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Eine Art Befreiungsschlag

Verfassungsbruch auf Japanisch: Truppen in den Irak

Im Folgenden dokumentieren wir einen Artikel aus der kritischen Wochenzeitung "Freitag".


Von Peter Linke

Das Parlament in Tokio hat am vergangenen Wochenende mehrheitlich die Entsendung von 1.000 Soldaten in den Irak gebilligt. Es handelt sich um den ersten Auslandseinsatz der japanischen Armee nach dem Zweiten Weltkrieg.

Seit dem 11. September 2001 befinden sich Japans Regierende mental im Kriegszustand: In den Trümmern des World Trade Center wurde noch nach Opfern gesucht, da hatte Ministerpräsident Junichiro Koizumi bereits ein Anti-Terror-Paket durch das Parlament gebracht, das Japan in verfassungswidriger Weise erstmals seit 1945 zu einem über die pazifische Region hinaus reichenden Militärengagement nötigte. Ungeachtet aller Bedenken der Opposition ließ die Regierung im Frühjahr 2003 ein "Gesetz für den militärischen Krisenfall" folgen, das die japanischen Streitkräfte auf eine "offensive Landesverteidigung" out of area einschwört, einschließlich erweiterter Vollmachten für den Krisenfall.

Premier Koizumi hat damit Schritt um Schritt eingelöst, was er bei seinem Amtsantritt vor reichlich zwei Jahren ankündigte: seinem Land wieder "eine wirkliche Armee" zu schenken, die nach der verheerenden Niederlage des Tennoismus 1945 von den USA verfügte Enthaltsamkeit zu beenden und zu "staatlicher Normalität" zurückzukehren. Damit wird ein nationales Sicherheitsverständnis revidiert, von dem nicht nur Japan Jahrzehnte profitierte, sondern mit dem auch seine Nachbarschaft gut leben konnte.

Knapp 250.000 Soldaten - ausgestattet mit modernstem Heeres-, Flug- und Marine-equipment - erlauben es Japans Selbstverteidigungskräften bereits heute, sich als recht potente Streitmacht in der asiatisch-pazifischen Region zu fühlen, die bisher allein defensiv ausgerichtet war. Es fehlte an Bombern und operativ-taktischen Raketen ebenso wie an Flugzeugträgern und Präzisionswaffen großer Reichweite. Kein Zufall, denn die "Friedensverfassung" von 1946 hatte das Führen von Kriegen "auf ewige Zeiten" verboten und damit ein sicherheitspolitisches Prinzip begründet, das eine streng defensive Militärdoktrin vorschrieb. Seinen Niederschlag fand das in den "Grundlagen der nationalen Verteidigungspolitik" von 1957 ebenso wie in den Parlamentsresolutionen "Über die drei nicht-nuklearen Prinzipien" (kein Besitz, keine Produktion, keine Lagerung von Kernwaffen) von 1968 und "Über das Verbot einer militärischen Nutzung des Weltraums" von 1969.

Natürlich versuchten konservative Politiker immer wieder, den sicherheitspolitischen Grundkonsens der Nachkriegszeit aufzubrechen und das Land durch eine ungehemmte Remilitarisierung zu "normalisieren". Erfolgreich waren sie damit jedoch erst nach dem Verschwinden der Sowjetunion und des World Trade Centers. Noch 1978 hatte der Vorsitzende des Vereinigten Oberkommandos, General Hiromi Kurisu, abdanken müssen, weil ihm eine Revision der Verfassung "zwecks Aufwertung des militärischen Faktors" überlegenswert erschienen war.

Ein Vierteljahrhundert später sind derartige Überlegungen Teil der offiziellen Regierungspropaganda: "Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass der Tag kommt, an dem Japans Selbstverteidigungskräften jene Ehre und jener Status zuteil wird, die sie verdienen", verkündete Koizumi Ende Mai im Unterhaus. Tage später verlangten Rechtsexperten der regierenden Liberal-Demokratischen Partei (LDP), durch eine Korrektur der Verfassung die Selbstverteidigungskräfte in den Rang einer regulären Armee zu erheben, um "diversen Schurkenstaaten" in der Nachbarschaft offensiv begegnen zu können.

Was dies konkret bedeutet, formulierten Anfang Juli 100 Parlamentsabgeordnete (darunter Shigeru Ishiba, der Chef der Nationalen Verteidigungsbehörde Boeicho) in einer "Notstandserklärung": Fähigkeit zum Erstschlag, präventive Vernichtung feindlicher Raketen-Basen, besonders auf der koreanischen Halbinsel. Unter diesen Umständen scheint es nur eine Frage der Zeit, dass zwei weitere Tabus fallen - die Verfügung über Atomwaffen und eine militärische Nutzung des Weltraums.

Noch Mitte der neunziger Jahre hatte das Boeicho in einer internen Studie die Entwicklung eigener Kernwaffen strikt abgelehnt. Allerdings hinderte dies Kabinettssekretär und Koizumi-Intimus Yasuo Fukuda im Vorjahr nicht daran, Atombomben und ballistische Raketen für Japans "Selbstverteidigung" zu fordern. Mit einer ähnlichen Erklärung hatte Agrarminister Tadao Kuraishi 1968 einen der gewaltigsten Tumulte im Nachkriegsparlament ausgelöst und zurücktreten müssen - Yasao Fukuda ist mehr denn je in Amt und Würden.

Als die Regierung 1994 beschloss, das Budget für die "friedliche Nutzung des Weltraums" bis 2010 zu verdoppeln, ahnten die wenigsten, dass damit auch "militärische Zwecke" gemeint sein könnten. Es ging um ein eigenes Satellitenaufklärungssystem, dessen militärische Ausrichtung erst offenbar wurde, als Ende März 2003 die ersten beiden japanischen Spionagesatelliten im Weltraum platziert wurden. Im Herbst werden zwei weitere folgen, denn "um Nordkorea rund um die Uhr beobachten zu können, brauchen wir zwischen 16 und 20 Satelliten ...", beziffert ein Sicherheitsexperte in Tokio einen extensiven Bedarf. Für die heutige Politiker-Generation sei das "eine Art Befreiungsschlag", um eine lange währende sicherheitspolitische Bevormundung durch die USA zu überwinden, heißt es dazu in Tokio.

Aus: Freitag 32, 1. August 2003


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