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Tepco macht falsche Angaben

Der Physiker und Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital zur Situation in Fukushima *


Das havarierte japanische Atomkraftwerk Fukushima ist wieder in den Schlagzeilen. Die Meldungen sind unklar und teilweise widersprüchlich. Selbst die Internationale Atomenergie-Organisation kritisierte, dass der Betreiber Tepco »verwirrende Botschaften« aussende. Die japanischen Behörden räumen ein, die Lage nicht beurteilen zu können. Greenpeace-Atomexperte Heinz Smital wirft Tepco vor, die Geschehnisse zu verharmlosen. Mit dem Kernphysiker sprach »nd«-Autor Reimar Paul.


Es gibt beunruhigende Meldungen aus Fukushima. Wie ist die Situation im havarierten AKW?

Vier Reaktorblöcke wurden 2011 durch Ausfall der Kühlung und dadurch zwingend folgenden Kernschmelzen und heftigen Wasserstoff-Explosionen völlig zerstört. An vielen Orten in den Reaktoren ist die Strahlung so hoch, dass sie nicht betreten werden können. Nach wie vor entsteht durch radioaktiven Zerfall, der sich nicht durch technische Maßnahmen beeinflussen lässt, enorme Hitze im zerstörten Kernbrennstoff. Das erfordert eine Kühlung. Bilder der Anlagen zeigen, dass die Situation sehr schwierig ist. Problematisch sind die großen, stark radioaktiven Wassermassen, mehr als 300 000 Tonnen, die zur Kühlung notwendig sind, sowie einsickerndes Grundwasser. Das verstrahlte Wasser wird in hunderten Stahltanks auf einer Anhöhe hinter Block 4 provisorisch gelagert.

In einem der Tanks wurde jetzt ein Leck entdeckt. Die Atomaufsicht schätzt, dass mindestens 300 Tonnen hoch radioaktives Wasser in den Pazifik geflossen sind …

Es gibt dazu widersprüchliche Informationen. Einerseits hieß es schon vor Wochen, dass jeden Tag etwa 300 Tonnen belastetes Wasser über Risse und Kabelschächte aus den Reaktoren ins Meer fließen – und das schon seit Beginn der Katastrophe 2011. Andererseits kam vergangene Woche die Nachricht, dass aus einem der großen Tanks mindestens 300 Tonnen stark kontaminiertes Wasser ausgeflossen seien.

Wie stark ist das ausfließende Wasser belastet?

Dieses hat eine Aktivität von 80 Mega-Becquerel pro Liter, das ist sehr, sehr hoch. Dabei handelt es sich hauptsächlich um das gefährliche Strontium-90, das die unangenehme Eigenschaft besitzt, sich in den Knochen anzureichern. Durch die lange Halbwertszeit von rund 29 Jahren bestrahlt es praktisch unaufhörlich den Knochen und schädigt ihn – daher wird es auch als Knochenkiller bezeichnet.

Die japanische Regierung hat das Leck als Störfall der Stufe drei gemeldet. Was bedeutet das?

Es gibt eine internationale Bewertungsskala für nukleare Ereignisse, die sogenannte INES-Skala. Sie soll helfen, Ereignisse und Unfälle in Atomanlagen möglichst rasch und realistisch zu bewerten, um der Bevölkerung und den Behörden eine frühzeitige Einschätzung zu ermöglichen. Stufe 3 ist ein ernster Störfall mit weitgehendem Ausfall von Sicherheitsvorkehrungen. Es hat mich sehr verwundert, dass das Leck im Wassertank zunächst nur mit Stufe 1 (kleine Abweichung vom Normalbetrieb) eingestuft worden ist, obwohl gemeldet wurde, dass die Strahlung der Pfütze 100 Millisievert pro Stunde betragen hat und somit eindeutig anders bewertet werden musste. Betreiber Tepco ist nicht nur nicht in der Lage, Wasser in Stahltanks sicher zu lagern, sondern macht auch falsche Angaben, um die Probleme herunterzuspielen.

Im Boden unter den durchgeschmolzenen Reaktoren sammelt sich verseuchtes Grundwasser, das sich ebenfalls Richtung Meer bewegt. Um es zu stoppen, will Tepco die Erde um die Ruine einfrieren. Ist das realistisch?

Das Einfrieren von Erdschichten, um Wasserzutritte zu stoppen, wurde im Bergbau durchaus erfolgreich angewendet. In Fukushima bin ich aber sehr skeptisch, ob dies gelingt, weil einerseits die Dimensionen viel größer sind und andererseits das Arbeitsumfeld schwieriger ist. Man geht derzeit davon aus, dass eine Erdschicht von etwa 1400 Meter Länge bis zu einer Tiefe von 30 Metern dauerhaft eingefroren werden müsste. Eindringendes Grundwasser stellt auch immer eine Art Wärmequelle dar, die dem Einfrieren entgegenwirkt. Daher müssten noch andere Methoden verfolgt werden, wie das Grundwasserproblem zu lösen ist.

Bereits 44 Kinder aus Fukushima leiden an Schilddrüsenkrebs. Die Behörden tun diese Zahlen als statistisch »nicht signifikant« ab. Zu Recht?

Bei der Katastrophe sind enorme Mengen von radioaktivem Jod freigesetzt worden, das sich besonders in der Schilddrüse ansammelt und Krebs auslösen kann. Das radioaktive Jod-131 hat eine kurze Halbwertszeit von acht Tagen und ist nach einigen Wochen bis Monaten nicht mehr nachweisbar, die Untersuchungen der Kinder haben somit zu spät begonnen. Die Schädigung der Schilddrüse ist bereits entstanden.

Gibt es seriöse Schätzungen über die langfristigen gesundheitlichen Folgen des Unfalls?

Selbstverständlich ist langfristig mit weitreichenden gesundheitlichen Folgen zu rechnen. Nach dem Handbuch der Internationalen Atomenergie-Organisation erwartet man bei einem katastrophalen Reaktorunfall der INES-Stufe 7 gesundheitliche Spätfolgen über großen Gebieten, eventuell in mehr als einem Land. Die Menge an freigesetzter Radioaktivität in Fukushima ist mehr als zehnmal so groß wie für die Klassifikation der INES-Stufe 7 erforderlich. Ich empfinde es als unerträglich, wenn versucht wird, gesundheitliche Folgen abzustreiten, nur weil die Auswirkungen der Strahlung erst Jahre später auftreten werden. Der Schutz der Atomenergie darf nicht über den Schutz der vom Unfall betroffenen Menschen gestellt werden.

* Aus: neues deutschland, Samstag, 31. August 2013


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