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Jamaikas afrikanisches Erbe ist lebendig

Fi Wi Sinting Festival krönt alljährlich den Black History Month auf der Karibikinsel

Von Martin Ling *

Mehr als 90 Prozent aller Jamaikaner haben afrikanische Wurzeln. Das politische System ist indes dem Westminster-Modell des einstigen Kolonialherren England entlehnt. Die Rastafari-Bewegung fordert seit ihren Anfängen zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Rückbesinnung auf afrikanische Traditionen. Beim Fi Wi Sinting Festival in Portland im Nordosten Jamaikas werden sie seit 1990 bei wachsendem Zuschauerinteresse gepflegt – im jamaikanischen Alltag sind sie eine Randerscheinung.

One Love. Nicht selten wird die Rastafari-Bewegung mit diesem Friede-Freude-Eierkuchen-Slogan gleichgesetzt. Schließlich ist der gleichnamige Song von Bob Marley von der BBC zum Lied des 20. Jahrhunderts gekürt worden und wer, wenn nicht Bob Marley, steht global für Rastafari.

»Mit Bob Marley und Reggae begann der Niedergang von Rastafari«, sagt Pauline »Sista P« Petinaud, eine der prominentesten Frauen in der Bewegung. Das ist keineswegs als persönlicher Vorwurf auf die Reggae-Ikone gemünzt als vielmehr darauf, dass die Rastafari-Bewegung zuvorderst als eine Bewegung von Freiheitskämpfern zur Befreiung der Afrikaner von realer und mentaler Sklaverei angetreten ist – für gleiche Rechte und Gerechtigkeit. Für diese Inhalte steht das 1990 von Sista P. aus der Taufe gehobene Fi Wi Sinting Festival. Fi Wi Sinting steht im jamaikanischen Patois für »Es gehört zu uns« und spielt auf das afrikanische Erbe Jamaikas an.

Kampf allen Unterdrückern

Getreu dem Motto des jamaikanischen Freiheitskämpfers Marcus Mosiah Garvey (»Wenn Du nicht weißt, woher Du kommst, dann weißt Du auch nicht, wohin Du gehst«) wird mit dem Festival die Erinnerung an das afrikanische Erbe wachgehalten und das Bewusstsein dafür geschärft. Schwarzen und weißen Unterdrückern wird dabei gleichermaßen der Kampf angesagt – »mit allen erforderlichen Mitteln«. Diese Parole des US-amerikanischen Freiheitskämpfers Malcolm X ist den Rastafaris bestens vertraut und Malcolm X gilt ihnen als einer der ihren. Schließlich haben sich auch die Vorfahren der schwarzen Jamaikaner mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen das unvergessene Verbrechen der Sklaverei gewehrt: Millionen erlitten durch die Versklavung unermessliches Leid und die Postsklavereigesellschaft ist weit entfernt von gleichen Rechten und Gerechtigkeit. Bescheidene Reparationen haben bisher nur die Ma-roons erhalten, die Nachkommen einst entlaufener Sklaven, die aus den Bergen Jamaikas den Engländern, die 1655 die Spanier vertrieben, schwer zusetzten. Erst der Friedensvertrag von 1739 verschaffte den Kolonialherren relative Ruhe und den Maroons ein Ende des Lebens auf der Flucht.

Und so finden sich auf den zahlreichen Bücherständen auf dem malerischen Gelände an den Somerset Wasserfällen Bücher über den Freiheitskampf der Maroons nebst Biografien von Malcom X bis hin zu Barack Obama. Ist Barack Obama etwa ein verkappter Rastafari, frage ich die Buchhändlerin? Nein, aber er hat zweifellos schwarzes Bewusstsein, er weiß um die afrikanische Geschichte, er weiß um die Diskriminierung Schwarzer in den USA und darüber hinaus, antwortet die Rastafrau überzeugt. Barack Obama ist auch für viele Rastafaris und Jamaikaner ein Hoffnungsträger, auch wenn den meisten durchaus klar ist, dass dem Menschen Barack Obama vom System enge politische Grenzen gesetzt werden.

Die weiße US-Amerikanerin und regelmäßige Festival-Besucherin Patsy Crocker kennt Barack Obama aus seinen Zeiten als Community Worker in Chicago persönlich, auch wenn sie in unterschiedlichen Ecken der Stadt tätig waren. An seiner persönlichen Integrität und an seiner Intelligenz hat sie keine Zweifel. Aber er ist nun Teil des Systems und die große Frage sei, wie nachgiebig er sein werde, wie viele Kompromisse er eingehen müsse. Seine Ideen umzusetzen, sei gleichermaßen eine große Herausforderung wie ein spannendes Experiment, blickt sie nichtsdestotrotz erwartungsvoll in die Zukunft.

Geld sammeln für die Rasta-Grundschule

Auch wenn die Rastafaris unter den Besuchern stark repräsentiert waren, weitaus stärker als mit den fünf Prozent, auf die ihr Anteil an der jamaikanischen Gesellschaft grob geschätzt wird, ist Fi Wi Sinting kein explizites Rastafari- sondern ausdrücklich ein Afrika-Festival, das 1990 als Fundraiser für die Content Model School gestartet wurde, einer an afrikanischen Inhalten orientierten privaten Rasta-Grundschule in den Bergen von Portland. Die dortige Trommelgruppe wurde in den neunziger Jahren ob ihrer virtuosen Künste zwei Mal von der Harlem School of Arts nach New York eingeladen. 30 Besucher kamen damals, nun waren es rund 3000 an den Somerset Falls, wo das Festival nach mehreren Standortwechseln 2009 erstmals stattfand. Damit ist Fi Wi Sinting die größte Veranstaltung des Black History Months, der alljährlich im Februar stattfindet. Und während der gleichzeitig von der Regierung veranstaltete Reggae Month 2009 wegen der Wirtschaftskrise nur auf Sparflamme läuft, erfreut sich Fi Wi Sinting weiter wachsenden Zulaufs. Zur Freude von Sista P., die darin die Philosophie Marcus Garveys bestätigt sieht, sich niemals in staatliche Abhängigkeit zu begeben.

Das Interesse an Afrika ist generationenübergreifend: Aus allen Colleges und der Universität der West Indies kommen Delegationen, erzählt Sista P. stolz über die Verankerung des Festivals im Bildungssektor. Geboten wird ohnehin für alle etwas: Die Kleinen lauschen gebannt den Geschichten beim Story Telling, wo Ananzi im Mittelpunkt steht. Ananzi ist ein Spinnengott in der Götterwelt der westafrikanischen Akanvölker, der sich in Gefahrensituationen in eine Spinne verwandeln konnte und sich durch »List und Schlauheit« gegen weitaus Stärkere durchsetzen kann. Die spannenden Geschichten über die kleine Spinne, die sich mit allen erdenklichen Tricks gegen Löwen, Schlangen und Elefanten durchsetzt, entsprechen dem Lebensgefühl aus der Sklaverei ebenso wie dem eines Großteils der heutigen Bevölkerung, das sich im täglichen Überlebenskampf zu behaupten hat.

Schöpfen aus dem Erbe für eine gute Zukunft

Auch wenn die Anfänge der Sklaverei Jahrhunderte zurückliegen – sie sind im Bewusst- und Unterbewusstsein bis heute präsent. Nahezu panisch und mit Angstschreien flüchtet eine junge Frau vor einem Maskentänzer einer Trommelgruppe, der sich einen Spaß daraus macht, ihr immer wieder nachzusetzen. Scheinbar echte Angst, obwohl es offensichtlich nur ein Spiel ist, die Sonne scheint, Dutzende Menschen das Schauspiel belustigt verfolgen und keinerlei objektive Gefahr besteht.

Die Tanzperformance auf der Hauptbühne über die Geschichte der Sklaverei wird hingegen von Jugendlichen immer wieder mit amüsiertem Gelächter quittiert, die die extrovertierte schauspielerische Darstellung von Sklaventreiber und Sklaven goutieren. Beklemmung, die die Beschäftigung mit diesem düsteren Kapitel der Menschheit normalerweise auslöst, ist allenfalls bei manch älteren Zuschauern wahrnehmbar. Beklemmung ist aber auch nicht das, was die Auseinandersetzung mit dem afrikanischen Erbe bei den Besuchern auslösen soll. Der Blick zurück soll Wege in eine bessere Zukunft weisen, denn die Gegenwart in Jamaika ist bitter genug: Ein Viertel der Bevölkerung lebt in Elendssiedlungen und bei der Mordrate pro 100 000 Einwohner ist Jamaika weltweit führend. Ein Erbe von Sklaverei, Kolonialismus und Politikversagen. Fi Wi Sinting setzt ein Zeichen für gleiche Rechte und Gerechtigkeit dagegen – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

* Aus: Neues Deutschland, 7. März 2009


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