Der Wahrheit ins Auge sehen
Ein Selbsthilfeprojekt in Kambodscha und die Schatten der Vergangenheit
Von Ilona Schleicher *
Schwer fällt es den Kambodschanern, die traumatischen Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit
ihres Landes zu verarbeiten...
Der Morgentrubel Phnom Penhs liegt hinter uns. Beiderseits der Straße Nr. 2 gen Süden breiten sich
Reisfelder aus – Einstimmung auf den Besuch bei Bauernfamilien in der Provinz Kampot. Hier
betreiben der Solidaritätsdienst-international (SODI) und die Kambodschanischen Frauen für
Frieden und Entwicklung (CWPD) ein Selbsthilfeprojekt. Etwa 15 Kilometer vor den Toren Phnom
Penhs macht Sotheary, CWPD-Projektkoordinatorin, auf eine staubige Piste aufmerksam. Sie führt
nach Choeung Ek, dem bekanntesten der berüchtigten »Killing Fields« des Pol-Pot-Regimes (1975-
79).
Dort gedenken alljährlich im Mai viele Menschen der Opfer jener Zeit. Vietnamesische Soldaten
hatten die Massengräber von Choeung Ek entdeckt. Ein 1988 errichtetes Memorial mit den
aufgeschichteten Schädeln Ermordeter soll an die Leiden des kambodschanischen Volkes in der
dunkelsten Zeit seiner Geschichte erinnern. Im Unterschied zur Kambodschanischen Volkspartei
von Premier Hun Sen, die nach der Vertreibung Pol Pots durch die vietnamesische Armee die
Geschicke des Landes maßgeblich bestimmte, blieben die anderen Parlamentsparteien den
Gedenkfeiern in Choeung Ek bislang fern. Für sie ist das Memorial vor allem ein Zeichen der
vietnamesischen Besatzung bis 1990.
Die Symbole verschiedener Parteien säumen jede Ortsdurchfahrt. Die der Volkspartei sind klar in
der Überzahl, aber auch die einst von Prinz Norodom Ranariddh gegründete royalistische
FUNCINPEC ist stark präsent. Selbst die Partei des von der westlichen Presse hoch gelobten
Korruptionsbekämpfers Sam Rainsy ist hier – unweit seiner Hochburg Phnom Penh – nicht zu
übersehen. Zu einem neuerlichen Kräftemessen der Politiker wird es bei den Wahlen im Juli
kommen.
Noch aber beherrscht nicht der Wahlkampf die Schlagzeilen, sondern das Kambodscha-Tribunal,
das im vergangenen Jahr seine Arbeit aufgenommen hat. Die Mehrzahl seiner 27 Richter sind
Kambodschaner. Ihnen stehen zehn ausländische Richter zur Seite. Neben Kang Kek Ieu »Duch«,
dem Chef des berüchtigten Folterzentrums Tuol Sleng in Phnom Penh, werden sich vier weitere
hohe Funktionäre des Pol-Pot-Regimes zu verantworten haben: das ehemalige Staatsoberhaupt
Khieu Samphan, Chefideologe Nuon Chea, Vizepremier Ieng Sary und seine Frau Ieng Thirith. Pol
Pot selbst verstarb bereits 1998.
Im Autoradio laufen Nachrichten. Fassungslos reagieren meine Begleiterinnen auf Khieu Samphans
neuerliche Behauptung, er habe von den Verbrechen nichts gewusst. Alle diese Frauen sind durch
die Hölle des Schreckensregimes gegangen. Dennoch fallen ihre Meinungen über das Tribunal
unterschiedlich aus. Sie schwanken zwischen Skepsis, was den Sinn von Gerichtsprozessen drei
Jahrzehnte nach der Befreiung angeht, und der Erwartung, dass wenigstens die Hauptschuldigen
endlich bestraft werden. Gemeinsam ist allen die Sorge, dass das Aufreißen alter Wunden wieder zu
Gewalt und Unsicherheit führen könnte. Unser Fahrer Ken aber erregt sich: »Wie sollen die Khmer
lernen, was gut und was böse, was Recht und was Unrecht ist, wenn sie nicht die ganze Wahrheit
über diese Zeit erfahren?«
Die Landschaft verändert sich. Vor den Horizont, der die mit Zuckerpalmen verzierte Ebene aus
Reisfeldern und Obstplantagen begrenzt, schieben sich Berge. Die bewaldeten Ausläufer des
Elefantengebirges erstrecken sich weit in die Provinz Kampot hinein. Nach dem Ende der Herrschaft
Pol Pots waren die Berge noch lange Rückzugsgebiet seiner Banden. Von dort aus verbreiteten sie
bis in die 90er Jahre Angst und Schrecken.
Schließlich erreichen wir die Gemeinde Tani. Hier und in der Nachbargemeinde betreiben SODI und
CWPD ihr vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gefördertes
Projekt. Durch den Bau von 100 Brunnen sollen Bauernfamilien Zugang zu sauberem Wasser
erhalten. Hygienekurse werden veranstaltet und Mustertoiletten gebaut. Die Errichtung einer
Grundschule auf dem Gelände einer Pagode komplettiert das Vorhaben.
Smoen, Vorsitzender des Gemeinderats von Tani, empfängt uns. Nach dem Sturz Pol Pots wurde er
von der Obrigkeit eingesetzt, seither wurde er immer wiedergewählt. Offenbar vertrauen ihm die
Bewohner. Die Ratsmitglieder gehören verschiedenen Parteien an. Sie haben gelernt, in
kommunalen Angelegenheiten zusammenzuarbeiten. Aber die Vergangenheit ist tabu. Smoen war
früher Soldat, die Mutter im Arbeitslager, der Vater kam ums Leben. Mehr mag auch er nicht
erzählen.
Er führt uns zur Familie des Bauern Chuon, die bald einen Brunnen haben wird. Die Bohrung war
erfolgreich, jetzt müssen die Handschwengelpumpe installiert und die Brunnenplattform hergerichtet
werden. Chuon und seine Nachbarn, die den Brunnen ebenfalls nutzen werden, wollen dabei mit
anpacken.
Für Nachbarin Kheng Em ist Wasser vor der Haustür besonders wichtig, denn sie kann sich nur mit
Gehhilfen fortbewegen. 1990 wurde sie Opfer eines Überfalls von Pol-Pot-Banden auf die nahe
Eisenbahnlinie und verlor ein Bein. Kheng Em macht uns auf zwei Frauen aufmerksam, die auf der
staubigen Dorfstraße barfuß, unter Aufbietung aller Kräfte einen Wagen mit einem Fass bewegen.
»Jeden Tag«, erzählt sie, »müssen diese Frauen fünf Kilometer nach Wasser laufen, um ihre
Familien und das Vieh zu versorgen.«
Das Kampot-Projekt scheint zu gelingen. Zufrieden fahren wir zurück nach Phnom Penh. Aber die
Diskussion um das Tribunal und den Umgang mit der Vergangenheit Kambodschas lässt uns nicht
los. Spontan entscheiden wir uns, die Gedenkstätte Choeung Ek aufzusuchen – ein Ort
unbeschreiblichen Grauens. Hierher wurden die Gefangenen aus dem Folterzentrum Tuol Sleng wie
zu einer Schlachtbank geführt: 20 000 Menschen wurden erschlagen.
Wir sehen viele ausländische, doch kaum kambodschanische Besucher. Auch Sothim und
Channarith, Praktikanten der CWPD, sind zum ersten Mal an diesem Ort. Sie haben in den 90er
Jahren die Schule besucht und über das Pol-Pot-Regime wenig erfahren. Warum auch, meinen die
jungen Männer, sollte die Jugend, die damit nichts zu tun hatte, verunsichert werden? Die CWPD-Frauen
sehen einander betroffen an. Erkennen sie eigene Versäumnisse? Sotheary fasst sich
zuerst. Sie erzählt den beiden, wie ihre Eltern ermordet wurden. Ihre Kollegin Chay Son spricht über
das Leben im Zwangslager, von den 21 Angehörigen, die zu Tode kamen. Und davon, dass sich so
etwas nie wiederholen darf. Die Distanz in den Gesichtern Sothims und Channariths weicht
Mitgefühl und Nachdenklichkeit.
SODI-Spendenkonto: 10 20 100, Bank für Sozialwirtschaft, BLZ 100 205 00;
Kennwort: »Brunnen Kambodscha«
* Neues Deutschland, 15. Mai 2008
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