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Eine Mehrheit am seidenen Faden

Israels Ministerpräsident hat eine neue Koalition beisammen - zu einem hohen Preis

Von Oliver Eberhardt *

In Israel hat Likud-Chef Netanjahu in letzter Minute eine Koalition zusammengestellt. Die Zugeständnisse an die Partner werden Milliarden kosten. Es droht der politische Stillstand.

Abu Dhabi. Es war am Mittwoch kurz nach 22.30 Uhr Ortszeit, als die Einigung bekannt wurde: »Gewonnen! Gewonnen!«, brüllte ein Abgeordneter der Siedlerpartei Jüdisches Heim ins Telefon. »Fassungslos«, sei er, sagte ein Parteifreund, damit habe in der Partei wohl niemand gerechnet. Der große Gewinner, Parteichef Naftali Bennett, war derweil in einem Fernsehinterview sichtbar bemüht, sich die Freude nicht zu sehr ansehen zu lassen. Denn: »Es waren harte Verhandlungen, und wir müssen mit Netanjahu und dem Likud nun noch eine Weile zusammenarbeiten«, sagt einer seiner Mitarbeiter.

Beim Likud ist man ebenfalls fassungslos - über die Einigung. Aber vor allem über Parteichef Benjamin Netanjahu, der, um Regierungschef zu bleiben, den Koalitionspartnern so gut wie alles gegeben hat, was sie von ihm haben wollten. Bis auf das Außenministerium sämtliche Schlüsselressorts. Milliarden für die Umsetzung der Interessen von Siedlern und Ultraorthodoxen.

Aber vor allem hat er Jüdisches Heim mit dem Justizministerium die Möglichkeit gegeben, diese Behörde nach dem Gusto der Siedlerbewegung umzugestalten. Ajelet Schaket, die designierte Justizministerin, wird demnächst das Amt des Generalstaatsanwaltes neu besetzen dürfen und damit erheblichen Einfluss darauf haben, ob gegen Siedlungsbauten ohne Genehmigung oder Siedler, die Übergriffe gegen Palästinenser verüben, vorgegangen wird. Darüber hinaus wird sie Einfluss auf die Zusammensetzung jener Kommission haben, die die Richter am Obersten Gerichtshof ernennt.

Bekommen hat Netanjahu dafür eine Koalition, deren Mehrheit so extrem dünn ist, dass Mehrheit auch Glückssache sein wird. Da, wie in Deutschland auch, bei Parlamentsabstimmungen nicht immer alle Abgeordneten anwesend sind und in der Regel die einfache Mehrheit ausreicht, entsprechen die Kräfteverhältnisse nur dann dem Wahlergebnis, wenn die Opposition sich an die Tradition hält, für fehlende Regierungsabgeordnete eigene Parlamentarier vor die Tür zu schicken; die meisten künftigen Oppositionsparteien haben bereits gesagt, dass sie das nicht tun werden.

»Wir werden Netanjahu nicht retten«, so Jitzhak Herzog, Vorsitzender der Zionistischen Union und demnächst wohl Oppositionsführer. Dazu zähle auch, dass man nicht im Nachhinein in eine Koalition mit dem Likud eintreten werde, um den Einfluss von Jüdisches Heim, einer Partei, die gerade mal über acht Abgeordnete verfügt, einzudämmen. »Um weiter Regierungschef zu bleiben, hat Netanjahu die Macht den Kleinparteien überlassen«, erklärt Herzog. »Ich hoffe, dass die Wähler nun sehen, wozu Linke und Zentrum notwendig sind.«

Doch zunächst einmal muss die neue Regierung bis Mittwoch vom Parlament bestätigt werden. Die notwendigen 61 Stimmen dafür sind trotz der Koalitionsverträge nicht garantiert. Denn vor allem im Likud, aber auch in der Neupartei Kulanu denken viele Abgeordnete ähnlich wie die Opposition und große Teile der Öffentlichkeit: Die Regierungsbildung sei eine Farce gewesen; Zusammensetzung und Zugeständnisse würden Israel auch international in eine schwierige Position bringen. Das Weiße Haus hatte bereits nach der Wahl am 17. März deutlich gemacht, dass es mit den Blankovetos im UNO-Sicherheitsrat zugunsten Israels vorbei sein könnte, falls es zu einer rechts-religiösen Regierung kommen sollte. Die meisten Likudnikim, die sich einen Ministerposten versprochen hatten, werden leer ausgehen. Mehrere Abgeordnete sprachen am Donnerstag über das Szenario, die Abstimmung zum Scheitern zu bringen, damit Herzog den Regierungsbildungsauftrag zuzuschustern und dann den Likud als Juniorpartner in die Koalition zu bringen: Es gäbe Posten satt. Letzten Endes braucht es nur einen einzigen Parlamentarier, der dies möglich macht.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 8. Mai 2015


Weiter rechts

Israel: Regierungskoalition der Likud-Partei mit vier ultraorthodoxen Gruppierungen. Religiöse Spannungen befürchtet

Von Karin Leukefeld **


Mehr Spannungen in Israel und mit seinen arabischen Nachbarn werden im Mittleren Osten von der neuen Regierung in Israel erwartet. Die Opposition unter Itzhak Herzog hat eine harte und »aggressive« Politik angekündigt.

Am Mittwoch hatte Benjamin Netanjahu angekündigt, dass die von ihm geführte Likud-Partei mit vier ultraorthodoxen Parteien eine Regierungskoalition eingehen werde. Mit 61 von 120 Abgeordneten im israelischen Parlament will der alte und neue Ministerpräsident die neue Regierung führen. Netanjahu, der erstmals 1996 Staatschef wurde, beginnt nunmehr seine vierte Amtszeit.

Die Likud-Partei hatte bei den Parlamentswahlen am 17. März 30 Sitze gewonnen. Zu ihren Bündnispartnern gehört nun die Siedlerpartei »Das Jüdische Haus«, die acht Abgeordnete in das Bündnis einbringt. Weitere Koalitionspartner sind die Kulanu-Partei mit zehn Sitzen, die Shas-Partei mit sieben und das »Vereinigte Thora-Judentum« mit sechs Vertretern.

Der Vorsitzende der Siedlerpartei »Das Jüdische Haus«, Naftali Bennett, setzte für seine Fraktion drei Ministerien durch, darunter das Erziehungsministerium und das in Israel als besonders wichtig geltende Justizministerium. Letzteres soll mit der 39jährigen Politikerin Ayelet Shaked besetzt werden, die über keinerlei juristische Vorkenntnisse verfügt. Der ehemalige Justizminister Yossi Beilin von der Arbeitspartei bezeichnete die Personalwahl als »schlechte Nachricht«. Allerdings »nicht so schlecht« als wenn Bennett Verteidigungsminister geworden wäre. Er und seine Partei lehnen die Gründung des Staates Palästina ab. Sie unterstützen den Siedlungsbau in dem von Israel besetzten Westjordanland und fordern die Annexion palästinensischer Gebiete.

Die als sozial-konservativ geltende Kulanu-Partei, die erst im November 2014 von dem als moderat geltenden früheren Likud-Politiker Moshe Kalon gegründet worden war, wird den künftigen Finanzminister stellen. Kalon, der früher Kommunikations- und Wohlfahrtsminister war, kündigte an, die Macht »großer Banken« drosseln und die Mieten senken zu wollen.

Die Shas-Partei und die Partei »Vereinigtes Thora-Judentum« sind rein religiös orientiert und fordern beispielsweise die Rücknahme der Wehrpflicht für ultraorthodoxe Juden. Obwohl diese in Israel nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung von 8,3 Millionen ausmachen, kommt ihnen nun vor allem innenpolitisch eine entscheidende Rolle zu. Weil bisher keine Regierung auf die ultraorthodoxen Parteien verzichten konnte, hatten diese sich in der Vergangenheit eine Menge an Privilegien für ihre Klientel gesichert: Der Staat finanziert für sie eigene Religionsschulen, erst seit 2014 sind sie wehrpflichtig.

Die Änderungen, die die vorherige Regierung zugunsten einer säkularen Gesellschaft in Israel eingeführt hatte, würden vermutlich zurückgedreht, sagte Yedidia Stern, Juraprofessorin an der Bar Ilan Universität (Tel Aviv). »Die Spannungen zwischen den Ultraorthodoxen und dem Rest der israelischen Gesellschaft werden zunehmen«, prognostizierte sie gegenüber der französischen Nachrichtenagentur AFP.

Shar Ilan von Hiddush, einer israelischen Gruppe für Religionsfreiheit, erklärte, er fürchte, es werde erneut zu religiösen Auseinandersetzungen kommen, wie es sie in Israel zwischen 2010 und 2012 gegeben hatte. Damals hatten die Ultraorthodoxen den Straßenverkehr am Feiertag Sabbath einstellen und eine Geschlechtertrennung in Bussen durchsetzen wollen.

Oppositionsführer Itzhak Herzog von der Awoda-Partei bezeichnete die Koalitionsbildung als »nationales Versagen« und sagte ihr ein baldiges Scheitern voraus. Von seiten der Palästinenser kam eine knappe Stellungnahme. Die neue Regierung werde »eine des Krieges sein«, erklärte der PLO-Chefunterhändler für die palästinensisch-israelischen Gespräche, Saeb Erekat. Kurz nach Bekanntwerden der neuen Koalition hat das israelische Innenministerium den Bau von 900 Wohnungen für Siedler im israelisch besetzten Ostteil von Jerusalem gebilligt.

** Aus: junge Welt, Samstag, 9. Mai 2015


Nahöstliche Realitätsverweigerung

Roland Etzel zur Regierungsbildung in Israel ***

Eine ebenso ehrenwerte wie politisch gebotene Vision: Bundesaußenminister Steinmeier wünschte sich gestern im Bundestag Freundschaft mit Israel und eine Zwei-Staaten-Lösung in Bezug auf dessen Verhältnis zu den Palästinensern. Leider hat die ministerielle Vorstellung einen erheblichen Schwachpunkt. Sie ist gerade jetzt so wenig realistisch wie selten zuvor. Nachdem sich am Abend zuvor in Israel die seit Jahrzehnten rechtslastigste Regierungskoalition zusammenfand, kann Steinmeiers Aussage nur als Realitätsverweigerung eingestuft werden.

Der alte und neue Ministerpräsident Israels lässt keinen Zweifel daran, dass er gegen einen Zwei-Staaten-Lösung und damit einen Palästinenserstaat ist. Da wird die Nahostpolitik der Bundesregierung schon zum Hemmschuh, wenn sie das einfach ausblendet. Andere Staaten, auch in der EU, verlangen von Deutschland einen wirklichen Betrag zur Konfliktlösung.

Nicht zuletzt erwarten das die Frieden und politischem Ausgleich verpflichteten Kräfte in Israel und Palästina selbst. Sie sehen sehr wohl, dass Berlin ob seiner Vergangenheit Sensibilitäten zu berücksichtigen hat wie kein anderer. Was sie aber nicht akzeptieren: wenn deutsche Politiker die historische Schuld als Alibi gebrauchen, um Verantwortung, die an anderer Stelle vehement reklamiert wird, hier aus dem Wege zu gehen.

*** Aus: neues deutschland, Freitag, 8. Mai 2015 (Kommentar)


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