechen während der Periode des Demokratischen Kampuchea«, war aufgrund eines Abkommens zwischen den UN und der Regierung Kambodschas vom 6. Juni 2003 gebildet worden. Als sogenanntes Hybrid-Tribunal, da sowohl aus (mehrheitlich) einheimischen als auch ausländischen Juristen bestehend, nahmen dessen Richter erst im Jahre 2006 tatsächlich ihre Arbeit auf.

Im ersten von zwei Hauptprozessen stand mit Kaing Guek Eav alias Duch ein Mann vor Gericht, der zwischen 1975 und 1979 Kommandeur des berüchtigten Foltercamps S 21 (Securité 21) im ehemaligen Lyzeum Toul Sleng am Stadtrand Phnom Penhs war. Im Jahre 2009 angeklagt, wurde Duch schließlich wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Folter und Mord, nicht aber wegen Völkermord, zu lebenslanger Haft verurteilt. Er bereute zwar seine Taten, betonte aber, einzig auf höhere Anweisung und Befehle gehandelt zu haben.

Im zweiten Hauptprozess, der 2011 begann, saßen vier ehemalige Führungskader der Roten Khmer auf der Anklagebank, von denen letztlich nur zwei zu ebenfalls lebenslanger Haft verurteilt wurden: Nuon Chea war einst Pol Pots Stellvertreter und Propagandachef, Khieu Samphan diente als Staatschef des Demokratischen Kampuchea, während Ieng Sary als dessen Vizepremier und Außenminister sowie seine Frau Ieng Thirith als Sozialministerin fungiert hatten. Letztere wurde wegen Demenz für verhandlungsunfähig erklärt, während ihr Mann 2013 verstarb.

Anfang August 2014 befand das siebenköpfige Richtergremium auch Nuon Chea und Khieu Samphan für schuldig – »wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darunter Ausrottung einschließlich Mord, politische Verfolgung und inhumane Akte, darunter Zwangsvertreibung, Verschwindenlassen und Angriffe auf die menschliche Ehre«. Beide Angeklagten beteuerten bis zum Schluss ihre Unschuld und von Greueltaten nichts gewusst zu haben.

Von Verständigung, Aussöhnung und Aufarbeitung der Vergangenheit konnte in diesem langwierigen, gut 200 Millionen US-Dollar teuren Prozess nicht ernsthaft die Rede sein. Er kam zu spät und hatte von Anfang an eine schwere Schlagseite. Die kambodschanischen Machthaber nach 1979 setzten alles daran, ihre Rote-Khmer-Vergangenheit zu vertuschen. Und die Verstrickung involvierter ausländischer Mächte (China, USA, Britannien, Thailand) blieb gänzlich unberücksichtigt.

Rainer Werning



Dieses »Missverständnis« zeitigte absonderliche Allianzen: Vietnam wurde unter scharfem Protest seitens der Sowjetunion nach langjähriger Kriegführung nunmehr durch den »Westen« unter Federführung der USA mit harten Sanktionen und einem Embargo belegt – zur Strafe für die den USA beigebrachte schmachvolle Niederlage. Eine Politik, der sich die Nachbarländer Thailand und die Volksrepublik China anschlossen. Die seit dem 7. Januar 1979 nicht mehr herrschenden Roten Khmer wurden indes bis Anfang der 1990er Jahre als Mitglied einer Koalitionsregierung im Exil von den Vereinten Nationen hofiert. Die unter deren Ägide erfolgte »Aufarbeitung« der Vergangenheit (siehe Kasten) verkam größtenteils zu einer Farce. Woran auch und gerade mit Kambodschas langjährigem Premierminister Hun Sen und Parlamentspräsident Heng Samrin Personen mitschuldig sind, die einst unter den Roten Khmer Kommandoposten in den östlichen Grenzprovinzen zu Vietnam innehatten.

Schroffe Stadt-Land-Gegensätze

Kambodscha war eine bäuerlich-dörfliche Gesellschaft, in der Gemeineigentum und kommunale Produktion ausgeprägter waren als feudaler Großgrund- und individueller Landbesitz. Das Zentrum der Macht, der Stadtstaat und/oder die Stadt, galt seit jeher als Inbegriff tributärer Schröpfung und bot gleichzeitig Schutz gegenüber äußeren Feinden. Während der französischen Kolonialzeit (Ende des 19. Jahrhunderts bis 1953) waren in den Zitadellen städtischer Macht und Herrschaft auch vietnamesische Administratoren eingesetzt, während der Handel und das Gewerbe eine Domäne der Chinesen war. Im Verlauf der kambodschanischen Geschichte war für den überwiegenden Teil der Khmer-Bevölkerung die Stadt nicht nur der Ort, von dem aus ihre Ausbeutung organisiert wurde, sondern auch ein von in- und ausländischen Eliten geprägtes Sozialsystem. Nach dem Zweiten Weltkrieg zählte Phnom Penh 110.000 Einwohner, davon immerhin 33 Prozent Chinesen und 26 Prozent Vietnamesen.

Die Formierung der Roten Khmer als ernstzunehmende oppositionelle Kraft gelang erst gegen Ende der 1960er und im Sog der »Vietnamisierung des Indochinakrieges« Anfang der 1970er Jahre. Die Regierung unter Prinz Sihanouk hatte 1967 Bauernrevolten in Samlaut in der westlichen Provinz Battambang, traditionell die Reiskammer des Landes, blutig niederschlagen lassen, was weiteren Protest und Widerstand unter der Landbevölkerung gegen gewaltsame Landenteignungen und drastisch erhöhte Ernteabgaben nach sich zog. Die im Sommer 1969 verkündete Nixon-Doktrin (benannt nach dem damaligen US-Präsidenten Richard M. Nixon) ging angesichts wachsender Verluste US-amerikanischer Soldaten in Vietnam davon aus, verstärkt südvietnamesische Bodentruppen in den Krieg einzubinden.

»Vietnamisierung« und Invasion

»Asiaten gegen Asiaten kämpfen zu lassen«, lautete fortan das Motto in Washington. Demnach konzentrierten sich die USA auf den Einsatz ihrer Luftwaffe, während gleichzeitig der Kriegsschauplatz neben Vietnam auf Kambodscha ausgedehnt wurde. (Im Nachbarland Laos führten die USA bereits seit 1964 einen »geheimen Krieg«.) Sihanouk hatte sein Land bis 1970 durch geschicktes Taktieren aus dem Konflikt heraushalten können, verfügte innerhalb der Bewegung der Blockfreien Staaten über Reputation und genoss deren Rückendeckung.

Doch mit dem Machtantritt des willfährigen Lon Nol änderte sich schlagartig das Bild. Mit ihm verfügte Washington seit dem Frühahr 1970 über eine Marionette, die den Einmarsch kombinierter US-amerikanisch-südvietnamesischer Truppen in Kambodscha vorbehaltos begrüßte. Für Nixon und seinen damaligen Nationalen Sicherheitsberater (und späteren Außenminister), Henry A. Kissinger, waren Kambodscha und Laos keine souveränen Staaten, sondern »Zustände«, die es gemäß Washingtons Vorstellungen zu modellieren galt. Und das musste glücken, weil Nixon Kissinger laut einem damaligen Mitarbeiter im Weißen Haus in seiner ihm eigenen Derbheit zu verstehen gegeben hatte: »Wenn das nicht klappt, kostet es dich deinen Arsch, Henry«.

Die Ausweitung der Aggression gegen das neutrale Kambodscha und pausenlose B-52-Flächenbombardements zerstörten die bäuerlichen Strukturen, verschärften die Stadt-Land-Gegensätze und schufen die Grundlage für ein Bündnis, das Jahre zuvor schier undenkbar gewesen wäre. Auf einmal sahen sich Sihanouk-Royalisten in einer Allianz mit Kadern der kommunistischen Partei vereint, die Sihanouk bevorzugt als »Rote Khmer« bezeichnete. Gemeinsames Ziel dieses in Peking gegründeten Zweckbündnisses in Gestalt der Königlichen Regierung der Nationalen Einheit zur Befreiung Kambodschas (GRUNK) waren die Wiederherstellung der Souveränität des Landes und ein Ende des Lon-Nol-Regimes.

Wie der Dokumentarfilmer und aufgrund seiner investigativen Recherchen mehrfach ausgezeichnete australische Journalist John Pilger in der englischen Tageszeitung The Guardian (21.2.2009) schrieb, wurden unter Lon Nol und aufgrund anhaltender US-Luftangriffe auf das Land mehr als 600.000 Kambodschaner getötet und zwei Millionen zu Flüchtlingen. Allein 1973, so Pilger, wurden über Kambodscha mehr Bomben abgeworfen als über Japan während des Zweiten Weltkriegs. Vor diesem »epischen Verbrechen«, so Pilger in einem späteren Interview mit der Phnom Penh Post (27.9.2014), seien die Roten Khmer lediglich eine kleine maoistische Truppe ohne jedwede tiefgehende Verankerung in der Bevölkerung gewesen. Erst die Flächenbombardements der US-Luftwaffe und die Politik der verhassten Lon-Nol-Clique schufen den Nährboden für eine fortan exponentiell wachsende Bewegung. Deren Führungsspitze hatte mit Saloth Sar alias Pol Pot ein Mann erklommen, der wie zahlreiche seiner engsten Weggefährten und späteren Mitstreiter längere Zeit (von 1949 bis 1952) aufgrund eines Stipendiums in Frankreich verbracht hatte.

Die vormals schläfrige Hauptstadt Phnom Penh war während der systematischen US-amerikanischen Flächenbombardements zu einem etwa zwei Millionen Flüchtlinge zählenden Moloch angeschwollen (bei einer damaligen Gesamtbevölkerung von etwa 7,5 Millionen Einwohnern), der in der Endphase des Krieges nur dank einer von der US-Armee aufrechterhaltenen Luftbrücke mit Nahrungsmitteln versorgt wurde. Die Masse der dorthin Geflohenen waren Bauern, die panikartig ihre Dörfer und Äcker verlassen hatten, um den tödlichen Bomben- und Napalmeinsätzen zu entkommen. Sie wollten schnellstmöglich in ihre Heimat zurückzukehren.

Gespanntes Verhältnis

Sihanouks Sympathie für die VR China (und auch für Nordkorea) resultierte einerseits aus der Politik Washingtons, das die Souveränität seines Landes missachtete. Zum anderen wurde auch die UdSSR zum Widersacher, da dessen KPdSU-Chef Leonid Breschnew die Doktrin der »begrenzten Souveränität« verfocht und zum engen Verbündeten Vietnams avancierte. Aber gegenüber Vietnam bestand seit langem ein Misstrauen, weil es bereits seit dem 17. Jahrhundert Teile Kambodschas (Kampuchea Krom, die »Niederlande« Kambodschas im heute südvietnamesischen Mekong-Delta) annektiert hatte und der Grenzverlauf zwischen beiden Ländern strittig blieb.

Überhaupt war das Verhältnis zwischen Kambodscha und dem großen Nachbarn Vietnam viel angespannter und konfliktträchtiger, als es die damalige internationale »Indochina«-Solidaritätsbewegung wahrhaben wollte. (Indochina war ein französisches Kolonialkonstrukt: 1887 hatte Frankreich seine drei Protektorate in Vietnam – Cochinchina im Süden, Annam im zentralen und Tongking im nördlichen Landesteil – zusammen mit Kambodscha und Laos zu einer willkürlichen, freilich seinen Interessen dienenden Verwaltungseinheit, zur Union Indochina, gemacht.) Die nach außen hin unterstellte Einheit und Brüderlichkeit zwischen Kambodscha, Vietnam und Laos war stets ein hierarchisches Beziehungsgeflecht mit Vietnam als Führungsmacht, der sich Laos beugte, Kambodscha hingegen immer wieder widersetzte.

»Altvolk« gegen »Neuvolk«

Wesentlich aus eigener Kraft war es dem Bündnis von Sihanouk-Loyalisten und Roten Khmer gelungen, Lon Nol zu stürzen. Doch welch ein Sieg angesichts der vor allem in Phnom Penh existierenden Probleme, mit denen die Regierung der nationalen Einheit jäh konfrontiert wurde. Mit dem Sieg nämlich endete von einem auf den anderen Tag die logistische Versorgung der Stadt aus der Luft, so dass sich nur die Alternative stellte, die Stadtbevölkerung zu evakuieren oder ein Massensterben in Folge von Hunger und Krankheiten in Kauf zu nehmen. Beide Optionen schlossen zwangsläufig Tod und Entbehrungen gigantischen Ausmaßes ein, weil schlicht die Mittel fehlten, um Elend und Not zu lindern. In dieser Situation ordneten die Roten Khmer die zwangsweise Evakuierung Phnom Penhs an, was zu chaotischen Verhältnissen führte und bereits Tausende das Leben kostete – gestorben an Malaria und Erschöpfung. Auf Trümmerhaufen ließ sich nicht handstreichartig Normalität herstellen.

Das politische Vertrauen, über das die neuen Machthaber verfügten, wurde durch die martialische Zweiteilung der Gesellschaft in ein sogenanntes Altvolk und Neuvolk verspielt. Unter »Altvolk« verstanden die Roten Khmer die bäuerliche Bevölkerung als soziale Hauptstütze ihrer Herrschaft und gleichzeitig als Kern ihres nach chinesischem Vorbild angestrebten Agrarkommunismus. In die Kategorie »Neuvolk« wurde in denunziatorischer und stigmatisierender Absicht hingegen die Stadtbevölkerung gezwängt, die sich dem rigorosen politischen Konzept der neuen Herrscher unterordnen musste. Die städtischen Schichten, darunter Hunderttausende Industriearbeiter, wurden in Kommunen reorganisiert und zur Feldarbeit gezwungen. Im Klima eines derartigen Voluntarismus waren zusätzliche scharfe soziale Konflikte programmiert. Da brachen die traditionellen Stadt-Land-Gegensätze erneut offen aus, und alte Rechnungen wurden in Form unkontrollierter Racheakte und staatlich gelenkter »Säuberungen« beglichen. Durch das Chaos einer brutal umgesetzten Kollektivierung der Landwirtschaft kamen etwa 1,7 Millionen Menschen vor allem durch Hunger und Krankheiten um. Die Konsequenzen dieser Politik und provozierte Grenzstreitigkeiten mit Vietnam gehen zweifellos auf das Konto der Roten Khmer, deren auf Autarkie bedachtes Gesellschaftsmodell sich von dem Hanois unterschied und im Ost-West-Konflikt zur Parteinahme für und Unterstützung durch die VR China führte.

Ausländische Interessen

China und das Königreich Thailand (und nicht nur sie) protegierten aus jeweiligem Eigeninteresse die Roten Khmer und das von ihnen repräsentierte »Demokratische Kampuchea«. Peking ging es darum, seinen ideologischen Kurs gegen die Sowjetunion fortzusetzen und deren Verbündeten Vietnam in Schach zu halten. Bangkok war darauf erpicht, im Gegenzug für unbehelligte Grenzüberschreitungen und logistische Unterstützung der Roten Khmer mit dem Verkauf kambodschanischer Edelhölzer und Edelsteine lukrative Geschäfte zu machen. Noch bis 1991 belieferte China das Pol-Pot-Regime mit Waffen, während die Vereinten Nationen und die USA das »Demokratische Kampuchea« auch zwölf Jahre nach dessen Untergang politisch-diplomatisch anerkannten und ihm den UN-Sitz in New York reservierten.

Bereits zwei Jahre nach ihrem Sieg (1977) waren die Roten Khmer in tödliche Grenzstreitigkeiten mit Vietnam verstrickt – ein Vermächtnis der Geschichte. Geschürt wurde dieser Konflikt, um damit von internen Problemen abzulenken und den latenten Hass gegen das als hegemonial empfundene Vietnam zu instrumentalisieren. Provokation und Paranoia begleiteten ungeheuerliche Propagandatiraden, die Befürworter des einst antiimperialistischen Befreiungskampfes kalt erschaudern ließ. Während Radio Hanoi in jener Zeit wiederholt kambodschanische Soldaten und die Bevölkerung offen zum Sturz des Pol-Pot-Regimes aufrief, seine Regierung als »reaktionär«, seine Politik als »brutale und infantile bäuerliche Gleichmacherei« und seine Führung als »Söldner der chinesischen Machthaber« anprangerte, rief Pol Pot zum Mord an Vietnamesen auf: »Jeder von uns muss 30 Vietnamesen töten. Bisher haben wir es geschafft. Wir brauchen nur zwei Millionen Soldaten, um 60 Millionen Vietnamesen umzubringen.«

»Bruder Nummer eins«

Wer war dieser Pol Pot? Nach eigenen Angaben im Januar 1925 in der Provinz Kompong Thom (nordöstlich von Phnom Penh gelegen) als Saloth Sar geboren, gelang es dem Jungen, nach dem Besuch der Mittelschule in der Hauptstadt Phnom Penh ein Auslandsstipendium für ein Studium in Frankreich zu bekommen, wo er sich zeitweilig in Elektrotechnik einschrieb. In Paris war es auch, wo Saloth Sar durch intensives Selbststudium und Kontakte zu linken Studentenzirkeln die erste Phase seiner Politisierung durchlebte. Dort bildete er mit den gleichgesinnten Kommilitonen Khieu Samphan, Ta Mok, Nuon Chea und Ieng Sary jenes geheime Parteizentrum, die Angkar Pakdevoath (kurz: Angkar), die Revolutionäre Organisation, die später zum Kern des terroristischen Machtapparats der Roten Khmer wurde.

1960 rückte der sich mittlerweile Pol Pot nennende Saloth Sar in die Führungsriege der zuvor unter verschiedenen Namen operierenden, klandestinen Kambodschanischen Kommunistischen Partei (KKP) auf und avancierte, nachdem deren Führungskader Tou Samouth unter nicht eindeutig geklärten Umständen von der Bildfläche verschwand (entweder infolge einer parteiinternen Säuberung oder als Opfer des späteren Staatschefs Lon Nol), zum Sekretär der KKP. Bis Mitte der 1960er Jahre blieb die KKP beziehungsweise die sich auch als Khmer-Rouge-Guerilla bezeichnende Organisation eine innenpolitisch zu vernachlässigende Größe.

Während der Herrschaft der Roten Khmer und des von ihnen so genannten Demokratischen Kampuchea (17. April 1975 bis zum 7. Januar 1979, als vietnamesische Eliteeinheiten in Phnom Penh einmarschierten) bekleideten Pol Pot und seine einstigen Kommilitonen in Paris allesamt staatliche Spitzenämter und waren teilweise miteinander verwandt. In der Hierarchie rangierte Pol Pot als Generalsekretär und Vorsitzender des Zentralkomitees der Partei, Premierminister und Oberkommandierender der Streitkräfte unangefochten als »Bruder Nummer eins«. Nuon Chea war der Chefideologe der Partei und »Bruder Nummer zwei«. Ihm folgte als »Bruder Nummer drei« Ieng Sary, ein Schwager Pol Pots und sein Außenminister, der nach dem Sturz der Roten Khmer lange Zeit unbehelligt als Geschäftsmann in Pailin im kambodschanisch-thailändischen Grenzgebiet lebte. Ta Mok avancierte zum Generalstabschef, während der an der Pariser Sorbonne promovierte Ökonom Khieu Samphan, der die Blaupause für das Gesellschaftssystem der Roten Khmer mit einer Arbeit über autozentrierte Wirtschaftsstrategie entworfen hatte, Staatspräsident wurde.

Als am 18. Juni 1997 Radio Demokratisches Kambodscha, der Sender der Roten Khmer, in einer Sondermeldung bekannt gab, Pol Pot habe sich am selben Tag ergeben und dadurch sei »die dunkle Wolke (seines) diktatorischen Regimes verschwunden«, war das Schicksal der Roten Khmer besiegelt. Ausgerechnet Pol Pots Generalstabschef Ta Mok führte nunmehr, wenngleich nur für kurze Zeit, das Kommando. Der in Anlong Veng, im letzten Hauptquartier der Roten Khmer im Norden Kambodschas, inszenierte Schauprozess gegen den obersten »Bruder« warf mehr Fragen auf, als er beantwortete. Nach außen hin sollte eine Selbstreinigung zelebriert, die Geschichte entsorgt, ein politischer Neubeginn mit einer geläuterten Bewegung signalisiert und der zwischenzeitlich unter Arrest gestellte Pol Pot ans Ausland ausgeliefert werden. Dazu aber kam es nicht mehr. Saloth Sar alias Pol Pot starb im April 1998 und sein Leichnam wurde sofort eingeäschert.

* Aus: junge Welt, Freitag, 17. April 2015


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