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Die Insel der Widerstandsfähigen

Jamaika feiert den 50. Jahrestag seiner Unabhängigkeit, zu Hause und in der Diaspora

Von Martin Ling *

Am 6. August 1962 errang Jamaika als erste der britischen Karibikinseln die formale Unabhängigkeit vom Vereinten Königreich. Die Beziehungen zum »Mutterland« sind bis heute ambivalent. Das hält die Jamaikaner jedoch weder in Großbritannien und schon gar nicht auf der Karibikinsel oder in der Diaspora wie in Berlin davon ab, das Jubiläum gebührend zu feiern.

Selbst der Zeitplan von Olympia scheint sich an Jamaikas Unabhängigkeitsdatum zu orientieren. Just für den Vorabend des 50. Jahrestages am 6. August wurde einer der Höhepunkte der Londoner Spiele angesetzt: Der 100-Meter- Lauf der Männer mit Titelverteidiger Usain Bolt und Weltmeister Yohan Blake (nach Redaktionsschluss) vor Tausenden Exil- Jamaikanern im Stadion. Tags zuvor versetzte der 100-Meter-Lauf der Frauen die Jamaikaner und Jamaikanerinnen zu Hause und im Ausland in gespannte Erwartung. Allein in New York, Toronto und London leben 2,5 Millionen Jamaikanisch- Stämmige – annähernd so viele wie auf der Insel selbst, wo sich rund 2,8 Millionen tummeln. Fünf Millionen insgesamt verteilen sich in den Diaspora- Gemeinden über den Globus. In Berlin sind es gut 250. Einer von ihnen ist David Riley, der vor 18 Monaten aus London mit seiner deutschen Frau Amely nach Berlin zog.

Das Motto: Aus vielen Völkern, ein Volk

Riley hat seine Rückreise per Bahn vom Reggae Jam-Festival im niedersächsischen Bersenbrück so geplant, dass er den 100-Meter- Endlauf nicht verpasst. Dafür verpasst der 46-Jährige die Auftritte von Mighty Diamonds und Namensvetter Tarrus Riley, die zu seinen musikalischen Favoriten gehören – im Gegensatz zu Heavy Metal, für den er beruflich bei einem Label zuständig ist.

»Schade, aber nicht zu ändern «, erzählt er gut gelaunt im Yaam, dem direkt an der East Side Gallery gelegenen Club inklusive Strandbar mit Spreeblick. »Das Yaam ist einzigartig. Es gibt keine Location in London, die damit vergleichbar wäre. In keinen Club in London bin ich so regelmäßig gegangen wie hier ins Yaam«, erzählt er begeistert. Was Riley so besonders fasziniert: »In London sind die Communities so groß, dass sie unter sich bleiben, die Jamaicaner machen ihr Ding, die Ghanaer ihrs und die Nigerianer auch. In Berlin sind die Communities dafür zu klein, sodass alle mit afrikanischen Wurzeln sich zusammenfinden – ergänzt durch alle, die sich für jamaikanische Musik und Kultur begeistern.« Gilt im multiethnischen Jamaika seit 1962 offiziell das Motto »Out of many, one people (Aus vielen Völkern, ein Volk), so trifft auf das Yaam das Motto »Aus vielen Völkern, ein Club« fraglos zu. Einheimische, Zugewanderte und Touristen aus aller Welt treffen sich in der selbst ernannten »Freien Republik Yaamaica « zum chillen und tanzen. Dass Mediaspree, eines der größten Investorenprojekte Berlins, den Pachtvertrag des Yaam jederzeit kündigen kann, tut der Stimmung noch keinen Abbruch.

Olympia ist dort kein Thema. Mit einer Ausnahme: Der 100-Meter- Lauf der Männer, der am Sonntag live auf Großbildschirm übertragen wird. Die absolute Hochspannung wird keine zehn Sekunden dauern. Sie entlädt sich im Yaam ähnlich wie üblicherweise an der zentralen Straßenkreuzung Half Way Tree in Kingston – in einem langgezogenen ekstatischen Kreischen. In Half Way Tree versammeln sich bei Großereignissen wie Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen viele Tausend Menschen mitten auf der Straße, um auf eine Großleinwand zu schauen und die heimischen Athleten anzufeuern – kein Problem, da der Verkehr eh stillsteht.

Unabhängig von den Erfolgen bei Olympia wird in Jamaika derzeit ein langes Wochenende gefeiert. Schließlich steht am heutigen Montag mit dem 50. Jahrestag der Unabhängigkeit ein Jubiläum an. Für viele jamaikanische Haushalte und Autofahrer ist das ein Grund, ihr Anwesen oder den Wagen mit der Nationalflagge zu schmücken, dem von grünen und schwarzen Dreiecken eingefassten gelben Andreaskreuz. Grün ist das Symbol für die Hoffnung und die Landwirtschaft, Gelb (Gold) das für das Sonnenlicht und die Naturschätze und Schwarz das für Probleme und Bedrängnisse der Vergangenheit und der Gegenwart. Und an letzteren fehlt es wahrlich nicht.

Das größte Problem sei die ausufernde Gewaltkriminalität. Da sind sich David Riley und der Schauspieler und Autor Errol Shaker beim Treffen mit dem »nd«- Redakteur im jamaikanischen Bistro Ya-Man in Moabit einig, und einig sind sie sich selten, zumal Jamaikaner Streitkultur schätzen. Während der ebenfalls aus London nach Berlin migrierte Shaker kein Problem mit öffentlichen Überwachungskameras an allen Orten hat, sieht Riley für sich einen großen Berliner »Standortvorteil« darin, »nicht jeden Tag 300 Mal gefilmt zu werden wie in London«. Dass Überwachungskameras in Jamaika die Gewalt eindämmen könnten, wagt aber auch der 62- jährige Shaker nicht zu behaupten. 2010 hatte die Karibikinsel mit 1700 Morden eine der relativ höchsten Raten der Welt. Seitdem sinken die offiziellen Zahlen beträchtlich. Gleichzeitig beklagen jedoch Menschenrechtsorganisationen eine Zunahme der extralegalen Tötungen durch Sicherheitskräfte, seit sie in den Gettos »aufräumen«. Ohnehin steht die jamaikanische Polizei in dem Ruf, erst zu schießen und dann zu fragen.

Jedem Schulkind auf der Insel sind die engen Verbindungen zwischen den Gunmen (Gewehrmännern) und den politischen Parteien bekannt. Die Grenzen zwischen den Gunmen der Parteien und den Mitgliedern von Drogenbanden sind wiederum fließend und so ist ein schnelles Ende der auch von der sozialen Ungleichheit beförderten Gewaltkultur nicht in Sicht.

»Entwicklung ist ein langwieriger Prozess. Die Erwartungen 1962 waren idealistisch und unrealistisch «, meint Shaker. »Es bedarf viel Zeit, funktionierende Institutionen aufzubauen, die die sogenannte Gute Regierungsführung gewährleisten können«, mahnt Shaker zu Realismus. Funktionierende Institutionen wie in Großbritannien fügt er hinzu und erntet heftigen Widerspruch von Riley. Jamaikas Problem sei, dass es sich nie wirklich von Großbritannien emanzipiert hätte. »Die Queen profitiert noch immer von der Sklaverei«, sieht er die Folgen des Dreieckshandels, der in Jamaika mit der Landung von Christopher Kolumbus 1494 seinen Ausgang nahm, noch immer nicht überwunden. Jamaika sei nach wie vor Rohstofflieferant, die Versuche unter Michael Manley in der Ära des Demokratischen Sozialismus (1974-1980), die Wirtschaft auf ein breiteres Fundament zu stellen, seien von den USA und Großbritannien gemeinsam mit den multinationalen Unternehmen hintertrieben worden, hegt Riley keine Zweifel an der Kontinuität der kolonialen Weltordnung.

Das kämpferische Erbe der Maroons

Die Queen ist nach wie vor das offizielle Staatsoberhaupt Jamaikas, auch wenn Premierministerin Portia Simpson bei ihrem Amtsantritt im Februar ankündigte, das alsbald ändern zu wollen. Zustimmung findet sie dabei sowohl auf der Insel als auch bei den Auslandsjamaikanern: Denn dass Bob Marley in seinem Redemption- Song den Kern traf, darin sind sich selbst Riley und Shaker wieder einig: Die mentale Sklaverei muss überwunden werden und niemand außer den Jamaikanern selbst könnte das schaffen.

Aufbauen könnten sie auf einer Kultur des Widerstands, die sich von den Siedlungen der entlaufenen Sklaven, der Maroons, bis in die Gegenwart ziehe, wenn zuweilen das ganze Land mit Straßenblockaden lahmgelegt wird, um die Politiker zum Handeln zu bewegen. Auf die Widerstandsfähigkeit sind Shaker und Riley besonders stolz. Jamaikaner lassen sich nicht unterkriegen und bleiben optimistisch. Deswegen wird allem Unbill zum Trotz gefeiert: Am Montagabend lädt die Botschaft in Berlin alle Landsleute zum Unabhängigkeitsdinner und am Freitag steigt eine Party mit Live-Musik im Ya-Man, wo wie immer landestypische Gerichte und Cocktails angeboten werden. Selbstverständlich offen für alle, worauf die seit 1978 in Berlin lebende Barbara Saltman besonders Wert legt. Denn Jamaika hat aus der Notwendigkeit der Migration eine Tugend gemacht: Weltoffenheit auf der Insel und in der Diaspora.

* Aus: neues deutschland, Montag, 6. August 2012


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