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Sicherheitslage ist das Thema Nummer eins

Der Stillstand im nahöstlichen Dialogprozess lässt Israelis eine neue Intifada befürchten

Von Oliver Eberhardt, Jerusalem *

In Tel Aviv hat ein Palästinenser am Montag einen Soldaten angegriffen; im Norden des Landes erschoss ein Polizist am Wochenende einen Araber. Die Ausschreitungen weiten sich aus.

Als Jitzhak Aharonowitsch aus dem Auto steigt, umringt von Personenschützern des Inlandsgeheimdienstes Schin Beth, fegt ihm ein Sturm der Entrüstung entgegen: »Wo ist unsere Sicherheit?« ruft ein Mann, während die Sicherheitsleute des israelischen Ministers für innere Sicherheit grob eine Frau beiseite schieben, die auf Aharonowitsch zustürmt, ihn anschreit: »Schau nur hin, sieh’s dir an, wo uns eure Zurückhaltung hingebracht hat.« Pfiffe sind zu hören, Buhrufe. Aharonowitsch geht wortlos weiter.

In Richtung der Blutflecken, die noch deutlich sichtbar auf dem Bürgersteig einer Straße vor der Bahnstation HaHaganah in Tel Aviv kleben. Am Morgen war hier ein 18-jähriger Palästinenser, der eigentlich aus Nablus stammt, mit einem Messer auf einen Wehrpflichtigen losgegangen, hatte auf ihn eingestochen. Der Täter wurde wenig später fest genommen. Der Soldat kämpft nun im Krankenhaus um sein Leben. Niemand habe das kommen sehen, heißt es bei der Polizei in Tel Aviv: Es habe absolut keinerlei Hinweise darauf gegeben, dass in der Stadt etwas bevorstehen könne.

»Außer natürlich, dass die Sicherheitslage überall im Lande eskaliert und wir vor der Frage stehen, ob die dritte Intifada begonnen hat«, hält am Mittag der Moderator einer örtlichen Radiostation dagegen: »Ich verstehe nicht, wie die Regierung glauben kann, dass Tel Aviv davon verschont bleibt.« Denn am Wochenende hat es erstmals auch Ausschreitungen in arabischen Kommunen im Norden Israels gegeben. Dort hatte ein Polizist zuvor einen jungen Mann erschossen. Angeblich sei der mit einem Messer auf ihn losgegangen. Ein Video, das die Ereignisse zeigen soll, widerspricht allerdings dieser Darstellung. Ob die Bilder echt sind, ist unklar. Doch viele israelische Araber in der Region erinnern sich nun, wie Polizisten zu Beginn der zweiten Intifada auf Demonstranten schossen und dabei 13 Menschen töteten.

Auch in Jerusalem und im Westjordanland liefern sich Demonstranten weiterhin Straßenschlachten mit der Polizei, während rechte israelische Politiker immer wieder den Tempelberg, den Haram al-Scharif, besuchen, um den Anspruch der israelischen Rechten auf die für Juden und Muslime heilige Stätte zu demonstrieren – Besuche, die in diesen Tagen noch ein bisschen kontroverser sind als sonst: Denn der Tod von Jassir Arafat jährt sich am heutigen Dienstag zum zehnten Mal. Und viele Palästinenser sind davon überzeugt, dass Israels Geheimdienste den zutiefst verehrten Palästinenserpräsidenten getötet haben. Die geplanten Gedenkfeiern in Gaza wurden abgesagt. Ende vergangener Woche hatte es im Gazastreifen zeitgleich vier Anschläge gegen Funktionäre der Fatah-Fraktion gegeben, der Arafat angehörte. Wer dafür verantwortlich ist, ist nach wie vor unklar. Sowohl die Hamas als auch Israel bestreiten, etwas damit zu tun zu haben; auf den Straßen ist eine Vielzahl von Verschwörungstheorien zu hören.

Bei einem Besuch am Grab Arafats in Ramallah versprach sein Nachfolger Mahmud Abbas, er werde ihn bald nach Jerusalem umbetten lassen, und griff dabei die Forderung der neuen EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini (Italien) auf, die bei einer Pressekonferenz mit Ministerpräsident Rami Hamdallah gesagt hatte, sie glaube, Jerusalem könne die Hauptstadt zweier Staaten sein. Zuvor hatte sie die israelischen Siedlungen im Westjordanland als »Hindernis für den Frieden« bezeichnet – was Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu scharf zurückwies. Der Kern des Konflikts sei, dass die Palästinenser die Existenz Israels ablehnten. Jerusalem sei keine Siedlung, sondern Israels Hauptstadt. Man habe das Recht, dort zu bauen.

Doch seine Regierung zeigt mittlerweile starke Auflösungserscheinungen. Am Wochenende trat Umweltminister Amir Peretz zurück; offiziell war der Jahresetat 2015 der Auslöser. Doch in einer Stellungnahme auf Facebook bezeichnete der ehemalige Verteidigungsminister Netanjahus Politik als eine allumfassende Katastrophe: Der Premier befinde sich »im Würgegriff der Rechten«.

Die rechten Koalitionspartner aber fordern mehr: Mehr Siedlungsbau, mehr israelische Präsenz in Ostjerusalem und im Westjordanland. Noch versucht Netanjahu, die Rechten in der Regierung zu halten. Doch in seinem Team bereitet man sich bereits auf vorgezogene Wahlen vor. Der Premier, heißt es, sei nicht bereit, eine weitere Eskalation mitzutragen.

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 11. November 2014


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