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Forcierte Ungleichheit

Shir Hever analysiert die ökonomischen Folgen der israelischen Besatzung Palästinas

Von Simon Zeise *

Für Leser in Deutschland dürfte Shir Hevers Untersuchung »Die Politische Ökonomie der israelischen Besatzung« von besonderem Interesse sein. Schließlich ist die BRD »eines der größten Geberländer der unter Besatzung lebenden palästinensischen Bevölkerung«, außerdem der zweitgrößte Investor Israels »und ein Land, das bedeutenden Einfluss in der EU besitzt, Israels wichtigstem Handelspartner«. Berlin genehmigte zwischen 2000 und 2011 nach den USA am meisten Waffenexporte nach Israel.

»Eine der besten Möglichkeiten, die Auswirkung der Bewegungseinschränkung auf die palästinensische Wirtschaft zu illustrieren«, so Hever, sei, sich die unterschiedlichen Preise in Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten (BPG) anzusehen. Obwohl die palästinensische Autonomiebehörde einen eigenen Haushalt aufstellt, Steuern erhebt und eine eigene Wirtschaftspolitik verfolgt, verfügt sie über keine eigene Währung. Obgleich der israelische Schekel als anerkanntes Zahlungsmittel auch in den BPG verwendet wird, folge die Preisentwicklung dort und in Israel ungleichen Trends, durch die sich Rückschlüsse ziehen ließen.

Der Beginn der zweiten Intifada im Jahr 2000 markiert den Punkt, an dem die palästinensischen Preise gegenüber den israelischen anstiegen. Israels private Konsumausgaben brachen ein. 2003 erlebte die israelische Volkswirtschaft zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine Rezession, mit einer negativen Inflationsrate von minus 1,9 Prozent. In Israel sanken die Einkommen, und staatliche Hilfen wurden gekürzt, während die oberen Einkommen und Unternehmensprofite stiegen. Die Schere zwischen Arm und Reich nahm zu. Die Inflationsrate lag in Israel 2008 bei 4,59 Prozent. In den besetzten Gebieten stieg sie jedoch auf über zehn Prozent an.

Es scheint zunächst verblüffend, dass die sinkenden Preise nicht auch auf die palästinensischen Gebiete übergriffen. Die Stagflation (Stagnation bei Inflation) in den BPG führt Hever auf die seit 2003 bis heute andauernde Phase der israelischen Besatzung zurück. 2008 kostete ein Produkt in den BPG das 32-fache von seinem Wert in Israel.

Gründe dafür benennt der Autor. Zwischen 2000 und 2002 zerstörte die israelische Armee palästinensischen Privatbesitz und Infrastruktur im Wert von 643 Millionen US-Dollar. Dies verursachte Versorgungsengpässe. Die Weltbank, gibt Hever an, sieht in Transportkosten die stärkste treibende Kraft hinter den steigenden Preisen in den BPG. Er führt detaillierte Beispiele an, die hier nur fragmentarisch wiedergegeben werden können. Eine Warenlieferung von einem israelischen Hafen bis zu seinem palästinensischen Zielort steige wegen restriktiver Importregeln im Wert auf 337 Prozent seines Ursprungspreises.

Hever führt weitere Gründe für die ungleiche Entwicklung der beiden Ökonomien an. Palästinensische Arbeiter sind ständigen Risiken ausgesetzt wie dem, bei einer Kontrolle durch israelisches Militär aufgegriffen zu werden. Die Löhne und Gehälter werden in den BPG deshalb in Tageslöhnen beziffert. Monatsgehälter werden nur selten ausgezahlt, da es unklar ist, ob der Arbeiter am nächsten Tag wieder beim Job erscheint. Viele Palästinenser müssen ohne Arbeitserlaubnisse für israelische Konzerne arbeiten. Ohne diese halbiert sich statistisch der Lohn einer palästinensischen Arbeitskraft.

Die israelische Wirtschaft profitiere von der Besatzung in verschiedener Hinsicht. Die durch die israelische Regierung eingesammelten Steuern übersteigen die Ausgaben der israelischen Institutionen in den BPG. Die palästinensischen Gebiete wurden zu einem abhängigen und kontrollierten Markt für israelische Güter, insbesondere minderwertige Waren, die sich auf dem heimischen Markt nicht mehr verkaufen ließen. Durch illegale Siedlungen wurden Wasserresourcen und Land konfisziert. Zudem betrieben israelische Baufirmen Steinbrüche im Westjordanland und im Gazastreifen, wodurch palästinensische Naturresourcen abgebaut wurden.

Seit den 80er Jahren sei die israelische Besatzung jedoch nicht mehr profitabel. Der zunehmende Siedlungsbau wurde zur immer stärkeren Belastung des Staatshaushalts. Israel setzte im Zuge der ersten Intifada (1987-93) mehr Soldaten und Kriegsgerät ein. Die Exporte in die BPG sanken, und der Tourismus ging zurück. Die Besatzungskosten erreichten im Verlauf der zweiten Intifada ihren Höhepunkt. Regierung und Militär versuchten, sich an den durch die USA vorgegebenen Trend des »Kriegs gegen den Terror« anzupassen. Dies beinhaltete massive Privatisierungen vieler durch das Militär ausgeübte Funktionen, u. a. die Aufrechterhaltung der Checkpoints, die Verteidigung der Siedlungen und den Abzug der israelischen Siedler aus dem Gazastreifen sowie die Errichtung der Mauer. Kosten wurden zwar nicht gesenkt, jedoch eröffnete sich dadurch ein Geschäftsfeld für Investoren.

Shir Hever liefert eine umfassende Studie, die eine zweite Auflage verlangt. Informationen zu den Auswirkungen der Finanzkrise nach 2008 auf das Gebiet im Nahen Osten wären sicher für viele von Interesse, nicht nur in Deutschland.

Shir Hever: Die Politische Ökonomie der israelischen Besatzung. Neuer-ISP-Verlag, Köln 2014, 263 Seiten, 19,80 Euro

* Aus: junge Welt, Montag, 16. März 2015


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