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Saleh ist weg, aber Jemen noch nicht frei

Die jemenitische Friedensnobelpreisträgerin Tawakkul Abdulsalam Karman im nd-Gespräch *


Die 32-jährige Jemenitin Tawakkul Abdulsalam Karman hat seit Jahren gegen das korrupte System des Präsidenten Ali Abdullah Saleh angeschrieben. Die studierte Politikwissenschaftlerin, Mutter dreier Kinder, gilt als die wichtigste Stimme der jemenitischen Jugendbewegung. Im Dezember erhielt sie gemeinsam mit den Liberianerinnen Ellen Johnson-Sirleaf und Leymah Gbowee als erste arabische Frau den Friedensnobelpreis, den sie dem »arabischen Frühling« widmete. Im Jahre 2005 Mitbegründerin der Organisation »Journalistinnen ohne Ketten«, ist sie Mitglied der oppositionellen Reformpartei. Nach mehrmonatigem Auslandsaufenthalt kehrte sie vor wenigen Tagen in ihre Heimat zurück. In Sana'a sprach Martin Lejeune mit ihr.


nd: Als Präsident Ali Abdullah Saleh jüngst nach Oman ausreiste, von wo er später in die USA aufbrach, wurde auf dem Platz des Wandels (al-Intiqal) in Sana‘a gefeiert. Ist die Revolution in Jemen nun geglückt?

Abdulsalam Karman: Nein, Präsident Saleh ist weg, aber das korrupte System ist geblieben.

Offiziell ist Saleh nur zur ärztlichen Behandlung ins Ausland gereist. Glauben Sie, dass er wiederkommt?

Ich nehme an, dass er im Ausland bleibt.

Obwohl er nun in Jemen bis an sein Lebensende per Gesetz Straffreiheit genießt?

Die Verabschiedung dieses Gesetzes durch das Parlament ist ein großer Fehler und zeigt, wie korrupt dieses System ist - bis ins Parlament hinein. Das Volk, wie Sie es auf jeder Demonstration hören können, ist gegen die Straffreiheit. Wir, die Jugend des Wandels, werden in einem neuen Jemen dieses Gesetz aufheben und die Auslieferung Salehs bei jedem Land beantragen, das ihm Zuflucht gewähren wird. Er muss seine gerechte Strafe bekommen.

Wird es ohne Saleh, der seit 33 Jahren Präsident ist, für die Opposition einfacher, die Revolution zu Ende zu führen?

Mit Präsident Saleh im Ausland ist es sicherlich grundsätzlich einfacher, eine friedliche Lösung für Jemen zu finden. Aber Salehs Söhne und Neffen, die gemeinsam mindestens 80 Prozent der Streitkräfte kontrollieren, sind noch im Land.

Welche Rolle spielen seine Söhne in Jemen heute?

Ahmed Ali Saleh, der erstgeborene Sohn, befehligt die Garde der Republik (al-Haras al-Jumhuri), die Elitetruppe der Armee, die bis vor Kurzem von den USA hochgerüstet wurde. Ali Abdullah Saleh hat immer geplant, dass ihm Ahmed Ali Saleh als Präsident nachfolgen wird, und er hält mit Sicherheit an seinem Plan fest. Tarek Ali Saleh, der zweitgeborene Sohn, ist Oberbefehlshaber der Luftwaffe, die geschlossen hinter der Familie Saleh steht. Und Amar Ali Saleh, der dritte Sohn, ist Direktor der Nationalpolizei. Er kontrolliert Flughäfen und Häfen, die Eingänge zu den Ministerien und die großen Plätze. Seine Leute sind überall. Und immer noch im Land und an der Macht ist Yahia Abdullah Mohammed Saleh, Direktor der Staatsschutzpolizei, die gefürchtet und verhasst ist in der Bevölkerung. Yahia ist der Sohn Mohammed Abdullah Salehs, des Präsidentenbruders.

Wie geht es nun also weiter?

Auch Salehs Söhne und Neffen müssen entmachtet werden, die Streitkräfte müssen unter demokratischer Führung vereint werden. Präsident Salehs Machtübergabe ist nur ein erster Schritt der Transformation. Der nächste Schritt wird der militärische Machtwechsel sein. Danach muss die Korruption der Verwaltung bekämpft werden. Und wir brauchen demokratische Wahlen.

Für den 21. Februar ist eine Präsidentschaftswahl geplant.

Das ist eine Farce, weil es nur einen einzigen Kandidaten gibt, Vizepräsident Abdul-Rabho Mansur Hadi. Wir rufen dazu auf, diese Wahl zu boykottieren. Abdul-Rabho Mansur Hadi wäre als Präsident nur eine scheindemokratische Dekoration für die Herrschaft der Saleh-Söhne. Denn die Macht werden weiterhin diejenigen ausüben, die Militär und Polizei befehligen. Vor einer Militär- und Polizeireform haben Wahlen überhaupt keinen Sinn. Und sollte sich Abdul-Rabho Mansur Hadi mit seiner Rolle als Dekoration wider Erwarten nicht zufriedengeben und wirklich regieren wollen, dann gibt es Bürgerkrieg, denn Salehs Söhne werden sich niemals freiwillig entmachten lassen.

Weshalb wollen Sie Abdul-Rabho Mansur Hadi nicht zumindest eine Chance geben?

Hadi kann das Volk nicht in ein neues Jemen führen, weil er Teil des korrupten Systems ist. Er hat 1994 im Bürgerkrieg mit brutaler Gewalt das abtrünnige Aden wieder unter die Kontrolle des Nordens gebracht. Er ist es, den die USA heute in Jemen unterstützen, nachdem sie Saleh haben fallen lassen. Daher ist er für uns inakzeptabel.

USA-Präsident Barack Obama hat aber den Akteuren des arabischen Frühlings seine Unterstützung bekundet.

Die USA sind dafür verantwortlich, dass Diktatoren wie Ali Abdullah Saleh ihre Völker überhaupt so lange unterdrücken konnten. Sie haben die arabischen Diktatoren mit Geld und Waffen versorgt. In Jemen beispielsweise haben die USA Saleh jahrzehntelang mit den modernsten Waffen ausgestattet, um angeblich Al Qaida zu bekämpfen. Doch Saleh und seine Söhne haben diese Waffen seit dem Ausbruch der Revolution gegen die Bevölkerung eingesetzt, die sich friedlich an den Protesten beteiligte. Zuletzt hat Saleh im Dezember Taiz bombardiert. Die Stadt ist eines der Widerstandszentren gegen das Regime. Außerdem hat die Luftwaffe mehrmals Demonstrationen im Süden des Landes bombardiert, vorgeblich immer, um Al Qaida zu bekämpfen.

Wie viele Menschen stehen hinter Ihrer Bewegung der Jugend des Wandels?

Wir führen keine Mitgliederlisten. Aber Sie brauchen sich nur hier auf dem Platz des Wandels umzuschauen, dann sehen Sie, wie viele wir sind.

Welche Rolle spielt die Frau in der jemenitischen Revolution?

Die jemenitische Frau ist sehr stark. Sie können es hier mit eigenen Augen sehen, welche Rolle die Frauen spielen. Sie sind die, die in Wahrheit die Revolution führen. Sie sind von Anfang an auf die Straße gegangen, um gegen das System zu demonstrieren. Hier auf dem Platz des Wandels haben Frauen wichtige Aufgaben inne, darunter die medizinische Versorgung von Verwundeten. Aber auch die Aufrechterhaltung der Sicherheit, indem sie bei den Sicherheitskontrollen an den Eingängen zum Protestcamp mitwirken.

Als Sie kürzlich aus Kuwait nach Jemen zurückkehrten, wurden Sie von Tausenden überschwänglich begrüßt. Wie waren die Reaktionen in Ihrem Land unmittelbar nach Bekanntgabe der Nobelpreisträger 2011?

Es gab erfreuliche und enttäuschende. Negativ fielen die Reaktionen der staatlich kontrollierten Presse Jemens aus. Die Mehrheit meiner Landsleute ist jedoch stolz, weil ich die erste Frau aus einem arabischen Land bin, die einen Nobelpreis verliehen bekam. Sie sind stolz, weil Jemen das Land ist, aus dem diese erste arabische Preisträgerin kommt. Ich weise immer darauf hin, dass ich den Preis nur stellvertretend für die friedliche Revolution durch die Jugend des Wandels bekommen habe. Ein Nebeneffekt dieses Preises ist, dass nun mehr Menschen in der Welt wissen, wo Jemen überhaupt liegt.

Wo waren Sie in den vergangenen Monaten?

Ich war vier Monate im Ausland unterwegs, in Frankreich, den USA, Norwegen natürlich, um als Stimme der Protestbewegung der Jugend des Wandels der Welt von unserem Kampf für Würde, Freiheit, Menschenrechte und Demokratie zu berichten.

Bleiben Sie nun in Jemen?

Ja, um gemeinsam mit unseren Schwestern und Brüdern für ein neues Jemen zu kämpfen und die Revolution erfolgreich zu Ende zu bringen.

Was werden Sie tun in den kommenden Wochen und Monaten?

Wir arbeiten an einer neuen Verfassung. Und wir sind dabei, unsere Bewegung zu festigen und zu vergrößern, damit sie als Machtbasis dienen kann für den Führer eines neuen Jemen.

Wie wird die neue Verfassung Ihrer Meinung nach aussehen?

Sie schreibt Rechtsstaatlichkeit fest, auf die sich jeder Jemenit verlassen können muss. Sie basiert auf Föderalismus, garantiert allen ethnischen Gruppen und religiösen Minderheiten gleiche Rechte und enthält auch die rechtliche Gleichstellung von Frauen und Männern. Und sie verlangt Rechenschaft und Transparenz von der Regierung in allen Bereichen. Dass die Regierung zur Verantwortung gezogen wird für Fehler ist ein zentraler Punkt in der neuen Verfassung.

* Aus: neues deutschland, 6. Februar 2012


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