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Japan schaltet vorerst ab

Am Samstag wurde im Land der aufgehenden Sonne der letzte Reaktor zur Revision vom Netz genommen. Offensichtlich geht es auch ohne Atomstrom

Von Wolfgang Pomrehn *

Japan ist seit dem Wochenende ganz ohne Atomstrom. Am Samstag nachmittag wurde auf seiner nördlichen Hauptinsel Hokkaido der Reaktor Tomari 3 zur Revision heruntergefahren. Der Vorgang war seit vielen Wochen geplant und insofern wenig spektakulär, dennoch hat er besonderen symbolischen Wert. Bis Anfang März liefen in dem Inselstaat 54 Reaktoren, die 2010 nach unterschiedlichen Angaben 27 bis 34 Prozent des verbrauchten Stroms lieferten.

Nach dem schweren Erdbeben vor der Küste der ostjapanischen Tohoku-Region vom 11. März 2011 waren vier Reaktoren im Kernkraftwerk Fukushima-Daiichi schwer beschädigt worden. Eine Reihe weiterer AKW wurde abgeschaltet. Um der Unruhe in der Bevölkerung zu begegnen, wurde für alle Reaktoren ein sogenannter Streßtest angeordnet und zunächst keiner nach den routinemäßig anstehenden Inspektionen und Brennelementewechseln wieder in Betrieb genommen. Rund 20 Meiler hatten am 11. März ohnehin bereits stillgestanden.

In Fukushima mußten derweil Zehntausende Anwohner ihre Häuser verlassen, weil das Gebiet aufgrund der ausgetretenen Radioaktivität unbewohnbar geworden ist. Ein Teil ist inzwischen zurückgekehrt, aber japanische Umweltschützer und AKW-Gegner werfen der Regierung vor, die Gefahren zu verharmlosen und Datenerhebungen zu manipulieren. Der japanische Journalist Takashi Uesugi berichtete kürzlich auf einer Rundreise durch verschiedene deutsche Städte, daß die Messungen in der Präfektur Fukushima über Gelände erfolgen, von dem der radioaktiv belastete Boden bereits entfernt wurde. Entsprechend seien die in den Zeitungen veröffentlichten Werte deutlich niedriger, als jene, die er und andere mit ihren privaten Geigerzählern ermitteln.

Uesugi berichtet auch, daß Ärzten aus der Präfektur verboten wurde, systematische Blutuntersuchungen an ihren Patienten durchzuführen, weil dies die Bevölkerung verunsichern könne. Es gebe Berichte von einer Zunahme von Schilddrüsenfunktionsstörungen, ein deutlicher Hinweis auf zu hohe radioaktive Belastung. Bei Kindern werde häufiger Nasenbluten festgestellt.

Publizisten, die über derlei schreiben und sprechen, ergeht es schlecht. Uesugi selbst ist ein populärer Fernsehjournalist, der bis zum März letzten Jahres eine eigene Sendung hatte. Doch als er vier Tage nach dem Beginn der Reaktorkatastrophe in Fukushima in einer Livesendung berichtete, daß im Reaktor 3 Radioaktivität austritt, war es damit vorbei. Sein Sender setzte ihn vor die Tür. Wie ihm sei es auch einer ganzen Reihe weiterer Kollegen ergangen.

Dennoch hat sich die Stimmung in der Bevölkerung gewandelt. Vor der Reaktorkatastrophe hatte Japan ein Programm zum Ausbau der Atomwirtschaft. Erneuerbare Energieträger wie etwa die Sonne wurden vernachlässigt, und die einstige führende Rolle, die das Land bei der Produktion von Solarzellen hatte, wurde verspielt. Ähnlich wie in Deutschland hat die Regierungspartei nach der Reaktorkatastrophe nicht tatsächlich ihre Meinung geändert. Der atomkritische Premierminister Naoto Kan wurde sogar abgelöst, weil er sich nach Fukushima in Sachen Ausstieg aus der Kernkraftnutzung zu sehr aus dem Fenster gelehnt hatte.

Dennoch ist an AKW-Neubauten nicht mehr zu denken, und auch die Wiederinbetriebnahme der bestehenden Meiler gestaltet sich schwierig. Die muß nämlich von den Behörden in der jeweils betroffenen Präfektur genehmigt werden – und die trauen sich angesichts des Widerstandes in der Bevölkerung nicht recht. Die Regierung wollte zum Beispiel eigentlich bereits Ende März, daß die Reaktoren Oi 3 und 4 an Japans Westküste, aber auch in relativer Nähe zu Tokio, wieder angefahren werden, um den jetzt eingetretenen symbolträchtigen Zustand ohne Atomstrom zu verhindern. Doch die Präfektur hat sich geweigert. Eine Ende April durchgeführte landesweite Umfrage zeigte, daß knapp 60 Prozent der Japaner gegen die Wiederinbetriebnahmen im AKW Oi sind und nur 27 Prozent sie befürworten.

Entsprechend haben am Samstag in Tokio mehrere tausend Demonstranten das Abschalten des letzten Reaktors gefeiert. Das Land hatte im vergangenen Jahr die größten Anti-AKW-Demonstrationen seiner Geschichte erlebt. Derzeit laufen verschiedene Petitionen, mit denen auf regionaler und auf nationaler Ebene der Atomausstieg vorangebracht werden soll.

Regierung und Kraftwerksbetreiber versuchen derweil, das Schreckgespenst der Netzzusammenbrüche und Stromsperren an die Wand zu malen, doch das ist, wie ähnliche hiesige Kampagnen, größtenteils Propaganda. Der japanische Stromverbrauch ist 2011 gegenüber dem Vorjahr um rund fünf Prozent zurückgegangen, womit er umgerechnet auf die Bevölkerungszahl noch immer über dem deutschen Niveau liegt. Es gibt also noch erhebliche Einsparpotentiale, worauf die japanischen AKW-Gegner gern verweisen. Die AKW sind zu einem erheblichen Teil durch Kohle-, Gas und Dieselkraftwerke ersetzt worden, die zum Teil wieder in Betrieb genommen werden mußten. Strom aus Windkraft- und Solaranlagen spielt im Vergleich zu Ländern wie Dänemark, Portugal oder Deutschland bisher kaum eine Rolle. Allerdings hatte der Neubau von Photovoltaikanlagen bereits 2010 an Fahrt aufgenommen und die Solarstromausbeute erstmals die Grenze von einem Gigawatt (GW, grob gerechnet die Leistung eines Atomreaktors) überschritten. 2011 dürfte der Wert schon bei 1,5 GW gelegen haben. Und ab dem Sommer soll es auch eine Förderung geben, die sich an die deutschen Regelungen anlehnt.

* Aus: junge Welt, Montag, 7. Mai 2012


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