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Japans Abkehr vom Pazifismus

Die neue Verteidigungspolitik des konservativen Regierungschefs Shinzo Abe stößt im Land auf Widerstand

Von Sebastian Maslow, Tokio *

Tokios konservativer Regierungschef Abe will die Sicherheitspolitik des Landes radikal ändern und lässt dazu die Nachkriegsverfassung neu interpretieren. Kritiker fürchten um Japans Pazifismus.

Japans außen- und sicherheitspolitisches Selbstverständnis seit 1945 definierte sich vor allem in Abgrenzung zur eigenen Kriegsvergangenheit und fand seinen Ausdruck in der pazifistischen Verfassung von 1946. Demnach verzichtete Japan auf jegliche Beteiligung an Kriegsaktivitäten sowie auf den Unterhalt von Streitkräften. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges in Asien und massiven US-amerikanischen Drucks führte Japan am 1. Juli 1954 die sogenannten Selbstverteidigungskräfte ein. Eingebettet im Sicherheitsbündnis mit den USA, orientierte sich Japan vor allem an seinen wirtschaftspolitischen Interessen und verzichtete mit Verweis auf seinen Verfassungspazifismus lange auf eine aktive internationale Rolle seines Militärs.

Seit seiner Rückkehr ins Amt des Premierministers im Dezember 2012 wirbt Shinzo Abe mit Nachdruck für eine tief greifende Reform dieser Nachkriegsordnung. Besonders vor dem Hintergrund wachsender Spannungen in Ostasien sieht Japans konservative Führung vor allem in der Friedensverfassung den Grund für Tokios Schwäche im Umgang mit Staaten wie China und Nordkorea und eine Gelegenheit, breite Zustimmung für die angestrebten Änderungen zu gewinnen. Seinen Wählern verspricht Abe ein »starkes Japan« mit einer neuen Verteidigungspolitik. Sie soll vor allem Japans Rolle im Bündnis mit den USA stärken.

Kontroversen über die Revision der Verfassung und damit den Kurs der japanischen Sicherheitspolitik haben seit Jahrzehnten den Verlauf der Bruchlinien innerhalb der japanischen Politik bestimmt. Abes Sicherheitspolitik nun markiert eine radikale Abkehr vom pazifistischen Grundkonsens der Nachkriegsjahre. Bereits im ersten Jahr seiner Amtszeit ließ er seinem Versprechen Taten folgen. Im November vergangenen Jahres etablierte Tokio einen Nationalen Sicherheitsrat, der vor allem die Rolle des Premiers im Krisenmanagement sowie in der Außenpolitik festigen soll. Ferner soll damit auch die Zusammenarbeit mit US-Geheimdiensten intensiviert werden.

Die Arbeit des Sicherheitsrats soll durch ein neues Gesetz zur Regelung von Staatsgeheimnissen erleichtert werden. Was unter die Rubrik »Staatsgeheimnis« fällt, obliegt jedoch der Entscheidung durch die Regierung. Wer sensible Informationen weitergibt, dem drohen lange Gefängnisstrafen von bis zu zehn Jahren. Während die Gesetzgebung auf breiten Widerstand in der Bevölkerung stieß, peitschte Abe die neuen Gesetze durchs Parlament. Chinas forsches Vorgehen im Konflikt um die von Tokio beanspruchten Senkaku-Inseln (chinesisch Diaoyutai) im Ostchinesischen Meer lieferte Abe dabei handfeste Argumente für seine neue Sicherheitspolitik.

Dennoch ist die Abkehr Tokios vom Pazifismus keine politische Revolution. Bereits mit dem Ende des Kalten Krieges hat Japan schrittweise sein außenpolitisches Engagement erweitert. 2004 wurden Truppen nach Irak entsandt. Japans Militär wurde stetig entwickelt und zählt heute zu den modernsten Streitkräften. Zwar gab Tokio in der Vergangenheit nur knapp ein Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Rüstung aus, doch das enorme Wirtschaftsvolumen ermöglichte enorme Investitionen in die nationale Verteidigung. Drohnen gehören ebenso zum Inventar wie neue, am Beispiel USA orientierte Marinetruppen, die speziell für die Rückeroberung von Inseln ausgebildet werden.

Auch bei den Rüstungsexporten verabschiedet sich Japan vom Pazifismus vergangener Jahrzehnte. Waren einst Waffenexporte jeglicher Art untersagt, hob Abe dieses Verbot auf. Im Juli vereinbarte man mit Australien eine militärische Zusammenarbeit, die den Export japanischer U-Boot-Technologie vorsieht. Seit Juli beteiligt sich Japan auch an der Entwicklung von US-Raketensystemen.

60 Jahre nach Gründung der japanischen Selbstverteidigungskräfte verabschiedete Abe per Kabinettsbeschluss am 1. Juli eine umstrittene Neuauslegung der Verfassung, die Tokio eine Beteiligung an internationalen Militäroperationen ermöglichen soll. Kritiker monieren nicht nur, dass mit diesem Schritt der Verfassungstext grob missachtet wird, sondern auch die parlamentarische Demokratie. Im staatlichen Fernsehen NHK fanden die massiven Proteste in Tokio aber kaum Beachtung. Auch eine versuchte Selbstverbrennung aus Protest gegen Abes Politik wurde vom Sender ignoriert. Er ist fest in der Hand der konservativen Regierung.

Derweil formiert sich der Protest gegen Abes neuer Sicherheitspolitik weiter. Laut einer aktuellen Umfrage der Nachrichtenagentur Kyodo spricht sich eine große Mehrheit von über 60 Prozent gegen eine Beteiligung an internationalen Militäroperationen aus. Der Widerstand hat bereits zur Niederlage der regierenden LDP bei den Gouverneurswahlen im Juli beigetragen. Im Herbst stehen weitere Wahlen in Okinawa und Fukushima an. Ob Abe weiterhin in der Lage sein wird, seinen verteidigungspolitischen Kurs fortzusetzen, hängt jedoch vor allem vom Erfolg seiner »Abenomics«, seiner Wirtschaftspolitik ab.

Letztlich sind Japans Wähler vor allem besorgt über stagnierende Löhne und steigende Preise. Wobei die geschickte Kombination von Wirtschaftspolitik mit revisionistischen Reformzielen in den vergangenen Monaten gezeigt hat, dass Abe kaum dieselben Fehler machen wird, die 2006 zu seinem plötzlichen Rücktritt führten. Und Kritik an einem neuen japanischen Militarismus etwa aus Peking ist kaum produktiv, besonders nicht vor dem Hintergrund chinesischer Provokationen in japanischen Gewässern. Da Abe offiziell einen »proaktiven Pazifismus« zur Richtlinie der japanischen Außenpolitik erklärte, sollte sich auch die internationale Debatte auf eine verantwortliche Rolle Tokios in der Lösung internationaler Konflikte konzentrieren.

* Der Autor ist Stipendiat am Deutschen Institut für Japanstudien (DIJ) in Tokio und Doktorand an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Tohoku Universität.

Aus: neues deutschland, Mittwoch 6. August 2014



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