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"Hauptgewinner ist die israelische Rechte"

Gespräch mit Moshe Zuckermann.* Über Konsequenzen des Libanon-Kriegs, nationalreligiöse Siedler und darüber, wie es im Nahen Osten weitergehen könnte


* Moshe Zuckermann ist Professor für Soziologie, Politologie, Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv. Hier wurde er 1949 als Sohn von Auschwitz-Überlebenden geboren. 1960 emigrierte seine Familie in die BRD, wo Verwandte sich ökonomisch etabliert hatten, was Zuckermanns Eltern in Israel nicht gelungen war. Ohne sie kehrte Zuckermann mit 21 Jahren zurück und begann unter dem Einfluß akademischer Tendenzen in der BRD dieser Zeit zu studieren.
Moshe Zuckermann befindet sich zur Zeit auf einer Vortragsreise in Deutschland, am 13. Oktober sprach er z.B. bei einer Veranstaltung in Kassel.
Das Interview, das wir im Folgenden dokumentieren, wurde für die "junge Welt" geführt.



Wie ist der Libanon-Krieg im Sommer aus Ihrer Sicht in der BRD aufgenommen worden?

Im großen Ganzen entsprechend der gängigen Wahrnehmungsverteilung des Nahostkonflikts: Die unreflektierten linken Israel-Solidarisierer gaben sich wieder einmal bellizistisch. Die Neonazis waren wieder hocherfreut, ihren Antisemitismus durch Israels brutale Schläge gespeist zu sehen, vielleicht auch gewisse Gruppen aus der antizionistischen Linken. In den Medien wurde die Dynamik des Krieges mehr oder minder so reflektiert, wie man für gewöhnlich mit Israel umgeht: kritisch, je rabiater es wurde, aber nie radikal in der Verurteilung. Ein Großteil der Bevölkerung dürfte unterrichtet, aber indifferent gewesen sein. Die in Deutschland lebenden Juden wieder vollkommen solidarisch, ohne freilich recht darüber im Bilde zu sein, was inzwischen in Israel selbst an Selbstkritik und -zerfleischung ablief. Viel wurde wieder über Israels Kampf um seine Existenz palavert, was aber ein völliger Blödsinn war: In diesem Krieg ging es für Israel um vieles – keine Sekunde lang aber um Israels Existenz.

Um vieles?

Israel hatte mit der Hisbollah »eine Rechnung« zu begleichen. Da der von Ehud Barak im Jahre 2000 forcierte Abzug aus dem Libanon nach achtzehnjähriger Besatzung des südlichen Libanons unter Bedingungen stattfand, die sich für manche – für die israelische Rechte zumal – wie Flucht ausnehmen mochten; da zudem Nasrallah diesen zumindest sehr eiligen Abzug als Erfolg seines Guerillakampfes verbuchte und entsprechend ideologisierte, und da gewisse Kräfte unter den Palästinensern darin auch ein Indiz für die Berechtigung des gewaltgeprägten, mithin militarisierten Kampfes gegen Israel sahen, hatte Israel auf eine Gelegenheit gewartet, »wieder klare Verhältnisse« in der Abschreckungsbalance herzustellen und seine militärische Überlegenheit unter praktischen Beweis zu stellen. Diese schien sich im Juli anzubieten. Man geriet dabei aber in einen Krieg, der ganz anders verlief als ursprünglich vorgesehen. Überraschend war diese Entwicklung übrigens nicht nur für Israel, sondern auch für die Hisbollah selbst, wie Nasrallah am Ende der Kampfhandlungen gestand. Mit Existenzkampf Israels hatte dieser Krieg aber auf keinen Fall etwas zu tun.

Welchen Sinn hat die Abschreckungsbalance, wenn der Staat nicht existentiell bedroht ist?

Die Abschreckungsbalance hat zum einen ihre »klassische« Bedeutung in ihrer Einwirkung auf die Bereitschaft des Feindes, sich auf einen konventionellen regionalen Krieg einzulassen. Dies hat in der Tat entfernt etwas mit der Abschreckung vor einem Angriff zu tun, der für die Existenz des Landes bedrohlich werden könnte. Sie erfüllt aber zum anderen die eher taktische Funktion, die Motivation für kleinere militärische Aktionen, Guerillaangriffe oder Terroranschläge zu drosseln, allesamt schmerzende, auch unbequeme Aktionen, die aber für die Existenz des Landes keine Bedrohung darstellen.

Geht es bei den militärischen Strategien denn schon um eine wirtschaftliche Vormachtstellung bei der Eingli ederung in die Region?

Von der wirtschaftlichen Vormachtstellung bei der Eingliederung in die Region kann in der gegenwärtigen Phase nicht die Rede sein, denn weder bemißt sich Israels wirtschaftliches Potential an seinen Nachbarstaaten, die mit Israel weitgehend keine ökonomischen Beziehungen unterhalten, noch kann von Israels Eingliederung in die Region die Rede sein, solange kein Frieden herrscht, mithin das israelische Okkupationsregime in den palästinensischen Gebieten perpetuiert wird.

Wie viele Israelis sind für einen Rückzug auf die Grenzen von 1967? Wie hat sich das in letzter Zeit entwickelt?

Wenn ich Ihre Frage dahingehend interpretiere, daß sie sich auf die Friedensbereitschaft der jüdischen Israelis bezieht, so gibt es über Jahre eine ziemlich konstante Zahl, welche sich zwischen 60 und 65 Prozent der Befragten bewegt. Allerdings ist dieser in Erhebungen erzielte Prozentsatz lediglich eine rhetorische Positionsbestimmung, die noch nie auf die Probe praktischer Politik gestellt worden ist. Denn käme es zu einer Räumung der Westbank, der sich die Hardliner unter den Siedlern erklärtermaßen mit Gewalt widersetzen würden, und wäre der Staat Israel gefordert, sein Gewaltmonopol gegen die Räumungsverweigerer zu implementieren, womöglich unter Schußwechsel mit Toten und Verletzten, bin ich ganz und gar nicht überzeugt davon, daß sich die in besagtem Prozentsatz wiederspiegelnde Unterstützung auch nur annähernd erhalten würde. Es könnte zu bürgerkriegsähnlichen Situationen kommen. Und man lasse sich nicht irreleiten: Die Räumung des Gazastreifens war ein Kinderspiel gemessen an dem, was bei der Räumung der Westbank zu erwarten steht.

Unter welchen Voraussetzungen würde diese Räumung angegangen werden?

Die Voraussetzung für die Räumung der Westbank ist die staatlich offizielle Entscheidung der israelischen Regierung, der Besatzung ein Ende zu setzen. Im Gegensatz zum Gazastreifen jedoch, der nie ein genuiner Teil der säkularen Großisrael-Ideologie der Revisionisten war und auch für das religiöse Judentum keine gravierende Bedeutung hat, sieht die rechte nationalreligiöse Siedlerbewegung die jüdische Kolonisierung der Westbank als moderne Rückkehr in das Land der biblischen Urväter an. Für die religiösen Hardliner dieser Bewegung ist die Rückgabe dieser Gebiete gar nicht verhandelbar, sondern religiös so aufgeladen, daß ihnen der Abzug aus diesen Territorien wie ein Gottessakrileg vorkommt – handelt es sich doch in ihren Augen um das von Gott dem Volk Israel verheißene Land. Für den harten Kern unter ihnen ist der Rückzugsakt um jeden Preis zu verhindern, selbst mit dem Einsatz des eigenen Lebens. Ganz abgesehen vom gravierenden Unterschied in den Größenordnungen des zu räumenden Landes und der Siedlermassen, handelt es sich im Fall der Westbank um ein Objekt höchster religiös-ideologischer Begierde. Die relative Gewaltfreiheit beim Rückzug aus dem Gazastreifen kann man im Fall der Räumung der Westbank vergessen.

Kann man also sagen, daß diese Nationalreligiösen, die keine zehn Prozent der israelischen Wähler ausmachen, einfach durch ihre Radikalität das Handeln der Regierung wesentlich bestimmen?

So einfach ist es nicht, denn was man bedenken muß, ist, daß die Siedlerbewegung ja nicht im luftleeren politischen Raum entstand, sondern seit ihren Anfängen Mitte der 1970er Jahre von allen israelischen Regierungen mehr oder minder unterstützt und gefördert worden war. Wie hätte sie sonst auf eine Masse von über 200000 Menschen anwachsen können? Bei den Regierungen der Arbeitspartei ging es dabei um die Schaffung einer Infrastruktur, die sich als Teil der israelischen Sicherheitspolitik verstand. Bei den Likud-Regierungen ging es über Jahre um die Verwirklichung der expansionistischen säkularen Großisrael-Ideologie. Erst allmählich drang der religiöse Faktor in die Siedlungspolitik ein, verselbständigte sich aber im Laufe der Jahre, bis er zum eigenmächtigen Golem heranwuchs, der schon allein durch die massive, irreversibel erscheinende Infrastruktur eine eigene Wirkmächtigkeit auszuüben begann. Darauf hatte es Ariel Scharon über Jahrzehnte angelegt – eine Siedlungsrealität herzustellen, die man schwer nur würde revidieren können. Das darf als sein Lebenswerk gelten.

Daß er am Ende Tausende Israelis gewaltsam umsiedelte, bricht dem keinen Zacken aus der Krone?

Daß Scharon irgendwann erkannt hat, daß die sogenannte »tickende demographische Zeitbombe«, die in Israel schon längere Zeit thematisiert wird, d.h. also, daß die entstandene demographische Konstellation bei Beibehaltung der Besatzungsrealität früher oder später dazu führen wird, daß Juden zur Minorität im eigenen Land werden, muß ihm zweifelsohne angerechnet werden. Er ist Realpolitiker genug gewesen, um die Dringlichkeit des Problems (aus zionistischer Sicht) zu erkennen. Er hat, so besehen, ein gewisse Wende vollzogen, die Respekt abverlangt. Das besagt allerdings nichts darüber, was er in der Westbank vorhatte. Den Rückzug aus dem Gaza­streifen hat er damit gerechtfertigt, daß man dafür für lange Zeit in der Frage der Westbank in Ruhe gelassen werden wird. Wie er mit der Besatzung in der Westbank längerfristig umgegangen wäre, werden wir nie erfahren. Wir wissen nur, daß das, was er den Palästinensern anzubieten trachtete, für diese völlig unannehmbar war.

Wie ist im Vergleich dazu sein Nachfolger Olmert zu bewerten?

Olmert ist als Scharons Nachfolger in »Kadima« mit dem Wahlkampfslogan eines graduellen Rückzugs aus dem Westjordanland angetreten. Inzwischen gab es den Libanon-Krieg, und das Thema ist zur Zeit ganz weg vom Tisch. Ob Olmert die Folgen des Kriegs politisch überleben wird, gilt es noch abzuwarten.

Wer hätte im Falle eines Abtritts von Olmert derzeit die besten Aussichten auf eine Nachfolge?

Das ist eine sehr schwer zu beantwortende Frage. Denn Olmert selbst hat die Wahl wohl eher als selbsternannter Nachfolger des erkrankten Scharon, gleichsam in dessen Namen gewonnen. Er wurde während seiner Likud-Zeit nie als ernstzunehmender Kandidat für das Amt des Premierministers erwogen. Die »Kadima« war im Grunde eine Parteigründung, die sich primär durch das Charisma Scharons speiste. Es ist ganz und gar nicht ausgemacht, daß, wenn es zum Regierungssturz und zu Neuwahlen kommt, »Kadima« die nächste Regierung bilden wird. Hauptgewinner bei der gegenwärtigen Krise nach dem Libanon-Krieg ist die israelische Rechte, bei der vor allem Netanjahu und Liberman erstarkt sind. Man muß in Kauf nehmen, vielleicht sogar davon ausgehen, daß, wenn sich die Sackgasse, die sich gegenwärtig abzeichnet, verfestigt, Netanjahu die nächste Wahl gewinnen wird.

Wie ist es um den Präsidenten bestellt?

Für meine Begriffe hat der Staatspräsident ausgespielt. Selbst, wenn sich erweisen sollte, daß er nicht in allem für schuldig befunden wird, was man ihm anlastet, ist sein Ansehen mittlerweile so geschädigt, daß er sein Amt nur schwerlich weiter bekleiden können wird.

Wie beurteilen Sie die aktuellen Entwicklungen in den besetzten Gebieten? Regierung der nationalen Einheit oder Bürgerkrieg?

Definitive Prognosen kann ich nicht geben. Klar ist, daß die Feindschaft zwischen Fatah und Hamas etwas Grundsätzliches in sich birgt. Während die Hamas-Bewegung im religiösen Fundamentalismus wurzelt, war die Fatah bzw. die PLO immer schon säkular ausgerichtet. Zwar stimmt es, daß es bei den gegenwärtigen Ausschreitungen auch um Macht- und Herrschaftsinteressen geht, aber es handelt sich ganz gewiß auch um einen prinzipiellen Gesinnungskampf – eben um die Frage, wie die staatliche Zukunft der Palästinenser aussehen soll. Ob es dabei zum Bürgerkrieg kommt, weiß ich nicht. Vom Potential realer Polarisierung her ist dies durchaus denkbar. Aber ein Bürgerkrieg kann nicht im Interesse irgendeiner palästinensischen Partei liegen; er würde ja die Palästinenser, nicht zuletzt Israel gegenüber, bloß schwächen. Ich vermute daher, daß man doch auf eine wie immer geartete Lösung der »nationalen Einheit« kommen wird. Aber mit Gewißheit voraussagen kann man das nicht.

Schwächt der international verhängte Hamas-Boykott die Hamas?

Das ist eine gute Frage, weil sie sowohl mit »ja« als auch mit »nein« beantwortet werden kann. Natürlich schwächt der Boykott die Hamas in materieller Hinsicht. Das will ja ein Boykott bewirken, und in der Tat sieht sich die Hamas in ihrer Regierungsfunktion heute einer größeren Schwierigkeit als vorher ausgesetzt, die palästinensische Bevölkerung zu versorgen. Zugleich erweist sich aber, daß sich die Manipulation des Seins nicht immer die erhoffte Modifikation des Bewußtseins zeitigt; sie kann ganz im Gegenteil das falsche Bewußtsein sogar noch festigen. Bei vielen Palästinensern, Hamas-Anhängern zumal, ist eine politische Trotzreaktion auf den Boykott auszumachen. Ein Aufstand gegen die Hamas als Folge des Boykotts ist gegenwärtig nicht in Sicht. Die Kämpfe zwischen PLO und Hamas haben andere Ursachen.

Welche?

Nun, vor allem Macht- und Gewaltkämpfe um die Herrschaft, die natürlich auch die Beherrschung ökonomischer Ressourcen beinhalten. Man darf ja nicht vergessen: Sowohl die Hamas als auch die PLO haben sich stets (wie letztlich jede politische Partei) die Gunst ihrer Klientel durch Jobverschaffungen sowie Ämter- und Geldverteilungen erhalten. Bei beiden ging und geht es auch um die wirtschaftliche Unterhaltung der organisierten Infrastruktur verzweigter Sozialnetze. Darüber hinaus geht es aber auch um den inhaltlichen Gesinnungskampf. Wie schon erwähnt, verstand sich die PLO stets als eine säkulare Bewegung, die Hamas hingegen als eine fundamentalistisch-religiöse. So besehen, geht es bei den Machtkämpfen auch um die künftige Ausrichtung der gesamten palästinensischen Gesellschaft.

Wie wird dieser Konflikt zwischen Fatah- und Hamas-Anhängern in Deutschland aufgenommen?

Soweit ich das aus Israel beurteilen kann, wird die Hamas, die ja den Staat Israel nicht anerkennt, von der offiziellen hohen deutschen Politik weitgehend gemieden. Da sie im religiösen Fundamentalismus wurzelt, wird sie darüber hinaus unter den allgemeinen Vorbehalten gegen den Fundamentalismus wahrgenommen, mithin auch islamophobisch verurteilt. Für eingefleischte Israel-Solidarisierer ist sie, so besehen, ein gefundenes Fressen. Abstrus scheinen mir diejenigen unter den deutschen Linken zu sein, die sie als kämpferischen Faktor gegen den westlichen Kapitalismus und Imperialismus ansehen. Die Hamas ist kein Träger von Emanzipation in irgendeinem westlichen Sinne. Nicht minder bedenklich ist aber, daß man offenbar das Kind mit dem Bade ausschütten möchte: Solange die Hamas die demokratisch gewählte Mehrheitspartei der Plästinenser ist, wird man sie auch als Dialog – vielleicht auch Verhandlungspartner akzeptieren müssen. Ob sie dazu gewillt ist, muß man noch abwarten. Realpolitik hat bekanntlich schon manches Unwahrscheinliche wirklich werden lassen.

E-Mail-Interview: Alexander Reich

Aus: junge Welt, 14. Oktober 2006


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