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Streit am Kambodscha-Tribunal

Nur Tage vor dem Hauptprozess spitzt sich eine alte Kontroverse um Fall 003 zu

Von Detlef D. Pries *

Am Kambodscha-Tribunal, das über Hauptverantwortliche des mörderischen Pol-Pot-Regimes (1975-79) richtet, steht der zweite Prozess unmittelbar bevor. Am 27. Juni soll der wichtigste, zweifellos aber auch der schwierigste Prozess beginnen. Indessen scheint sich das Tribunal im Streit um »Fall 003« aufzureiben.

Den Richtern in Kambol, vor den Toren der Hauptstadt Phnom Penh gelegen, sollen in elf Tagen die letzten überlebenden Mitglieder des engsten Führungszirkels um Pol Pot vorgeführt werden, dessen Herrschaft zwischen 1975 und 1979 rund zwei Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Angeklagt sind Pol Pots Stellvertreter Nuon Chea, das nominelle Staatsoberhaupt des »Demokratischen Kampuchea«, Khieu Samphan, Außenminister Ieng Sary und dessen Frau, Sozialministerin Ieng Thirith. Pol Pot selbst war 1998 verstorben.

Im Fall 001 hatte das Gericht vor einem Jahr den Chef des berüchtigten Folter- und Vernichtungsgefängnisses S-21 (Tuol Sleng), Kaing Guek Eav alias Duch, zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. Anders als Duch bestreiten die Angeklagten im Fall 002 jede Verantwortung für die Verbrechen, die ihnen zur Last gelegt werden – darunter Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Das hohe Alter der Beschuldigten – zwischen 79 und 85 Jahren – und ihr Gesundheitszustand wird die fünf Richter vor zusätzliche Herausforderungen stellen. Ein übers andere Mal haben die Verteidiger das Tribunal bereits mit Haft- und Prozessverschonungsanträgen beschäftigt.

Doch derzeit scheinen sich die Beobachter des Geschehens in Kambol nicht für den bevorstehenden Prozess zu interessieren. Wo von »dicker Luft«, »vergifteter Atmosphäre« und »Selbstzerfleischung« des Tribunals die Rede ist, geht es um Fall 003.

2009 hatte der damalige internationale Ko-Ankläger, der Kanadier Robert Petit, die Einleitung von Ermittlungen gegen fünf weitere Vertreter des Pol-Pot-Regimes gefordert. Petits kambodschanische Kollegin Chea Lang widersprach: Die fünf namentlich nicht genannten Verdächtigen seien weder »oberste Führer« (senior leaders) des »Demokratischen Kampuchea« noch »hauptverantwortlich« für besonders schwere Verbrechen gewesen. Nur solche aber dürfen laut Statut vor dem Tribunal angeklagt werden. Chea Lang begründete juristisch, was dem politischen Willen der kambodschanischen Regierung entsprach: Ministerpräsident Hun Sen möchte, dass das Tribunal seine Arbeit nach dem zweiten Verfahren beendet. Weitere Prozesse – erklärt er – gefährdeten die Stabilität des Landes, das seinen Frieden nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg erst Ende der 90er Jahre fand, als die letzten Pol-Pot-Anhänger die Waffen niederlegten und sich für ein Amnestieversprechen der Regierung unterstellten. Heute wird Kambodschas Grenze zu Thailand, an der es immer wieder zu Scharmützeln kommt, beispielsweise von ehemaligen Pol-Pot-Soldaten verteidigt. Verurteilt man deren frühere Vorgesetzte, sei neuer Aufruhr zu befürchten, heißt es.

Doch konnte die kambodschanische Seite die Einleitung der Ermittlungen nicht verhindern. Das Verfahren wurde in die Fälle 003 und 004 aufgeteilt. Mehr soll es auch nach dem Willen der Anklage nicht geben.

Ende April dieses Jahres erklärten die beiden Untersuchungsrichter – der Kambodschaner You Bunleng und der Deutsche Siegfried Blunk – die Ermittlungen im Fall 003 für abgeschlossen. Gegen wen sie sich richteten, blieb offiziell unbekannt. Für Zeitungen wie die »Phnom Penh Post« waren die Namen indes kein Geheimnis mehr: Es gehe um Meas Muth und Sou Met, der eine Marine-, der andere Luftwaffenchef unter Pol Pot, beide mutmaßlich für Tausende Tote verantwortlich.

Bestätigt sahen sich die Medien durch den Protest des heutigen internationalen Anklägers Andrew Cayley, der die Untersuchungsrichter zur Fortsetzung ihrer Ermittlungen aufforderte und nicht nur die Vernehmung der Verdächtigten verlangte, sondern auch Schauplätze von Verbrechen aufzählte, die zu untersuchen seien. Daraus ließ sich auf die Identität der Beschuldigten schließen.

Während die kambodschanische Ko-Anklägerin Chea Lang – 1995 Absolventin der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg – abermals Widerspruch gegen die Forderung ihres britischen Kollegen erhob, warfen die Untersuchungsrichter Cayley einen Verstoß gegen die Vertraulichkeit der Ermittlungen vor und forderten ihn zur Rücknahme seiner öffentlichen Erklärung auf.

Der Streit zwischen dem internationalen Ankläger und den beiden Ermittlungsrichtern wird von der Vorverfahrenskammer des Tribunals entschieden werden müssen. Inzwischen ist jedoch bekannt geworden, dass mehrere Mitarbeiter das Büro der Ermittlungsrichter verlassen haben. Der US-amerikanische Historiker Stephen Heder, bisher Berater, hat seine Mitarbeit ebenfalls aufgekündigt. Heder hatte Meas Muth und Sou Met bereits 2001 als potenzielle Angeklagte ausgemacht und wirft Blunk und You Bunleng vor, von seinen Beraterdiensten nicht gebührenden Gebrauch zu machen. Die wiederum erklärten, sie begrüßten den Abgang aller Mitarbeiter, die die alleinige Zuständigkeit der Richter für den Fall ignorierten. Worauf die vom US-amerikanischen Multimilliardär George Soros finanzierte »Open Society Justice Initiative« die UNO aufforderte, die »juristische Unabhängigkeit« und die »Kompetenz« des Tribunals und insbesondere seiner Ermittlungsrichter zu untersuchen.

Und über allen diesen Kontroversen droht der Prozess gegen die tatsächlichen Hauptverantwortlichen unglaublicher Verbrechen vergessen zu werden.

* Aus: Neues Deutschland, 16. Juni 2011


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