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Der Schatten von Pol Pot

Kambodscha: Wahlen in einem zerstörten Land

Im Folgenden dokumentieren wir angesichts der bevorstehenden Wahlen in Kambodscha einen Artikel, den wir einer Wochenzeitung entnommen haben.


Von Winfried Roth, Phnom Penh

(...)
Phnom Penhs Strassen stehen unter Wasser. Es ist Regenzeit. Die Reichen des Landes, die sich ein Auto leisten können, kümmert das wenig. Die anderen waten im Morast einer braungelben Suppe, die vor allem Müll mit sich führt. Sie könne ein Kanalsystem nicht bezahlen, behauptet die Regierung, und so schwappt das Wasser mehrmals im Jahr bis zu einem Meter hoch durch die Strassen der kambodschanischen Hauptstadt. Die Folgen einer kleineren Flutkatastrophe im Jahre 2000 sind bis heute kaum behoben. Immer wieder kommt es zu Engpässen in der Versorgung der Bevölkerung. Die Analphabetenquote liegt bei vierzig Prozent. «Wenn ich über Politik nachdenke, bekomme ich Kopfweh. Die Lebensbedingungen haben sich nicht gebessert», sagt ein Bewohner einer der notorisch überfluteten Stadtbezirke.

Die Verantwortlichen will freilich niemand benennen. «Glauben Sie, wir haben Meinungsfreiheit hier in Kambodscha?», fragt ein Student in einem Strassenrestaurant. Politische Diskussionen werden nur im privaten Raum geführt, Parteinamen werden besser nicht erwähnt – es könnte ja jemand mithören. Noch immer geht die Angst um in dem Land, dessen Gesellschaft wohl wie keine andere in Indochina unter den Kriegen in den siebziger und achtziger Jahren gelitten hat. Als im letzten Monat Arbeiterinnen und Beamte gegen die miserablen Arbeitsbedingungen und für höhere Löhne protestierten, starben bei den Auseinandersetzungen mehrere Menschen. Daraufhin diskutierten StudentInnen der Royal University of Phnom Penh kurz über den Arbeitskampf – ihre Beiträge sind symptomatisch für die Stimmung im Land. «Demonstrieren bedeutet doch Krieg», sagte eine Studentin, «das darf man doch nicht, oder?» In Kambodscha ist man es gewohnt, still zu halten, Konflikte zu verschweigen. Niemand will es sich mit den Machthabern verscherzen. Zu weit reichen die Verbindungen der amtierenden Regierungspartei, die am 27. Juli wieder gewählt werden will.

Die Bedingungen im Land sind keine gute Werbung für die regierende kambodschanische Volkspartei CPP, doch die Nachfolgepartei der Roten Khmer unter Vorsitz von Premierminister Samdech Hun Sen dominiert und beherrscht die Politik und Wirtschaft Kambodschas. Samdech Hun Sen war einst ein Gefolgsmann von Pol Pot gewesen, verlor bei dessen Schlacht um Phnom Penh ein Auge, wechselte dann aber die Seite und marschierte 1979 mit der vietnamesischen Armee in Phnom Penh ein, um das Terrorregime der Roten Khmer zu beenden, das nach neuen Berechnungen rund zwei Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Er und die CPP lassen sich heute noch als Befreier feiern. Vergessen ist, dass Samdech Hun Sen wie viele andere Amtsinhaber (Aussenminister Hor Namhong, Senatspräsident Chea Sim) jahrelang am Massenmord beteiligt war; Finanzminister Keat Chon wandte sich sogar erst 1981 von Pol Pot ab.

Wer hat kollaboriert?

Trotz dieser Vergangenheit hat die CPP wenig zu befürchten. Weil sie die Geldhähne kontrolliert, kann sie Stimmen kaufen. Korruption ist weit verbreitet. «Was tun, wenn der Lohn nicht zum Leben reicht?», fragt ein Lehrer, der wie alle namentlich nicht genannt sein will. Ausserdem kontrolliert die Regierungspartei die Medien. Nur ein kleiner Teil der Fernseh- und Radiostationen gilt als unabhängig, berichtet wird nur, was der Partei nützt. Kein Unternehmer in Kambodscha riskiert Werbeschaltungen in CPP-kritischen Medien. «Wenn ich Sendungen über die Opposition bringe, brauche ich einen Bodyguard», sagt ein TV-Manager. Noch drastischer formuliert es der Präsident einer unabhängigen Jugendorganisation in Phnom Penh: «Wir haben keine Kultur des Redens. Zuerst schiessen wir, dann wird geredet.» In den vergangenen sechs Monaten wurden 27 Menschen ermordet – Mitglieder politischer Organisationen, Richter, Kommunalpolitiker. Für die Regierung fielen sie kriminellen Taten zum Opfer. Für die anderen Parteien waren es politische Morde. Prominentestes Opfer war ein politischer Berater der Königspartei Funcipec, die vom Königssohn Norodom Ranarridh angeführt wird und mit der CPP in der Regierung sitzt. Der Mann wurde in Phnom Penh auf offener Strasse niedergeschossen.

Die Funcipec gilt als eine der Hauptkonkurrentinnen der CPP. Die Königspartei war in den Jahren des Bürgerkriegs gegen die CPP (1979–1991) wichtigste Verbündete der Roten Khmer gewesen. In dieser Zeit wurden Pol Pot und die Royalisten vor allem von den USA und Britannien, aber auch von den Vereinten Nationen unterstützt, welche die Uno-Vertretung der Roten Khmer noch bis ins Jahr 1989 anerkannten, obwohl die Ausmasse des Genozids längst bekannt waren. Über zwölf Jahre dauerte es, bis sich die Bürgerkriegsparteien CPP, Funcipec und die Roten Khmer auf einen Friedensvertrag einigten; unter Obhut der Uno kam es 1993 schliesslich zu ersten Wahlen. Funcipec gewann – vor allem dank der Popularität des Königs Norodom Sihanouk, der das Land 1953 in die Unabhängigkeit geführt hatte. Die CPP blieb zwar an der Regierung, war aber nur noch zweitstärkste Kraft und wollte den Verlust ihrer Macht nicht hinnehmen. In den folgenden Jahren versuchten beide Seiten, die verbliebenen Streitkräfte der Roten Khmer unter Pol Pot auf ihre Seite zu ziehen. Eine bewaffnete Auseinandersetzung im Jahre 1997 entschied den Machtkampf: Die Königspartei unterlag, die CPP gewann die Parlamentswahl von 1998. Obwohl die CPP nun ihrerseits eine Koalition mit Funcipec einging, wurde ihr immer wieder und besonders jetzt im Wahlkampf vorgeworfen, mit den Massenmördern der Roten Khmer kollaboriert zu haben.

In einer Woche tot

Bleibt noch die grösste Oppositionspartei im Land: die Partei von Sam Rainsy, ehemals Finanzminister von Funcipec, der nach seiner Absetzung 1994 seine eigene Organisation gründete, die Sam-Rainsy-Partei (SRP). Für die SRP war der Sturz des Pol-Pot-Regimes 1979 durch die vietnamesische Intervention keine Befreiung, sondern der Beginn einer Besetzung – und entsprechend nationalistisch gibt sich die Partei. Sie hat bei der letzten Wahl in Bezirken, die weiterhin von den Roten Khmer kontrolliert werden, Zuwachs erfahren. Die Fremdenfeindlichkeit (vor allem gegenüber VietnamesInnen, Thais und ChinesInnen) beschränkt sich freilich nicht auf die SRP.

Auch die CPP schürt einen Nationalismus, der immer wieder zu Übergriffen führt – und auch sie erfährt Unterstützung in den Hochburgen der Roten Khmer. Dort weiss man zwar, dass nach jahrelangen Verhandlungen ein Tribunal zur Ahndung der Verbrechen der Roten Khmer eingesetzt werden soll (so hat es die Regierung im Mai verkündet), dass aber nur wenige hochrangige Vertreter betroffen sein werden. Und die leben bis heute in Freiheit. Nuon Chea, Chefideologe der Roten Khmer und Pol Pots rechte Hand, konnte sich bei seinem letzten Aufenthalt in Phnom Penh vor wenigen Monaten frei bewegen, Pol Pots erste Ehefrau bekam vorletzte Woche sogar ein Staatsbegräbnis.

Zurück in die Strassen von Phnom Penh. Der offizielle Wahlkampf hat begonnen. In den ersten fünf Tagen sind neun Menschen ermordet worden. Die Wahlen sind noch zehn Tage entfernt. Eine lähmende Angst liegt über der Stadt; AusländerInnen verlassen vorsichtshalber das Land. Wer bleibt, erhält von den Fahrern der Mototaxis auf ihren Mopeds – dem Hauptverkehrsmittel in Phnom Penh – die simple Warnung: «In einer Woche bist du tot.» Also geht, wer sich das leisten kann. Die meisten können es nicht. Das Land riecht immer noch nach Friedhof.



Im Hintergrund die USA
  • 1970–1975: Der autoritär regierende König Norodom Sihanouk wird gestürzt. An seine Stelle tritt mit Unterstützung der USA General Lon Nol. Die USA ziehen Kambodscha immer stärker in ihren Krieg gegen Vietnam. US-Präsident Richard Nixon und Aussenminister Henry Kissinger lassen das Land bombardieren, weil dort einige Nachschubwege des Vietcong verlaufen. Das Lon-Nol-Regime hat wenig Rückhalt in der kambodschanischen Bevölkerung.
  • 1975: Die Roten Khmer unter Pol Pot ergreifen mit Unterstützung der Volksrepublik China die Macht in Phnom Penh. Ihr Konzept eines Agrarkommunismus kostet zwischen 1975 und 1979 mehr als zwei Millionen Menschen das Leben.
  • 1979: Das Regime der Roten Khmer wird durch eine Invasion vietnamesischer Truppen gestürzt. Die Uno verurteilt die Intervention als völkerrechtswidrig. Obwohl ihr Massenmord bekannt ist, dürfen die Roten Khmer für weitere zehn Jahre das Land in der Uno vertreten; die USA und Britannien liefern Pol Pot Waffen.
  • 1991: Friedensverhandlungen in Paris beenden den Bürgerkrieg zwischen den abtrünnigen Roten Khmer, die mit Vietnam die Macht übernahmen (die CPP), den Royalisten und Pol Pot. Eine grosse Uno-Mission (mehr als 20 000 Militärs und Zivilpersonen) kontrolliert Waffenstillstand, Demobilisierung und die Abhaltung von Wahlen.
  • 1993: Die Königspartei Funcipec gewinnt die Wahl und bildet mit der CPP eine Koalitionsregierung. Der Machtkampf der beiden Regierungsparteien führt 1997 zu einem kurzen Wiederaufflammen des Bürgerkriegs. Die Oppositionspartei von Sam Rainsy gewinnt an Bedeutung.
  • 1998: Die CPP gewinnt die zweite Wahl; diesmal wird Funcipec Juniorpartnerin in der Koalitionsregierung. Pol Pot stirbt.
  • 2003: Dritte Wahl am 27. Juli.


Erscheinungsdatum: 17. Juli 2003


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