Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Wahlk(r)ampf

Am heutigen Dienstag wird in Israel über die künftige Zusammensetzung der Knesset abgestimmt. Zu grundlegenden gesellschaftlichen Problemen schwiegen sich alle Parteien im Vorfeld aus

Von Moshe Zuckermann *

Am heutigen Dienstag finden in Israel die Parlamentswahlen statt. Hätte man mit dem Verfassen dieses Artikels nicht noch bis zum Wahlausgang warten können? Nun ja, man hätte, wenn man auf »Sensationen« von Wahlausgängen als solchen aus ist. Nach traditionellem demokratischen Verständnis ist der schiere Umstand, dass eine Wahl stattgefunden hat, Grund genug, auf ihren Ausgang gespannt zu sein. Man kann sich aber im Fall des gegenwärtigen Wahlgangs in Israel dessen durchaus enthalten, und zwar aus zweierlei Gründen. Zum einen ist das, was sich im Wahlkampf abgespielt hat, ungeachtet seines Ergebnisses, skandalös genug, um sich dem Zirkus der politischen Schlammschlachten der beteiligten Parteien zu widmen, wenn man schon auf Polemik um der Polemik willen erpicht ist. Zum anderen – damit zusammenhängend und doch auch gravierender – ist es letztlich unerheblich, wie die Wahl ausgeht: Am Grundproblem des israelischen Staates und der israelischen Gesellschaft werden ihre Ergebnisse ohnehin nichts ändern. Das darf jetzt schon prognostiziert werden, ohne dabei ein allzu großes Risiko einzugehen. Beides bedarf der Erörterung.

Allen Platzhaltern im israelischen politischen Diskurs ist klar – und dem hat man vor einigen Wochen beredten Ausdruck verliehen –, dass die vorgezogenen Wahlen, gemessen an der inhaltlichen Substanz, um welche es bei Wahlen zu gehen hätte, überflüssig sind; dass es keinen inhaltlich ernstzunehmenden Grund gegeben hat, die Wahlen vorzuziehen, wenn man die Ausrichtungsmatrix und die von ihr abgeleitete Wirkweise der scheidenden Regierung in Betracht zieht; vor allem aber, dass es dem Initiator der Regierungsauflösung und der Ausrufung der Neuwahlen, Israels Premierminister Benjamin Netanjahu, um nichts weiter ging (und geht) als um den Macht- und Herrschaftserhalt. Welche spezifischen Kalkulationen er dabei gehabt haben mag, ist unerheblich – man weiß ja, dass er in die Regierungskoalition mit Naftali Bennett und Yair Lapid, die er beide persönlich nicht ertragen kann, aus Not hineingezwungen worden ist. Man weiß auch, dass er ihnen ihre (inzwischen aufgelöste) politische »Verbrüderung«, die ihn in Zugzwang gebracht hatte, Bennett in seine Regierung (gegen den Willen von Frau Netanjahu) aufzunehmen, schwer nachtrug. Und doch ist dies letztlich unerheblich, wenn man die Ausrufung von Neuwahlen an strukturellen Notwendigkeiten und inhaltlichen Zwängen bemisst.

Entsprechend ist das, was sich im gerade ablaufenden Wahlkampf abspielt, nicht mehr als eine Farce. Netanjahu einerseits hat sein Lieblingsthema, die Warnung vor der Nuklearisierung des Iran, zum Wahlkampftopos erkoren und kostet dies bis hin zur provokativen, den US-Präsidenten in arge Verlegenheit bringenden, mithin die bilateralen Beziehungen zwischen Israel und den USA in die Krise stürzenden Rede vor dem amerikanischen Kongress weidlich aus, ohne dabei aber in Israel merklich zu punkten. Das von Yitzhak Herzog und Zipi Livni geführte »Zionistische Lager« andererseits lässt sich auf eine inhaltslose Kampagne ein, die sich darauf beschränkt, die Parteienfusion als zionistisch zu apostrophieren (mithin darauf zu insistieren, dass sie nicht vaterlandsverräterisch »antizionistisch« sei, wie die Likud-Propaganda zu suggerieren versucht), ansonsten aber zu postulieren, dass Netanjahus Wiederwahl um jeden Preis verhindert werden müsste. Und während die Siedlerpartei Naftali Bennetts sich rühmt, aufgehört zu haben, sich dafür zu entschuldigen, dass sie ihre rechtsradikalen Positionen stolz behauptet, ergeht sich der Führer der »Yesch Atid«-Partei, Yair Lapid, in Lobpreisung der eigenen erbrachten Leistungen in der jüngst aufgelösten Regierung. Leistungen, von denen jeder in Israel (außer seinen Wählern) weiß, dass sie nichts mit der Realität zu tun haben: Lapid war ausgezogen, die Wohnungspreise für den Mittelstand zu senken – sie sind während seiner Amtszeit erheblich angestiegen; er hatte den orthodoxen Juden den Kampf angesagt, wollte ihnen den Militärdienst aufoktroyieren – er selbst wird heute kaum noch daran glauben, etwas Ernstzunehmendes in dieser Sache bewerkstelligt zu haben. Und während der 1999 wegen Korruption zu einer Gefängnisstrafe verurteilte Führer der Schas-Partei, Arje Deri, sich der ressentimentgeladenen ethnischen und sozialen Belange der orthodoxen orientalischen Juden Israels angenommen hat, mithin die säkularen Intellektuellen orientalischer Provenienz dazu verleiten konnte, sich seiner orthodox-religiösen Partei anzuschließen, hat sich der von seiner Position verstoßene frühere Führer der Partei, Elijahu Yischai, mit den rassistisch-faschistischen Nachfolgern Meir Kahanes verbandelt. Damit überholt er von rechts selbst Bennett und Außenminister Avigdor Lieberman, der vorgeschlagen hat, die Köpfe von israelischen Arabern abzuschlagen. Eine Rhetorik wird dabei betrieben, die jenseits aller zivilgesellschaftlichen Debattennormen schon längst entglitten ist. Die Inhaltslosigkeit der Aussagen wird nur durch die unsägliche Perfidie der aggressiven Polemik getoppt. Ein Wahlkampf ist es, der sich relevanter Inhalte entschlagen hat, weshalb er denn mit umso deftigerer Vehemenz und giftiger Verve geführt wird.

Propagandistische Dürftigkeit

Denn Netanjahus Angstmache ist letztlich basislos: Wenn er wirklich der Meinung ist, dass Iran Israel in seiner Existenz bedrohe (was er seit Jahren behauptet), dann hätte er längst schon den Iran attackieren müssen. Glaubt er dies aber nicht, dann erhebt sich die gravierende Frage, warum er die Beziehungen zu den USA, Israels bedeutendsten Verbündeten, aufs Spiel setzt. Sollte er aber den Iran tatsächlich attackieren, würde das Israel in einen ruinösen Krieg stürzen, bei dem nicht ausgemacht ist, daß Israel ihn allzu lang durchzustehen vermag. Was soll dann also das hohle Gerede? Was soll das phrasenhafte Rumgetöne? Nun, es soll von den die israelische Gesellschaft real beutelnden Problemen ablenken; es soll die horrenden Defizite der abgetretenen Regierungskoalition verdecken. Und wenn Livni und Lapid erklären, Netanjahu gehöre abgewählt, dann erhebt sich die Frage, mit welchem Recht sie das tun – saßen sie doch beide als Minister in seiner Regierung. Sie säßen in ihr wohl heute noch, hätte Netanjahu diese Regierung nicht aus machttaktischen Erwägungen aufgelöst. Man mag sich auch fragen, was es mit Arje Deris plötzlich erwachtem Mitgefühl für seine arme, orientalisch-jüdische Klientel auf sich habe. Nun, es soll zunächst und vor allem seinen Rivalen Elijahu Yischai ausbooten. Um eine reale Sozialreform dürfte er sich herzlich wenig scheren, denn die Politik seiner Partei ist in den sozialen Belangen primär auf religiös motivierte paternalistische Wohltätigkeit ausgerichtet, nicht auf mutige Strukturveränderung, geschweige denn auf rigorose ökonomische Umverteilung.

Vieles ließe sich noch an propagandistischen Dürftigkeiten des schalen Wahlkampfs anführen, man kann es sich aber getrost schenken. Denn die sich zur Zeit in Israel abspielende Groteske hat nichts mit dem demokratisch-agonalen Spiel pluraler Interessen und heterogener Standpunkte zu tun, dessen man sich im israelischen Politdiskurs stets zu rühmen pflegt. Wenn sich der Wahlkampf der Opposition gegen Netanjahu auf eine Nur-nicht-Bibi-Kampagne beschränkt und die von der Likud-Wahlkampgne initiierte Verteufelung Zipi Livnis als einer »Linksradikalen« in einen Werbeslogan vom Schlage »Wählst du Herzog, kriegst du Livni« mündet, dann hat das viel mit millionenschwerer kulturindustrieller Profitmache der Werbestrategen und »Berater« der Parteien zu tun, nichts aber mit der Konfrontation dessen, was gemessen an den realen Zuständen der israelischen Gesellschaft und Politik auf der drängenden sachlichen Tagesordnung zu stehen hätte.

Aber selbst wenn man sich aufs Personelle beschränkt und die zur Wahl stehenden Alternativen für das Amt des Premierministers (und Bilder der Regierungskoalition) in Augenschein nimmt, darf man sich das Pathos der »Hoffnung« abschminken, mit welchem sich viele in der Anti-Bibi-Kampagne einzuseifen begonnen haben, seitdem die Prognosen der letzten Tage anzeigen, dass sich der Abstand zwischen Netanjahu und Herzog/Livni um zwei, drei Mandate vergrößert hat. Es ist eine (verständliche) Sache, Schadenfreude über eine Niederlage Netanjahus zu empfinden. Der Mann hat viel Schaden mit der Deformation der israelischen politischen Kultur angerichtet, so dass selbst in seiner eigenen Partei nicht wenige seiner überdrüssig geworden zu sein scheinen. Eine ganz andere Sache ist es gleichwohl, sich ernstlich zu fragen, was der möglicherweise sich anbahnende Schichtwechsel zu bedeuten hat. Denn zum einen ist ganz und gar nicht ausgemacht, dass es nicht zu einer großen Koalition kommt, sollte Yitzhak Herzog mit der Regierungsbildung beauftragt werden. Keiner der politischen Beobachter hat bis dato eine solche Möglichkeit dezidiert ausgeschlossen, und es gibt in der Tat auch keinen Grund, dies zu tun. Gerade weil es im Wahlkampf um nichts inhaltlich Relevantes geht, darf davon ausgegangen werden, dass auch die Bildung der Regierungskoalition in erster Linie vom Machtkalkül angetrieben werden wird; weshalb denn einer Verbandelung mit der rechtskonservativen Likud-Partei nichts im Wege stünde, wenn Herzog/Livni die Regierungsführung erlangt haben werden – gerade Zipi Livni, ursprünglich in der Likud-Partei beheimatet, ist geübt in häufigem Parteienwechsel.

Siedlungsfrage kein Thema

Zum anderen geht es aber um Grundsätzlicheres. Denn wenn man annimmt, daß das vordringlichste Problem des Staates Israel im Konflikt mit den Palästinensern zu sehen ist, einem Konflikt, dessen Lösung als unabdingbar für Israels künftige Existenz erachtet werden darf, stellt sich die Frage, ob sich im Hinblick darauf mit einer von Herzog/Livni geführten Regierung eine wesentlich neue Perspektive öffnet. Diese Frage darf mit umso größerem Nachdruck gestellt werden, als das Thema dieses Konflikts im Wahlkampf so gut wie keine Rolle gespielt hat, ja gerade von der Partei Herzogs/Livnis offenbar bewusst ausgespart wurde. Der Grund hierfür liegt nicht nur im aktuellen Wahlkampfaxiom, demzufolge das weitgehend nach rechts abgedriftete israelische Wahlvolk mit diesem »Thema« nicht einzufangen sei. Vielmehr muß etwas Entscheidenderes zur Kenntnis genommen werden: Jeder israelische Politiker bzw. Staatsmann, der sich einfallen ließe, zu einer finalen Friedensregelung mit den Palästinensern zu gelangen – einer Regelung, die zwangsläufig mit der Räumung von besetzten Gebieten, dem Abbau von Siedlungen, einer Lösung der Jerusalem-Frage und einer (und sei’s symbolisch-politischen) Konfrontation mit dem Flüchtlingsproblem einhergehen müsste –, hätte damit zu rechnen, Macht und Herrschaft in kurzer Zeit zu verlieren. Er würde von großen Teilen der israelischen Gesellschaft delegitimiert werden und sich einer besudelnden Schmähkampagne ausgesetzt sehen. Der letzte israelische Politiker, der sich auf dieses Unterfangen ernsthaft eingelassen hatte, wurde nicht von ungefähr umgebracht. Dabei war zu Zeiten des damaligen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin eine ganze Menge mehr als heute möglich: Vor 20 Jahren war das Siedlungswerk im Westjordanland noch nicht so weit gediehen, dass es eine potentielle Räumung schon vom Ausmaß her unmöglich gemacht hätte. Und das nationalreligiöse Lager samt rechtsradikalem Anhang und rechtskonservativer Verbandelung hatte noch nicht die heutige Vormachtstellung in der israelischen Politlandschaft inne. Was damals noch im individuellen Attentat mündete, dürfte heute – wenn es denn überhaupt dazu käme – bürgerkriegsähnliche Situationen zeitigen. Es gibt gute Gründe für israelische Entscheidungsträger, sich der friedensorientierten Auseinandersetzung mit dieser gravierenden Herausforderung der israelischen Politik zu entziehen.

Das Problem besteht gleichwohl darin, dass die systematische Verweigerung der Zweistaatenlösung Israel heute vor eine neue, womöglich noch gravierendere Herausforderung stellt. Wird nämlich das Okkupationsregime weiterhin aufrechterhalten, und Israels Verantwortung für die palästinensischen Bewohner der besetzten Territorien bleibt bestehen, so entsteht objektiv – über den subjektiven Willen hinaus und ohne dass man etwas dagegen zu unternehmen vermöchte – eine binationale Struktur, die früher oder später den Anteil der Araber unter Israels Oberhoheit dem jüdischen Anteil angleichen bzw. die Juden womöglich zur Minorität im eigenen Land werden lassen würde. Ein solcher Zustand könnte zwar demokratisch abgesegnet werden, womit dann die Errichtung eines binationalen Staates, mithin das Ende des historischen zionistischen Projekts eingeläutet wäre, eine Entwicklung, die sich zur Zeit weder die Israelis noch die Palästinenser herbeiwünschen. Viel eher anzunehmen ist jedoch, dass Israel die jüdische Vormachtstellung in diesem binationalen Gebilde beizubehalten trachten würde, womit denn Israel, gleichsam von selbst und bewusst proklamiert, zum offiziellen Apartheidstaat verkommen müsste.

In dieser strukturellen Sackgasse steckt Israel seit langem; sie wird auch schon seit langem von vielen Protagonisten der israelischen Politszene lippenbekenntnishaft erwähnt, wenn auch nicht eingehend erörtert. Weil aber niemand von ihnen einen Ausweg aus der Sackgasse weiß bzw. die mögliche Option der Zweistaatenlösung wegen der mit ihr verbundenen Risiken nicht umzusetzen wagt, bleibt das Reden darüber stets im Dunstkreis des Geraunten, ohne dass die Erwähnung des Problems die praktische Tat aufzuzwingen vermöchte. Was man sich von Herzog/Livni erhofft, ist, dass man die »Friedensgespräche« wieder aufnimmt bzw. den »Friedensprozess« wieder in Gang setzt, nicht aber etwa, um die anvisierte Regelung zu verwirklichen, nicht um einen Frieden unter den obengenannten Bedingungen zu erlangen, sondern um zu reden, endlos weiterzureden, sich bis zur allseitigen Erschlaffung totzureden. Das waren die Voraussetzungen für den gerade ablaufenden Wahlkampf wie auch für die Erstickung der Perspektiven nach seiner Beendigung.

Bürgerlicher Massenprotest

Wenn aber nicht der Frieden, hätte dann nicht wenigstens die wirtschaftliche Lage vieler israelischer Bürger ein relevantes Thema für den Wahlkampf abgeben können? Zwar wird von Zuwachsraten in der Makroökonomie Israels berichtet, zugleich ist aber nicht in Abrede zu stellen, dass die wirtschaftliche Situation großer Teile der israelischen Gesellschaft sich deutlich verschlechtert hat, nicht zuletzt die des Mittelstands, der, obgleich nicht schlecht verdienend, sich über die zunehmende Last ständig steigender Lebenshaltungskosten beklagt. Immer mehr Menschen sind gleichsam im Wohlstand verarmt. Besonders bedrückend ist die Wohnungsnot, die es wegen der ins Unermessliche angestiegenen Preise jungen Paaren (aber nicht nur ihnen) unmöglich macht, eine Wohnung zu erwerben bzw. die horrenden Mieten zu bezahlen. Eine staatliche Untersuchungskommission hat darüber jüngst eingehend Rechenschaft abgelegt.

Um zu begreifen, warum selbst dieses nun wahrhaft lebensweltlich real drückende Problem nicht zum heiß diskutierten Thema des Wahlkampfs avancieren konnte, sondern lediglich von wenigen Politikern als Gegenstand populistischer Polemik verwendet wurde, lohnt sich ein Rückblick auf die sommerliche Protestbewegung von 2011. An seinem siedenden Höhepunkt sammelten sich rund 400.000 Israelis auf den Straßen, eine beeindruckende Menschenmasse für ein Land mit rund 8,4 Millionen Einwohnern. Warum aber ging diese von der Bevölkerung getragene, von den Medien weitgehend unterstützte, »soziale Gerechtigkeit« einklagende Bewegung nach den anrührenden Monaten des israelischen Sommers so sang- und klanglos unter? Warum zeitigte sie nichts als eine erbärmliche, von der Regierung eingesetzte Wirtschaftskommission, die nichts zu bewirken vermochte, und politisches Kapital, das Yair Lapid beim Wahlkampf von 2013 geschickt zu instrumentalisieren verstand? Die Antwort darauf liegt darin, dass es sich primär eben um eine Protestbewegung des bürgerlichen Mittelstands handelte, dem es nicht um ernsthafte Struktur-, schon gar nicht um rigorose Systemveränderung zu tun war. Das kapitalistische System, welches die Misere generierte, die den Massenprotest hervorrief, durfte nicht in Frage gestellt werden – warum denn auch? Es ist ja das System ebendieses Bürgertums, das von »sozialer Gerechtigkeit« zu tönen sich bemüßigte, ohne das Wort Kapitalismus auch nur in den Mund zu nehmen (bzw. diejenigen, die es in den Mund nehmen wollten, mundtot machte). Auch die besetzten Gebiete durften in der Protestbewegung nicht erwähnt werden, damit die Bewegung »politisch nicht gespalten werde« bzw. »nicht politisch werde« – man stelle sich vor: Hunderttausende auf der Straße, ohne »politisch« werden zu wollen. Dass die schwelende Misere nicht zuletzt mit den in den Siedlungsbau im Westjordanland fließenden Milliarden zu tun haben könnte, mochte den empörten Protestlern gar nicht in den Sinn kommen. Wer es wagte, diesen Faktor anzusprechen, wurde in den offiziellen Kundgebungen schnellstmöglich zum Schweigen gebracht.

Was war da also geschehen? Etwas nicht gänzlich Ergründbares. In erster Linie aber wohl ein von der Ideologie aufgefangenes Moment realer Irritation der Massen, ein historischer Augenblick kollektiven Aufschäumens, dessen Träger sich zunehmend euphorisierten, ohne sich des Kausalzusammenhangs innezuwerden zwischen dem, was den Anlass des Aufruhrs entstehen ließ, und dem eigenen falschen Bewusstsein, das den Fortbestand des Systems garantiert, aus dem besagter Anlass, die eigene Not, erwächst. Und was für die damalige Zeit emphatischen Aufbegehrens stimmte, stimmte erst recht für den jetzigen Wahlkampf, von dem selbst an seinem Ende niemand zu sagen vermag, warum er hatte stattfinden müssen, schon gar nicht aber, was er zeitigen soll.

Moshe Zuckermann lehrt Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Zuletzt veröffentlichte jW auf diesen Seiten am 25.9.2014 einen Auszug aus seinem Buch »Israels Schicksal«. Dieses und andere seiner Bücher sind im jW-Shop erhältlich.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 17. März 2015


Zurück zur Israel-Seite

Zur Israel-Seite (Beiträge vor 2014)

Zurück zur Homepage