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Rebellion der unsichtbaren Sklaven

Migrantische Landarbeiter in Italien beginnen mit Streiks für ihre Rechte zu Kämpfen

Von Anna Maldini *

Sie werden wie Skaven behandelt. Doch nun fangen Italiens migrantische Landarbeiter an, sich zu wehren.

In Italien arbeiten etwa 100 000 Landarbeiter, die fast wie Sklaven gehalten werden. Oft sind sie illegal im Land und damit »unsichtbar«. Das nutzen skrupellose Unternehmer aus, um ihnen einen Hungerlohn zu zahlen und sie menschenunwürdig zu behandeln. Doch immer häufiger rebellieren diese »neuen Sklaven«.

»Ab heute arbeiten die Marokkaner nicht mehr hier!« Vor einigen Tagen konnte man diesen handgeschriebenen Zettel am Tor eines Landwirtschaftsbetriebes in Castelnuovo Scrivia im norditalienischen Piemont lesen. »Die Marokkaner« sind 40 Menschen - darunter 10 Frauen - die in einem der größten Betriebe der Gegend gearbeitet haben. Ihr Stundenlohn lag anfänglich bei fünf Euro und wurde dann willkürlich auf vier Euro gedrückt. Neun Euro pro Stunde ist der von den Gewerkschaften ausgehandelte Mindestlohn. Die Arbeitszeiten: Etwa 300 Stunden pro Monat, jeden Tag von 6 Uhr morgens bis zum Sonnenuntergang mit einer kurzen Mittagspause. Arbeitsverträge gab es keine und natürlich auch keinen Schutz bei Krankheiten oder Unfällen.

2000 Euro für einen Arbeitsvertrag

»Die Menschen wurden noch nicht einmal mit ihrem Namen angesprochen«, sagt der Gewerkschafter Antonio Olivieri. »Man nannte sie Bin Laden, Schleiereule oder auch Buff - so wie der Hund des Besitzers.« Als der Lohn dann nicht mehr regelmäßig kam, sondern nur ab und zu mal »Anzahlungen« von 150 oder 300 Euro geleistet wurden, und der Arbeitgeber 2000 Euro als »Bearbeitungsgebühr« für einen Arbeitsvertrag und eine Arbeitserlaubnis verlangte, beschlossen »die Marokkaner«, sich all das nicht mehr gefallen zu lassen.

Mit Hilfe der Landarbeitergewerkschaft Flai-CGIL organisierten sie einen Streik und eine Demonstration in der Provinzhauptstadt Alessandria. Die Behörden schickten einen Kontrolleur, der bescheinigte, dass im Betrieb, der Obst und Gemüse an einige große Supermärkte liefert, die Arbeiter »wie Sklaven« gehalten werden. Die Justiz leitete eine Ermittlung wegen »Sklavenhaltung« ein und nach langen Verhandlungen mit den Arbeitern erklärte sich der Besitzer Bruno Lazzaro bereit, die menschenunwürdigen Zustände abzuschaffen.

Tatsächlich aber änderte sich gar nichts - weder die Bezahlung noch die Behandlung. Nach einem neuen Protest stand dann das Schild »Die Marokkaner arbeiten nicht mehr hier!« am Tor des Betriebes. Jetzt hat Herr Lazzaro auch eine Anzeige wegen Rassismus am Hals. Er rechtfertigte sich damit, dass die Supermärkte in der Krise weniger Produkte abnehmen - aber schnell stellte sich heraus, dass er einfach nur seine »aufmüpfigen« Landarbeiter loswerden wollte.

Seit einigen Tagen arbeiten auf den Feldern Inder, die zu einer so genannten Kooperative gehören und deswegen ihren Lohn nicht direkt vom Großbauern erhalten. »Die Bauern hier machen sich immer noch nicht klar«, sagt Gewerkschafter Olivieri, »dass sie ohne die Migranten selbst nicht überleben können.« Vielleicht würden ihnen Streiks und Anzeigen wegen Sklavenhaltung einen neuen Weg weisen.

3,50 Euro für 400 Kilo Tomaten

In den letzten Monaten ist es in Italien mehrmals zu organisierten Protesten der »neuen Sklaven« gekommen. Während es schon früher vereinzelt zu Rebellionen und Auseinandersetzungen kam, die nicht selten blutig endeten, scheint sich die Lage jetzt geändert zu haben. Im vergangenen Sommer streikten im süditalienischen Nardò die afrikanischen Tomatenpflücker. Organisiert wurde die Aktion unter anderem von Yvan Sagnet, einem jungen Mann aus dem Kamerun, der seit vier Jahren in Italien studiert und im Sommer auf den Feldern arbeitet: 3,50 Euro für jede Tomatenkiste, die jeweils 400 Kilo enthält. Davon kann ein erwachsener Mann sechs pro Tag schaffen. 21 Euro Lohn bringt das ein, wovon aber sogenannte Arbeitsvermittler noch mal fünf Euro abziehen.

Sagnet gelang das Unmögliche: Er überredete seine »Kollegen«, die alle unterschiedliche Sprachen und Dialekte sprechen, zu einem Streik und holte sich Rat und Hilfe bei Gewerkschaften und Anti-Rassismus-Aktivisten. Es gelang, die Angst der Landarbeiter zu überwinden: Die Angst, aus Italien ausgewiesen zu werden, die Angst vor den eigenen Landsleuten, die gemeinsame Sache mit den Ausbeutern machen, die Angst, nicht mehr für die Familien, sei es in Italien oder in den Heimatländern, sorgen zu können.

Langsam, sehr langsam gelingt es den Gewerkschaften, den Landarbeitern ihre Angst zu nehmen und ihnen klar zu machen, dass sie auch dann Rechte haben, wenn sie sich illegal in Italien aufhalten oder keine Arbeitserlaubnis haben. Trotzdem fürchten sie, dass Krise und Kriege in den kommenden Monaten immer mehr »neue Sklaven« nach Italien spülen werden.

* Aus: neues deutschland, Montag, 10. September 2012


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