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Parlamentswahlen in Jordanien – Stillstand im Land der Hochglanzdemokratie

Von Katharina Lenner *

Die Parlamentswahlen in Jordanien sicherten königstreuen Kandidatinnen und Kandidaten abermals eine komfortable Mehrheit. Bis auf signifikante Stimmenverluste der Islamic Action Front (IAF) gab es kaum Überraschungen zu verzeichnen. Die jordanische Bevölkerung wie auch die meisten politischen Beobachter haben jegliche Hoffnung verloren, dass das Parlament ein Motor für positiven politischen oder sozio-ökonomischen Wandel sein könnte. Jordanien vermittelt ein dynamisches und demokratisches Image nach außen – nach innen regiert der Stillstand.

«Nichts verändert sich. Jordanien tut so, als wäre es eine Demokratie, aber das ist nicht der Fall.» Einschätzungen dieser Art hört man dieser Tage in vielen Teilen des Landes, vor und nach den Wahlen zum jordanischen Unterhaus am 20. November. Nach den letzten Parlamentswahlen 2003 fanden diese turnusgemäß statt, was nach den politischen Verwerfungen der letzten Jahre nicht unbedingt zu erwarten gewesen wäre. Zwischen 2001 und 2003 hatte König Abdallah II. das Parlament suspendiert und aus Sorge um mögliche innenpolitische Auswirkungen der regionalen Krisen in Palästina und Irak Neuwahlen wiederholt verschoben. Regiert wurde in dieser Phase durch Dekrete, die das 2003 schließlich neu gewählte Parlament rückwirkend ratifizierte. In diesem Jahr sollte jedoch das Bild eines regulär ablaufenden demokratischen Prozesses gewahrt bleiben.

Wahlkampf 'Jordanian Style'

Während des Wahlkampfs war das ganze Land übersät mit Bannern, Plakaten und den Konterfeis der Kandidaten – eine gewisse Abwechslung zu den sonst dominierenden Porträts der jordanischen Königsfamilie. Die Slogans wurden dominiert von Allgemeinplätzen wie 'Fortschritt ist wichtig', 'die Heimat ist für alle', o. ä. Im Vergleich zu den vorherigen Wahlen spielten die Themen Palästina und Irak eine relativ untergeordnete Rolle; demgegenüber waren mehr Slogans zum Thema Soziale Gerechtigkeit zu sehen. Insgesamt aber hielten sich klare politische Statements oder Forderungen stark in Grenzen, und die meisten Wahlbanner enthielten nur den Namen, Titel und Wahlkreis des/der jeweiligen Kandidaten/in. Dass die Wahlwerbung einen signifikanten Beitrag zum Wahlergebnis leistete, ist unwahrscheinlich. Die meisten potentiellen Wähler wussten ohnehin, wen sie wählen würden. In einem Land, in dem der Familienname Bände über Herkunft, sozialen Status und politische Positionierung spricht, bildet dieser für alle Kandidaten das zentrale politische Kapital.

Dies gilt auch für die Islamic Action Front (IAF), den politischen Arm der Muslimbrüder und die einzige professionell arbeitende Programmpartei im Land. Nach den Kommunalwahlen im August des Jahres, bei denen die IAF unter Vorwürfen der massiven Wahlfälschung durch die Regierung ihre Kandidaten zurückgezogen hatte, hatte es offenbar im Vorfeld der Parlamentswahlen eine Einigung zwischen IAF-Führung und Regierung gegeben. Die IAF nahm an den Wahlen teil, stellte jedoch nur 22 Kandidaten auf, die allesamt dem moderaten Lager angehörten und eher als schwach galten; Hamas-nahe Kandidaten wurden nicht ins Rennen geschickt. Dies sorgte für starke parteiinterne Auseinandersetzungen. Bei 110 zu verteilenden Sitzen bedeutete es zudem, dass die IAF unmöglich eine Mehrheit im Parlament erringen konnte. Derartige Vereinbarungen sind nichts Neues, sondern prägen in wechselndem Ausmaß das Verhältnis zwischen Partei und Königshaus seit dem politischen Öffnungsprozess 1989. Verglichen mit vorherigen Auseinandersetzungen war das Auftreten der IAF in diesem Wahlkampf jedoch besonders moderat. Trotz einer Antikorruptionsplattform und einigen altbekannten Motiven – z. B. der Aufforderung an die Regierung, den seit 1994 bestehenden Friedensvertrag mit Israel aufzukündigen – standen auch im IAF-Wahlkampf meist die Personen der Kandidaten im Vordergrund, und die Slogans beschränkten sich auf Allgemeinplätze.

Nur in wenigen Bezirken waren tatsächlich politische Plattformen und Debatten zu beobachten. Im dritten Bezirk Ammans, der als der politisierteste Wahlkreis im Land gilt und aufgrund der dort antretenden politischen Schwergewichte auch der 'Wahlkreis der Wale' (da'irat al-haitan) genannt wird, gab es erstmals eine öffentliche Debatte zwischen vier aussichtsreichen Kandidaten, in denen diese durch Moderator und Publikum kritisch nach ihren Wahlprogrammen befragt wurden. Andere unabhängige Kandidaten, die mit explizit politischen Programmen antreten wollten, wurden allerdings bereits im Vorfeld aussortiert. So wurde etwa Toujan Faisal, eine der schärfsten Kritikerinnen der jordanischen Regierung in vergangenen Legislaturperioden, unter legalistischen Begründungen gar nicht erst zur Kandidatur zugelassen.

Bis auf derartige Ausnahmen dominierte die Konkurrenz zwischen und unter verschiedenen königs- und regierungstreuen casha'ir [1] die Wahlen. Ein junger Mann aus Tafileh im Süden des Landes, wo diese Konkurrenz besonders ausgeprägt ist, bemerkte dazu: "Die Wahlen hier sind wie ein Krieg. Die casha'ir gehen zur Wahl, aber ihr Ziel ist nicht Demokratie, sondern der Sieg." Viele Großfamilien, deren männliche Kandidaten wenig chancenreich schienen, machten sich in diesem Kampf die seit 2003 existierende Frauenquote zunutze und nominierten eine Frau. Zwar werden nur sechs Sitze über diese Quote vergeben, doch benötigt man im Vergleich zu nicht-quotierten Sitzen weniger Stimmen. Relevant für die Sitzverteilung ist zudem der Prozentsatz der Stimmen im Wahlkreis, nicht die landesweit absolute Stimmenzahl, was die Quote besonders für kleinere ländliche Wahlkreise interessant macht. Die sechs Frauen, die letztlich über die Quote gewählt wurden, kommen entsprechend bis auf eine Ausnahme aus ländlichen Gegenden und haben starke familiäre Bindungen. [2]

Ein weiterer Trend, der im Wahlkampf deutlich hervortrat, war die steigende Bedeutung des 'großen Geldes'. Eine hohe Anzahl regierungstreuer reicher Geschäftsleute, die ebenfalls kaum ein erkennbares politisches Programm präsentierten, aber ausreichende Mittel hatten, um ihr Konterfei an jeder Straßenecke ihres Wahlkreises plakatieren zu lassen, setzte sich als Kandidaten durch. Viele Beobachter brachten dies in Zusammenhang mit dem ebenfalls an Relevanz zunehmenden Phänomen des Stimmenkaufs: in vielen Wahlkreisen wurden 5- oder 10-Dinar-Scheine an potentielle Wähler ausgehändigt. Das Phänomen des Stimmenkaufs wurde auch im Fall der IAF-Kandidaten beobachtet; allerdings wurden hier eher Sachspenden wie Decken und Gasöfen beobachtet.

Dem Wahlkampf entsprechend setzt sich das neu gewählte Parlament in seiner übergroßen Mehrheit aus regierungstreuen Individuen – bedeutenden Familien, treuen Wegbegleitern des Königshauses und (erfolg-)reichen Geschäftsleuten – zusammen. Demgegenüber erlitt die IAF herbe Verluste: Hatte sie im letzten Parlament noch 17 Parlamentsmitglieder gestellt, so wurden diesmal nur sechs gewählt, und in einigen traditionellen Hochburgen (z. B. Zarqa oder Irbid) konnten sie keinen einzigen Sitz erringen. Angesichts dieses schwachen Ergebnisses bezichtigten IAF-Sprecher die Regierung des Wahlbetrugs. In welchem Maß es tatsächlich dazu gekommen ist, ist schwer zu sagen, zumal es keine systematische unabhängige Wahlbeobachtung gab. Eine Koalition von unabhängigen NGOs, die sich zusammengeschlossen hatte, um die Wahlen zu beobachten, entschloss sich zum Rückzug, nachdem die Regierung erklärte, sie dürfe den Wahlprozess nicht in den Wahlstationen selbst beobachten, sondern solle sich auf den Follow-Up Prozess konzentrieren. Das regierungsnahe National Center for Human Rights organisierte dennoch einen Beobachtungsprozess durch verschiedene bei ihm registrierte NGOs. Auch wenn kritisch Interessierte wissen, dass dies mitnichten einer unabhängigen Wahlbeobachtung gleichkam, zählt doch der Eindruck nach außen: Jordanien ist weiterhin einer der Vorzeigeschüler der internationalen Finanzinstitutionen und wichtiger Verbündeter der USA in der Region. Für die Kontinuität dieser Beziehungen ist es essentiell, das Image eines inklusiven demokratischen Prozesses aufrechtzuerhalten. Dass die Bemühungen sich lohnten, zeigte die Reaktion der USRegierung, die lobend bemerkte, es habe sich bei den Wahlen um einen reibungslosen Prozess mit unabhängigen nationalen Beobachtern, einem hohen Prozentsatz weiblicher Kandidaten und weiblicher Wahlbeteiligung und aktiver Partizipation der jordanischen Zivilgesellschaft gehandelt.[3]

Das jordanische Wahlgesetz kommt zu sich

Wahlbetrug in großem Stil ist allerdings gar nicht nötig, denn das geltende Wahlgesetz stellt nahezu von selbst sicher, dass sich an den grundlegenden Formen politischer Auseinandersetzung kaum etwas verändert. Grundprinzip des Wahlgesetzes, das 1993 eingeführt und seitdem nur leicht modifiziert wurde, ist, dass jede/r Wähler/in nur eine Stimme hat, die für eine Person, nicht etwa eine (Partei-)Liste, abgegeben wird. Kritiker, darunter die IAF und viele kleinere Parteien monieren, das Gesetz in seiner jetzigen Form befördere ein Wahlverhalten nach familiären Loyalitäten und verhindere eine Stimmabgabe entlang politischer Motive. Tatsächlich hat das Wahlgesetz einen depolitisierenden Effekt: bis auf die IAF gibt es im Parlament keine Parteien, die eine klare politische Agenda vertreten. Es versammelt sich vielmehr eine Summe an Individuen, die sich im Nachhinein in lose Blöcke zusammenschließen.

Der Zuschnitt der Wahlkreise begünstigt zudem stark die dünn besiedelten ländlichen Gebiete. In Amman benötigt ein/e Kandidat/in, um einen Parlamentssitz zu erringen, bis zu 10mal mehr Stimmen als in kleinen Wahlkreisen im Süden des Landes. Damit werden die meist in Großfamilien organisierten Transjordanier gegenüber den Jordaniern palästinensischen Ursprungs, die den Großteil der städtischen Bevölkerung stellen, stark überrepräsentiert. [4]

Dass das Gesetz weiterhin in Kraft ist, ist für viele politisch Interessierte umso frustrierender, als Anfang 2005 unter großer medialer Inszenierung eine 'National Agenda' verabschiedet wurde, in der politische, ökonomische und soziale Reformbestrebungen bis 2020 skizziert und weitreichende Veränderungen des politischen Systems in Aussicht gestellt wurden. U. a. wurde angekündigt, ein neues Wahlgesetz zu verabschieden und das Parteiengesetz zu reformieren. Aufgrund von Meinungsverschiedenheiten unter den Delegierten wurden keine detaillierten Direktiven für das Wahlgesetz verabschiedet; im Grundsatz wurde jedoch eine Mischung aus Direktwahl einer/s Kandidaten/in und Wahl einer (Parteien-)Liste vorgeschlagen.

Ein neues Parteiengesetz wurde im März 2007 verabschiedet; mit zahlreichen restriktiven Regelungen steht es jedoch im Zeichen der zunehmenden Kontrolle des politischen Lebens – ein Trend, der sich seit Anschlägen auf drei Ammaner Hotels im November 2005, bei denen 90 Menschen umkamen, noch weiter verstärkt hat. Das Argument der öffentlichen Sicherheit bildet momentan vor allem eine Vorlage, um gegen den befürchteten steigenden Einfluss der Hamas unter den palästinensischen Jordaniern vorzugehen, und dieser Impetus spiegelt sich im Parteiengesetz. Solange aber das Wahlgesetz nicht verändert wird, wird die Rolle von Parteien in jedem Fall sehr begrenzt bleiben, und das parlamentarische Leben wird sich weiter entpolitisieren.

Was für eine Rolle aber spielt das Parlament überhaupt? Grundsätzlich ist seine Bedeutung im politischen Gefüge des Landes eher begrenzt. Es darf Gesetzesvorlagen der Regierung oder des Senats, der zweiten Kammer, diskutieren, modifizieren und verabschieden, hat aber selbst kein Recht zur Einbringung von Gesetzesinitiativen. Zudem werden Regierungen nicht auf der Basis parlamentarischer Mehrheiten gebildet, sondern durch den Premierminister in Konsultation mit dem König ernannt und vom Parlament nur im Nachhinein bestätigt. Insofern ist das Parlament eher eine beigeordnete Institution, als dass es eine eigenständige Bedeutung im politischen Prozess hätte.

Viele Studien betonen demgegenüber die Rolle des Parlaments als 'Serviceagentur'. Wähler entscheiden sich für diejenigen Kandidaten, von denen sie sich persönliche Hilfestellungen erhoffen – bei der Jobsuche, der Schaffung von Kontakten, Interaktionen mit der staatlichen Bürokratie usw. Daher wählen sie bevorzugt Kandidaten, die ihnen persönlich bekannt oder familiär verbunden sind.

Mittlerweile aber herrscht eine große Resignation gegenüber der Fähigkeit der Parlamentarier, derartige Dienstleistungen tatsächlich zu erbringen. In Umfrage vor den Wahlen gaben fast 50 % der Befragten an, das Verhalten der Parlamentarier im Parlament diene in erster Linie ihrem eigenen Profit.[5] Dennoch nehmen in ländlichen Gebieten, vor allem im Süden des Landes, weiterhin die meisten an den Wahlen teil – aus familiären Loyalitäten, aufgrund von sozialem Druck (z. B. durch Ehemänner und Familienoberhäupter) und in der Hoffnung, die gewählten Kandidaten könnten ihnen doch in irgendeiner Art und Weise hilfreich sein. Nur so lässt sich eine Wahlbeteiligung von 75–83 % in Regierungsbezirken wie Tafileh, Ma'an oder Ajloun erklären.[6]

In den Städten ist die Wahlmüdigkeit sehr viel größer. Die Wahlbeteiligung in Amman bei ca. 32 %, in Zarqa und Irbid etwas höher. Gemessen an landesweiten 54 % liegt die Partizipation in den palästinensisch dominierten Städten damit deutlich unter der in ländlichen Gebieten. Das Gros der palästinensischen Jordanier fühlt sich in keiner Form mit dem Parlament verbunden. Sie nehmen die Wahlen als ein Ereignis wahr, das sich ausschließlich an den transjordanischen Bevölkerungsteil richtet. Diejenigen, die dennoch zur Wahl gehen, entschieden sich in vergangenen Legislaturperioden oftmals für die IAF, zumal diese im Parlament zumindest die Stimme der Gegner einer Normalisierungspolitik mit Israel im Parlament vertrat und damit einem ihrer Anliegen angesichts der krisenhaften Entwicklungen der letzten Jahre Ausdruck verlieh. Die IAF sieht sich jedoch in den letzten Jahren einem massiven Glaubwürdigkeitsverlust ausgesetzt. Einer der der zentralen Gründe hierfür ist, dass sie sich den Regeln des politischen Spiels weitgehend beugt, ohne damit aber die Situation ihrer Wähler nennenswert zu verbessern. Zu diesen Regeln zählt das Tabu, den Status der palästinensischstämmigen Jordanier als 'Bürger zweiter Klasse' direkt anzusprechen. Auch wenn sie infolge ihrer jordanischen Staatsbürgerschaft formell die gleichen Rechte besitzen, sind viele von ihnen tagtäglich mit subtilen Formen von Diskriminierung konfrontiert – bei der Vergabe von Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor, Stipendien oder bei alltäglichen Interaktionen mit der jordanischen Administration. Im Oktober 2007 sorgte ein Fußballspiel für große Aufregung, bei dem der wichtigste palästinensische Club Al-Wihdat im Halbfinale des Asian Football Federation Cup – dem asiatischen Äquivalent zum europäischen UEFA-Cup – auf Al-Faisali, den bedeutendsten transjordanischen und bekanntermaßen sehr regierungsnahen Club traf. Im Rückspiel der traditionellen Rivalen wurden die Fans von Al- Wihdat durch die Al-Faisali-Fans mit rassistischen Sprechchören überzogen; beispielsweise wurden sie als al-shaab al-hamil (in etwa: Leute ohne Heimat, Wurzeln und Ehre) beschimpft. Ereignisse wie diese lassen viele Palästinenser daran zweifeln, ob dies wirklich ihr Land ist. Solche Diskriminierungen werden jedoch kaum öffentlich artikuliert und diskutiert, und die groteske Unterrepräsentation im Parlament trägt dazu bei, dass dies der Fall bleibt. Zwar fordert die IAF seit Jahren die Veränderung des Wahlgesetzes. Trotz wiederholten Boykottandrohungen nimmt sie jedoch immer wieder am politischen und parlamentarischen Leben teil und lässt sich auf Vereinbarungen mit der Regierung ein, was zu einer zunehmenden Abwendung ehemaliger Unterstützer beiträgt. Im Vergleich zu den Parlamentswahlen 2003 hat die IAF nicht nur eine hohe Anzahl an Sitzen, sondern auch etwa die Hälfte an absoluten Stimmen verloren. Für viele Wähler scheint es inzwischen rationaler, einen transjordanischen Kandidaten, der bessere Verbindungen in die Staatsapparate hat oder einen reichen Geschäftsmann zu wählen, oder aber schlicht ihre Stimme an den Meistbietenden zu verkaufen.

Insgesamt lässt sich also in allen Teilen des Landes eine steigende Desillusionierung gegenüber der Leistungsfähigkeit des Parlaments ausmachen. Seit Jahren dominieren die steigenden Preise und Lebenshaltungskosten, Arbeitslosigkeit und Armut in den Meinungsumfragen die Auflistung der drängenden Probleme im Land, doch in der Wahrnehmung einer großen Mehrheit ist das Parlament nicht in der Lage, zur ihrer Lösung beizutragen.[7] Dies verweist darauf, dass es einen immer größer werdenden Bevölkerungsteil gibt, dessen Sorgen im Parlament nicht artikuliert werden. Mit dem hohen Stimmenverlust der IAF schwindet dazu die bereits marginale Repräsentation der palästinensischen Jordanier noch weiter, und das Modell der Integration des politischen Islam, das Jordanien lange auszeichnete, gerät in die Krise. Stattdessen dominieren Repräsentanten der casha'ir und reiche Geschäftsleute das Parlament. Damit werden nun die langfristigen Auswirkungen des Wahlgesetzes sichtbar.

Düstere Perspektiven ...

Die Unzufriedenheit der jordanischen Bevölkerung bezieht sich jedoch nicht nur auf die Leistungen des Parlaments – auch in Bezug auf die vergangenen Regierungen dominiert in Umfragen der Eindruck, diese hätten nur wenig zur Lösung der sozio-ökonomischen Probleme des Landes beigetragen. Das spricht dafür, dass die zentralen politischen Institutionen gerade die Probleme, die für die meisten Jordanier zentral sind, nicht erfolgreich adressieren können.

Zu vielen dieser sozio-ökonomischen Konflikte haben die Regierungen der letzten Jahre selbst aktiv beigetragen. Sie verfolgen weiterhin den seit 1989 von den internationalen Finanzinstitutionen vorgezeichneten Kurs der ökonomischen Liberalisierung, der u. a. auf die Aufhebung von Subventionen auf Güter des täglichen Lebensbedarfs pocht. Noch in den letzten zwei Monaten vor den Wahlen wurden Subventionen auf Tierfutter und verschiedene Brotsorten gestrichen, was die relative Unbekümmertheit der jordanischen Regierung gegenüber den Lebensumständen der ärmeren Bevölkerungsschichten zeigt. Auch wenn versucht wird, deren zunehmende Verarmung über verschiedene Mechanismen und Entwicklungsprojekte aufzufangen, sind dies meist punktuelle Maßnahmen, die die Lebensumstände des Gros der jordanischen Bevölkerung nicht verbessern.

Routinegemäß wurde im Anschluss an die Wahlen auch eine neue Regierung eingeschworen. Nader Dahabi, der neue Premierminister, ist der bisherige Chef der Sonderwirtschaftszone von Aqaba und zugleich der Bruder des Chefs des jordanischen Geheimdienstes. Das neu ernannte Kabinett besteht vorrangig aus Technokraten, von denen erwartet wird, dass sie den Kurs der letzten Jahre weiterführen. Unter Berufung auf die 'National Agenda' und die nachfolgende, leicht modifizierte Kampagne «Wir sind alle Jordanien» kündigte der König an, die neue Regierung werde sich vor allem um die Verbesserung der sozialen Sicherungssysteme kümmern, um die negativen Auswirkungen der zu erwartenden Preissteigerungen abzufedern. Es lässt sich jedoch davon ausgehen, dass der Schwerpunkt weiterhin auf makroökonomischen Reformen liegt, die die Lebensumstände der Bevölkerungsmehrheit erschweren; für 2008 ist bereits die endgültige Streichung der Subventionen auf Rohöl angekündigt. Zu vermuten ist auch, dass Reformen des politischen Systems weiterhin eher den Kontrollaspekt verstärken, als dass sie eine Liberalisierung des politischen Lebens befördern.

Es scheint, dass in Jordanien derzeit der Stillstand regiert. Die nächsten Brotunruhen sind vermutlich nur noch eine Frage der Zeit. Doch angesichts der Tatsache, dass das etablierte politische System recht erfolgreich eine Übersetzung der Sorgen der Mehrheit in institutionalisierte Kanäle der politischen Willensbildung verhindert, werden auch solche Ereignisse vermutlich kaum etwas an den großen sozio-ökonomischen und politischen Entwicklungslinien des Landes verändern. Was zählt, ist der strahlende Eindruck auf dem Werbeprospekt der jordanischen Demokratie.

Fußnoten

[1] Um den kolonialistisch und rassistisch behafteten deutschen Begriff 'Stämme' zu vermeiden, wird hier auf die gängige Selbstbezeichnung jordanischer Großfamilien zurückgegriffen.

[2] Vgl. Jo Staff: 'Can Women Win?'; Jo, No. 51, Nov. 2007, S. 38.

[3] 'US Praises Jordan Elections', AFP, 21.11.2007.

[4] Zu den Problemen der Wahlgesetzgebung, vgl. Amman Center for Human Rights Studies (ACHRS): 'Comments on the Elections of the 15th Jordanian House of Representatives. 20.11.2007'.Amman, 2007.

[5] Vgl. Center for Strategic Studies (CSS), University of Jordan: Public Opinion Poll Evaluating the Performance of the 14th Parliament (2003-2007) and Determinants of Voting Behavior in the Upcoming Parliamentary Elections. November 2007, S. 15.

[6] Offizielle Zahlen zur Wahlbeteiligung in den einzelnen Wahlkreisen sind noch nicht veröffentlicht worden; für erste Einschätzungen vgl. 'Preliminary Results', Jordan Times, 21.11.2007.

[7] Vgl. CSS, op cit., S. 10-12

Vielen Dank für Unterstützung und Informationen an die FES Amman, besonders Mohammed Hussainy.

* Katharina Lenner promoviert an der FU Berlin zu Armutsbekämpfungspolitik in Jordanien



Dieser Beitrag erschien in: INAMO (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Heft Nr. 52, Winter 2007, Jahrg. 13, S. 46-49

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