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Abes Abschied vom Pazifismus

Japans Premierminister strebt eine andere Verfassung an und lässt über eigene Kernwaffen nachdenken

Von Wolfgang Kötter *

Anfang August gedenken wie in jedem Jahr Menschen in aller Welt der Atombomben-Abwürfe auf Hiroshima und Nagasaki vor 68 Jahren. Aber das Thema Atomwaffen wird nicht nur mit Blick auf die Vergangenheit, sondern auch hinsichtlich der zukünftigen Außenpolitik Japans diskutiert.

Premierminister Shinzo Abe kann nach seinem Sieg bei den Oberhauswahlen im Juli in den kommenden Jahren seine Politik auch in der kleineren Parlamentskammer ohne Behinderung der Opposition durchsetzen. Gemeinsam mit dem langjährigen Koalitionspartner Komeito hat die Regierungspartei der Liberaldemokraten LDP dort die Mehrheit errungen. Gleich mehrere Entwicklungen in jüngerer Zeit deuten darauf hin, dass sich Tokio von seiner offiziellen Politik des Pazifismus weiter entfernen und auf dem Weg in Richtung Militarisierung seiner Außenpolitik voranschreiten wird.

Der Inselstreit

Der Streit um die Inseln im Ostchinesischen Meer, die in China die Diaojus, in Taiwan die Diaojutais und in Japan die Senkakus heißen, dauert schon seit längerem, aber er eskalierte im vergangenen Jahr, als der rechtsnationale Gouverneur von Tokio, Schintaro Ischihara, China mit dem Versuch provozierte, die unbewohnten Inseln zu erwerben. Die japanische Regierung kaufte im September drei dieser Inseln, angeblich um sie nicht in den Besitz von Ischihara gelangen zu lassen. Daraufhin beschuldigte Peking Tokio, den umstrittenen Archipel zu „stehlen“ und seither sind die Beziehungen belastet.

Dem folgten antijapanische Demonstrationen in China, die von Pogromen begleitet wurden. Chinesische Küstenwachschiffe kreuzen seitdem häufig um die umstrittenen Inseln und laufen immer wieder kurzzeitig auch in die Küstenzone ein. Hinter dem Inselstreit steht eine einflussreiche rechte Bewegung in Japan, die diese Krise benutzt, um Japans auf Frieden verpflichtete Nachkriegsverfassung von 1947 zu unterminieren und möglicherweise das über mehr als ein halbes Jahrhundert währende Tabu der Produktion von Atomwaffen zu brechen. Die Änderung der Friedensverfassung ist auch ein erklärtes Ziel von Abe. Nach dem Willen des Premiers soll Japan wieder eine stärkere politische, wirtschaftliche und militärische Rolle in Asien übernehmen.

In Artikel 9 der Verfassung verzichtet Japan auf Krieg als souveränes Recht, auf die Androhung oder Ausübung von Gewalt als Mittel zur Regelung internationaler Streitigkeiten sowie auf militärische Truppen. Tokio unterhält dementsprechend offiziell auch keine Armee, sondern nur sogenannte Selbstverteidigungskräfte. Im Jahre 1967 verkündete das Land drei „nicht-nukleare Prinzipien“: keine Atomwaffenproduktion, kein Atomwaffenbesitz, keine Atomwaffen auf japanischem Boden. 1970 verzichtete Japan dann völkerrechtlich verbindlich im Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag auf die Herstellung oder Erlangung von Atomwaffen.

Bruch des Atomwaffentabus

Doch Rufe nach Aufweichung der Verfassungsbestimmungen sind nicht neu. Schon im Jahre 2002 erklärte der damalige Regierungssekretär Yasuo Fukuda, die Verfassung würde den Besitz eigener Atomwaffen nicht untersagen. Gegenwärtig äußert sich Premierminister Abe zwar nur vage über Atomwaffen, aber bevor er 2006 erstmals dieses Amt innehatte, argumentierte er, dass die japanische Verfassung es dem Land erlaube Atomwaffen herzustellen, solange diese nur defensiven Charakter hätten. Hierin unterstützten ihn zahlreiche führende Persönlichkeiten seiner Partei. Die ehemaligen Minister Taro Aso und Schoitchi Nakagawa brachten das Thema Atomwaffen dann 2006 erneut zur Sprache, als Aso Mitglied in Abes Regierung war und Nakagawa den Vorsitz im Policy Research Council der LDP innehatte. Abe weigerte sich Asos und Nakagawas Äußerungen über Nuklearwaffen zurückzuweisen. Aber die LDP ist nicht die einzige Kraft innerhalb der herrschenden japanischen Elite, die erwägt, das Land von seiner sogenannten „nuklearen Allergie“ zu befreien. Itschiro Osawa – Führer der drittgrößten Partei im Parlament Seikatsu no Tō („Partei des Lebens“) – fordert, Japan sollte den Bau von Atomwaffen in Erwägung ziehen, um sich der „exzessiven Expansion“ Chinas entgegenzustellen.

Medienberichten zufolge soll die Regierung eine geheime Studie in Auftrag gegeben haben, die Japans militärisch-nukleare Option untersuchen und bewerten sollte. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass es wenigstens drei Jahre dauern und 20 bis 30 Milliarden Yen kosten würde, um einen begrenzten Bestand an taktischen Atomwaffen herzustellen. Die meisten Experten schätzen aber, dass Japan auf Grund des hohen technologischen Entwicklungsstandes für den Bau einer Bombe weniger als zwei Jahre benötigt würde. Japan verfügt zurzeit schätzungsweise über 1 200 bis 1 400 kg Uran und über 40 Tonnen Plutonium. Das würde zum Bau von mehreren hundert nuklearen Sprengköpfen ausreichen.

Das Raketenprogramm

Japan verfügt bereits jetzt über Technologien zur Entwicklung ballistischer Raketen, die aber nur zu friedlichen Zwecken eingesetzt werden wie beispielsweise zur Beförderung japanische Satelliten ins Weltall. Aber bereits in den frühen 2000er-Jahren hatten die japanischen Militärs wegen der sich zuspitzenden Konflikte auf der Korea-Halbinsel und der Befürchtung eines nordkoreanischen Raketenangriffs versucht, Boden-Boden-Raketen mit einer Reichweite von 300 km zu bauen. Doch damals scheiterte das Projekt an der Komeito-Partei, die auch weiterhin der Regierungskoalition angehört.

Wie die japanische Zeitung „Sankei Shimbun“ meldet, strebt das japanische Verteidigungsministerium unter Führung von Itsunori Onodera jetzt die Entwicklung eigener ballistischer Raketen mit einer Reichweite von 400 bis 500 km an. Angeblich sollen diese Waffen dem Schutz der umstrittenen Senkaku-Inseln dienen. Laut der Zeitung sollen die geplanten ballistischen Raketen auf der südlichen japanischen Insel Okinawa zur Verhinderung einer chinesischen Invasion stationiert werden. Bisher besitzt Japan weder Offensivwaffen großer Reichweite noch Bombenflugzeuge oder Flugzeugträger.

Laut dem Projekt werden die neuen Raketen die 500-km-Strecke innerhalb von rund 50 Minuten zurücklegen. Das Verteidigungsministerium hatte ursprünglich sogar vor, bis 2016 mit der Entwicklung eigener ballistischer Raketen großer Reichweite zu beginnen. In der Regierungskoalition gab es allerdings Einwände, solche Entwicklungsarbeiten könnten dem Artikel 9 der Verfassung widersprechen. Daher musste der Plan zunächst auf Eis gelegt werden.

Dennoch bemüht sich Tokio um eine neue Militärstrategie, nicht zuletzt wegen der wachsenden Spannungen zwischen den beiden koreanischen Staaten. So forderte LDPD-Generalsekretär und früherer Verteidigungsminister Shigeru Ishiba neue Waffen für Präventivschläge. „Es wäre zu spät, eine Antwort zu geben, nachdem Nordkorea seine Raketen abgefeuert hat und Tausende Menschen gestorben sind“, warnte er. Mindestens so wichtig dürften aber die jüngsten Verschiebungen der generellen Kräfteverhältnisse in der Pazifikregion sein. Lange war Japan auch ohne militärische Macht die dominante Nation in Asien. Seit aber China zur zweitgrößten Ökonomie der Welt aufgerückt ist und alte Territorialkonflikte wieder aufflammen, fordern einflussreiche Kräfte verstärkt, dass Japans militärische Fähigkeiten und das Recht dazu dringend ausgebaut werde müssten.

Kettenglied einer regionalen Raketenabwehr

Auch bei der Raketenabwehr wird Tokio gemeinsam mit Washington aktiv, nachdem Nordkorea, das über mehrere nukleare Sprengsätze verfügt, damit gedroht hat, dass seine Waffensysteme Japan erreichen können. So hatte die nordkoreanische Zeitung „Nodong Sinmun“ - Organ des ZK der Partei der Arbeit Koreas - bereits im März gewarnt, dass die vorderen US-Basen in den japanischen Städten Misawa und Yokosuka sowie auf Okinawa im Wirkungsbereich der nordkoreanischen Waffen liegen. Außerdem hatte Pjöngjang den USA mit Raketenschlägen gegen ihre Festlandgebiete, die Hawaii-Inseln und die Insel Guam gedroht.

Bereits jetzt besitzt Japan sechs mit dem Raketen-Abwehrsystem „Aegis“ ausgerüstete Zerstörer, zwei weitere sollen in den nächsten Jahren hinzukommen. Das Pentagon beabsichtigt darüber hinaus, in der asiatisch-pazifischen Region zusätzliche Mittel des Frühwarnsystems zu stationieren, schreibt die Zeitung „Wall Street Journal“. Wie Quellen im US-Verteidigungsministerium der Zeitung mitteilten, handele es sich um die Stationierung eines starken Radars des X-Band-Bereiches. Gegenwärtig führen Vertreter des Pentagon Verhandlungen mit der japanischen Seite. Im Jahr 2006 hatte das US-Militär bereits eine Einrichtung des gleichen Typs in der Präfektur Aomori in Nordjapan aufgestellt.

Nach Expertenmeinung sind X-Radare sehr leistungsstarke Anlagen, und angesichts von Japans langgestreckter Topografie wäre es durchaus sinnvoll, eine zweite Anlage im Süden zu bauen. Technisch könne der Radar nicht nur Raketen, sondern auch Flugzeuge und Schiffe erkennen. Auch wenn die japanischen Streitkräfte bereits heute einen akkuraten Überblick über die Position chinesischer Schiffe im Ostchinesischen Meer haben, könnte sich Peking durch den neuen Radar in seiner Bewegungsfreiheit observiert fühlen.

Zeitungsberichten zufolge kann der Radar innerhalb von einigen Monaten nach dem Abschluss eines Vertrages mit Tokio aufgestellt werden. In diesem Fall wird der Radar zu einem zusätzlichen Kettenglied der bereits bestehenden Raketenabwehr in der Region werden. Der X-Radar soll an einem noch zu bestimmenden Ort im Süden Japans erstellt werden und so die bestehende Anlage im Norden der Hauptinsel Honshu ergänzen. Laut der amerikanischen Militärzeitung „Stars and Stripes“ kann in Kombination mit Radaren auf amerikanischen Kriegsschiffen dann künftig ein deutlich größeres Gebiet abgedeckt werden.

Aus dem US-Verteidigungsministerium verlautete, dass das Raketenprogramm Nordkoreas als Hauptbedrohung in der Region gilt. „Nordkorea stellt eine aktuelle Bedrohung dar, die unsere Entscheidungen auf dem Gebiet der Raketenabwehr unmittelbar beeinflusst“, verkündet Pentagon-Sprecher George Little. Zugleich meinen Beobachter, eine viel größere Beunruhigung des US-Militärs löse das wachsende Raketenarsenal Chinas aus. Die Ankündigung des Baus der Anlage fällt mitten in eine Zeit, wo die chinesisch-japanischen Beziehungen aufgrund des Konflikts um die Senkaku-Inseln ohnehin äußerst angespannt sind.

Berichten zufolge prüft die US-Agentur für Raketenabwehr gegenwärtig die Möglichkeit für die Stationierung eines dritten X-Band-Radars in Südostasien. Zeitungsangaben zufolge können die Philippinen als Stationierungsort des Radars ausgewählt werden. Damit soll einen „Raketenabwehrbogen“ geschaffen werden, der es ermöglichen würde, die Starts von ballistischen Raketen aus Nordkorea und einigen Gebieten Chinas präziser zu überwachen.

Verfassung Japans, Art. 9:

1. In aufrichtigem Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für alle Zeiten auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Ausübung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Streitigkeiten.

2. Um das Ziel des vorhergehenden Absatzes zu erreichen, werden keine Land-, See- und Luftstreitkräfte oder sonstige Kriegsmittel unterhalten. Ein Recht des Staates zur Kriegsführung wird nicht anerkannt.

Quelle: Offizielle Übersetzung der japanischen Regierung


Abwehrsystem „Aegis“

Das Raketenabwehrsystem „Aegis“ dient dem Erkennen, Abfangen und Zerstören anfliegender feindlicher Raketen. Entwickelt wurde das System ursprünglich zum Schutz von Kriegsschiffen, wird inzwischen aber auch für eine umfassendere Raketenabwehr eingesetzt. Die neuste „Aegis“-Variante ist mit Abwehrraketen vom Typ SM-3 ausgerüstet. Sie besitzen keinen Sprengkopf, sondern treffen ihr Ziel punktgenau im Flug, so dass allein die Wucht des Aufpralls ausreicht, um das Objekt zu zerstören.



* Dieser Beitrag erschien - gekürzt - in: neues deutschland, Dienstag, 6. August, 2013


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