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Zionismus und Rassismus

Vor 35 Jahren verurteilte die Vollversammlung der Vereinten Nationen Israels Staatsdoktrin

Von Moshe Zuckermann *

Am 10. November 1975 geschah etwas, das man für entweder gravierend oder – gemessen daran, daß dies Gravierende späterhin annulliert wurde – für nichtig erachten kann. Die UN-Vollversammlung entschied: » (…) der Zionismus ist eine Form des Rassismus und der rassischen Diskriminierung«. Die Stimmverteilung für und wider das Verdikt darf sowohl beim Beschluß als auch bei dessen nachmaliger Annullierung außer acht gelassen werden; sie verdankte sich der jeweiligen, deutlich zeitgeistgeschwängerten politischen Konstellation der UN-Vollversammlung. Da aber der an den Zionismus ergehende Vorwurf des Rassismus durch die Aufhebung der institutionellen Entscheidung mitnichten aus der Welt geräumt ist, lohnt es sich, das Problem besagter Zuschreibung grundsätzlich zu reflektieren.

Man kann es sich dabei leicht machen, indem man den Begriff des Rassismus auf seine ursprüngliche, namentlich biologistische Grundbedeutung zurückführt und nachweist, daß sich der historische Zionismus nicht durch ein ideologisches Postulat der Rassenreinheit auszeichnete. Zwar weist die jüdische Halacha in ihrer Definition des Juden eine biologische Komponente auf – Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde –, aber zum einen gründet diese Doktrin nicht im Zionismus, sondern im religiösen Judentum; zum anderen ist selbst sie prinzipiell »überwindbar«: Denn Jude ist auch der, der eine orthodox anerkannte Konversion zum Judentum begangen hat. Es stimmt zwar, daß das religiöse Judentum (in striktem Gegensatz zu Christentum und Islam) nicht missionarisch ausgerichtet ist, traditionell mithin einer Abgrenzung gegenüber Nichtjuden das Wort redet, aber dies hat nichts mit der Ideologie einer modernen Rassenbiologie zu tun, sondern, wenn überhaupt, mit dem religiös-archaischen Auserwähltheitsgedanken sowie mit der historisch begründeten Ambition, als Religionsgemeinschaft im Diasporischen und im Kontext einer langen Verfolgungsgeschichte zu überdauern.

Ein Blick auf Israels Straßen genügt zudem, um sich davon zu überzeugen, wie »rassisch« und ethnisch durchmischt das aus aller Herren Länder im Einwanderungsland Israel zusammengekommene jüdische Kollektiv selbst ist. Selbst wenn man in Anschlag bringt, daß ein Theodor Herzl seinerzeit sich nur schwerlich hätte vorstellen können, daß der von ihm antizipierte Judenstaat dereinst auch dunkelhäutige äthiopische und »nichtweiße« orientalische Juden zu seinen Bürgern zählen würde – und in der Tat verstand sich das zionistische Projekt ursprünglich primär als ein europäisches, mithin aschkenasisches Unterfangen –, so kann ihm nicht im nachhinein unterstellt werden, rassistischem Gedankengut aufgesessen zu sein.

Die nationale Lösung

Nun ist aber auch kaum anzunehmen, daß der gegen den Zionismus erhobene Vorwurf des Rassismus biologistisch gedacht war. Gemeint war vielmehr, daß der Zionismus das proklamierte Objekt seiner Emanzipationsbestrebung so eng faßt, daß sich diese Bestrebung mit Postulaten westlicher Emanzipationsvorstellungen als letztlich unvereinbar erweist. Denn der nicht von ungefähr abstrakt konzipierte, spätestens seit der Französischen Revolution zum politischen Maßstab geadelte Bürgerbegriff wollte sich gerade solcher Partikulareinschränkungen wie Religion, Rasse, Ethnie und (späterhin) Geschlecht entledigen, was zwangsläufig mit der Kategorie des Juden als ausschließlichem Kriterium der Zugehörigkeit zum sich als Nation konstituierenden (zionistischen) Kollektiv und des damit einhergehenden Anspruchs auf automatische Staatsbürgerschaft kollidieren mußte. Wenn nur Juden (und zwar jeder Jude, wo immer er lebt) einen unhinterfragbaren Anspruch auf die israelische Staatsbügerschaft erheben dürfen, dann findet sich darin in der Tat ein Element diskriminierender Ausschließlichkeit. Was dabei dieses spezifische Moment der Diskriminierung von anderen vergleichbaren Exklu­sionspostulaten, wie sie sich heutzutage zunehmend in Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit europäischer Länder manifestiert, unterscheidet, ist der schiere Umstand, daß im Falle des Zionismus das Kriterium der Ausschließlichkeit von Anbeginn zur staatsoffiziellen Doktrin, ja zur raison d’être des zionistischen Staates erhoben wurde.

Zu fragen ist freilich, ob dies für sich genommen angreifbar ist. Denn nicht die Tatsache, daß der Zionismus sich von vornherein als nationale Befreiungsbewegung der Juden definierte, wäre in diesem Zusammenhang zu hinterfragen, sondern die historischen Vorbedingungen der schieren Notwendigkeit, die Juden separat emanzipieren zu sollen. Es gibt zwar Strömungen im heutigen Zionismus, die behaupten, der Zionismus hätte sich auf jeden Fall von sich aus als Bewegung der kulturellen wie nationalen Erneuerung des diasporisch degenerierenden Judentums konstituiert, aber man geht wohl kaum fehl, wenn man dem entgegenhält, daß die Schlagkraft dieser (national-kulturellen) Erneuerung sich aus einem reaktiven Moment des Zionismus speiste, namentlich aus dem für das europäische Judentum im ausgehenden 19. Jahrhundert zur nicht ignorierbaren Bedrohung gewachsenen Antisemitismus. Nicht Juden, sondern Nichtjuden schufen das sogenannte »jüdische Problem«; als es sich aber als solches formuliert und gesellschaftlich-politisch etabliert hatte, mußten sich Juden, die es verinnerlicht hatten, mit ihm nolens volens auseinandersetzen.

Dabei boten sich ihnen drei säkulare Lösungswege: der (vor allem von deutschen Juden angestrebte) Weg der Assimilation; der (von kosmopolitisch ausgerichteten Juden erwählte) des Sozialismus; und eben der des auf die Errichtung einer nationalen Heimstätte für die Juden zielenden politischen Zionismus. Letzterer kann nicht einfach als partikulare, daher unzureichende Lösung wegdiskutiert werden. Denn nicht nur erwuchs der politische Zionismus aus dem Geiste nationaler Emanzipationsbestrebungen des europäischen 19. Jahrhunderts und verstand sich darin eben als partikulare Bestrebung, wie sie allen nationalen Aspirationen jener Zeit zu eigen war; sondern man muß auch bedenken, daß selbst ein Mann vom Schlage Moses Hess, immerhin dem Kreise von Marx und Engels verbunden und zunächst dezidiert universalistischen Erlösungsvorstellungen verpflichtet, sich angesichts der Nationalkonflikte Europas und des anwachsenden Antisemitismus letztlich doch der Idee eines sozialistisch beseelten Zionismus verschrieb, mithin postulierte, »das jüdische Problem« bedürfe der nationalen Lösung.

Nimmt man noch hinzu, daß sich mit dem Holocaust die vom Zionismus angetriebene nationale Lösung des »jüdischen Problems« als akute Notwendigkeit der Schaffung einer Zufluchtsstätte für die Überlebenden der welthistorischen Monstrosität ausnahm, dann relativiert sich das Partikularitätsproblem der den Juden unmittelbar nach der Katastrophe real angebotenen »Lösung« ihres »Problems« zumindest in der Logik jenes historischen Ausnahmezustands und des ihm verschwisterten Gefühls gebotener Dringlichkeit.

Perpetuiertes Unrecht

Nun hat sich aber das, was sich damals als reale historische Notwendigkeit ausnahm und alsbald verobjektivieren sollte, nicht im luftleeren Raum, sondern in einem neuralgischen Kontext zugetragen. Die Gründung des zionistischen Staates ging bekanntlich mit der kollektiven Katastrophe der palästinensischen Bevölkerung im Territorium dieses Staates und einem gewaltigen, von Juden am palästinensischen Kollektiv verübten historischen Unrecht einher. Ob sich dieses Unrecht aus dem Wesen des Zionismus (also als etwas von vornherein im Zionismus Angelegtes) ableitete oder sich als tragische Konstellation im zeitgenössischen Zusammenhang deutet, spielt im hier erörterten Kontext eine eher geringe Rolle. Dieses Unrecht besteht und ist mit der israelischen Okkupationpraxis seit 1967 intensiviert, mithin immer wirkmächtiger geworden, ungeachtet der Apostrophierung des Zionismus als »eine Form des Rassismus«. Zu fragen bleibt freilich, ob die realen geschichtlichen Voraussetzungen für den Zustand des perpetuierten Unrechts in sich schon die strukturelle Tendenz zu dem bargen, was sich nachmalig als Rassismus ausnehmen mochte. Die Antwort darauf könnte positiv, mit nicht minderem Recht jedoch auch negativ ausfallen. Denn würde es beispielsweise zu einer Beilegung des israelisch-palästinensischen Konflikts im Sinne der Zwei-Staaten-Lösung kommen (von der binationalen Lösung ganz zu schweigen, aber die würde ja auch das Ende des historischen zionistischen Projekts bedeuten), würde sich kaum jemand noch einfallen lassen, den befriedeten Zionismus als rassistisch zu bezeichnen. Man würde sich in diesem Falle einer ohnehin prekären Wesensbestimmung des Zionismus enthalten und sich den auch in ihm angelegten Potential historischen Wandels verschreiben wollen.

Strukturelle Exklusion

Zu eilig darf man freilich nicht zu diesem (eh noch visionären) Urteil gelangen. Denn der israelische Alltag wie auch die gegenwärtig vorwaltende hohe Politik Israels setzen offenbar alles daran, dem UNO-Verdikt von 1975 noch im nachhinein Geltung zu verschaffen. Viel ließe sich dazu anführen; dies würde aber den hier gebotenen Rahmen sprengen. Wenige ausgesuchte Beispiele seien statt dessen exemplarisch dargelegt.

»Das Eindringen des Faschismus aus den Straßenrändern in die Korridore der Herrschaft«, schreibt der israelische Historiker Danny Gottwein (Haaretz, 9.11.2010), »ist einer der Wege, deren sich die israelische Rechte bedient, um sich mit dem Wandel der gesellschaftlichen Funktion der Okkupation auseinanderzusetzen. Die Modifikation des Staatsbürgerschaftsgesetzes, die darauf aus ist, einen Treueeid auf Israel als einen jüdischen und demokratischen Staat einzubeziehen, ist ein Ausdruck davon.«

Gottwein verweist in diesen wenigen Sätzen auf die strukturelle Diskrepanz zwischen dem Selbstbild Israels als einem demokratischen Staat, der sogar vorgibt, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein, und seiner politischen Realität, die sich gesetzlicher Mittel bedient, welche bei jedem Demokraten berechtigtes Entsetzen hervorrufen dürften. Denn nicht nur ist das Kriterium des Jüdischen unter Juden selbst mitnichten konsensuell geklärt (das Gegenteil ist der Fall) – Israel ist darüber hinaus nun einmal ein Staat, in welchem (staatsoffiziell anerkannt) mindestens 1,3 Millionen Nichtjuden, arabische Bürger, leben. Die irreale, dafür mit um so größerer Emphase ausgesprochene Erwartung, daß diese nichtjüdischen Bürger Israel als einen jüdischen Staat anerkennen (und nicht etwa als den Staat all seiner Bürger, in welchem sie als gleichberechtigte Bürger einbezogen wären), läuft auf nichts anderes hinaus als auf ihre strukturelle Exklusion aus der bürgerlichen Gemeinschaft des Landes. Dies ist freilich schon seit Gründung des Staates das etablierte Grundmuster. Offiziell sind Israels Araber gleichberechtigte Bürger des Staates; de facto leben sie aber seit Jahrzehnten (in nahezu allen Lebensbereichen) als Bürger zweiter Klasse. Neu ist die nunmehr gesetzlich vorangetriebene Identitätsfarce, die – aus der politischen Ecke Avigdor Liebermans kommend – der bewußten Diskriminierung der arabischen Bevölkerung des Landes eine legale Grundlage zu verschaffen trachtet. Das hat mit biologistischem Rassismus nichts zu tun, sehr wohl aber mit einem ethnisch beseelten politischen Rassismus, der sich mit der faschistischen Brachialität Liebermans nur zu gut in Einklang weiß.

Nachbarn nach Wunsch

Danny Gottwein indiziert, daß die faschistische Tendenz sich von den Rändern der Straße in die Mitte der politischen Herrschaft bewegt. Zu denken ist eher eine dialektische Wechselwirkung: Die politische Klasse nimmt auf, was ihr »die Straße« zufaucht, formt aber zugleich das Fauchen, facht es an und legitimiert es. So eröffnet etwa die Publizistin Avirama Golan eine mit der Drohung »Du bist der nächste Araber« betitelte Kolumne (Haaretz, 3.11.2010) mit den Worten: »Was ist so schlimm daran – sagte mir G. –, daß Menschen in Gemeinden sich ihre Nachbarn aussuchen wollen? Ich rede von der Bestrebung, in einem schönen, sauberen Ort zu leben, den Kindern eine hochwertige Erziehung in einer qualitativ hochstehenden Gemeinde angedeihen zu lassen; was ist also so schlimm daran, daß man keine Araber haben möchte? Sie passen doch wirklich nicht zu einer Ortsgemeinde mit jüdisch-zionistischer Couleur.« Golan klärt G., einen orientalischen Juden mit einer Frau aus der ehemaligen Sowjetunion, auf, macht ihm plausibel, warum er selbst kaum eine Chance hätte, in der von ihm idealisierten Gemeinde aufgenommen zu werden, und beendet ihre Kolumne wie folgt: »G. ist in eine faschistische Falle hineingetappt, die ihn mit dem hohlen Titel ›Jude‹ entschädigt, während sie seine staatsbürgerliche israelische Identität ausradiert, damit er nicht merkt, wie sehr seine Selbstsicherheit bereits erschüttert worden ist. Aber wieso siehst du das nicht, G.? Weißt du denn nicht, daß in den Aufnahmekomittees [besagter Gemeinden] und in allen künftig kommenden du der nächste Araber sein wirst?«

Was sich bei Avirama Golan wie eine anekdotische Fiktion des Feuilletons ausnimmt, ist krude israelische Realität, dezidierte Praxis der parlamentarischen Legislative. In der Tat hat der Verfassungsausschuß der Knesset Ende Oktober dieses Jahres einen Gesetzesentwurf verhandelt, der die Aufnahmekomittees von Gemeinden gesetzlich ermächtigen soll, Anwärter auf Aufnahme in die Ortsgemeinden nach Kriterien »der Anpassung an die Grundanschauung der Gemeinde« und »der sozialen Anpassung an den Geist der Gemeinde, ihre Lebensweise und ihre soziale Zusammensetzung« anzunehmen oder abzuweisen. Nicht von ungefähr heißt es im Leitartikel der Haaretz vom 27.10.2010: »Das ist ein empörender Entwurf, der einen Beschluß des Obersten Gerichtshofes (…) skrupellos umgeht. Die Ortsgemeinden werden auf öffentlichem Boden errichtet und bieten den Anwärtern eine hohe Lebensqualität zu relativ niedrigem Preis an, um das kontroverse Ziel einer ›Judaisierung‹ ganzer Landstriche zu verwirklichen«. Soziale »Anpassung« ans »Jüdische« des Ortes also zwecks prästabilisierter Ausgrenzung von Arabern (oder auch anderen unliebsamen Nichtjuden), welche ihrerseits in einer von oben generierten Politik der »Judaisierung« arabisch bevölkerter Landstriche Israels gründet. Dieses Postulat landnehmender Expansion eignete freilich dem Zionismus von seiner Frühzeit an.

Politik und Religion

Die Konstellation wechselseitiger Wirkung von diskriminatorischer hoher Politik und alltagsrassistischem Ressentiment verbandelt sich in Israel auch zunehmend mit der Religion. Das letzte eklatante Beispiel für diese unselige Verschwisterung war in der nordisraelischen Stadt Safed zu verzeichnen. Auch dieses Falls nahm sich ein Leitartikel der Haaretz an (8.11.2010): »500 arabische Studenten, die im College der Stadt lernen, waren Opfer einer häßlichen öffentlichen Attacke, die in Gewalt gegen drei von ihnen gipfelte. Der oberste Rabbiner der Stadt, Shmuel Eliyahu, veröffentlichte letztens ein halachisches Verdikt, welches Juden verbietet, Arabern in der Stadt Wohnungen zu vermieten; von einer Notversammlung, an der 18 Rabbiner und rund 400 Anhänger teilnahmen, ging ein ähnlicher Aufruf aus. Der Vizebürgermeister der Stadt unterstützte die Versammlung. Ein 89jähriger Bürger der Stadt (…) wurde in seinem Leben bedroht, nachdem er seine Wohnung an beduinische Studenten vermietete.« Shmuel Eliyahu ist kein Kind von traurigen Eltern: In der Vergangenheit rief er bereits dazu auf, Araber aus dem College der Stadt Safed zu verjagen, und ging gar soweit, die Ermordung Unschuldiger zu befürworten, wenn sie Palästinenser sind. Daß Regierungangehörige und die Munizipalobrigkeit diesen blanken Rassismus durch Schweigen legitimieren, darf nicht verwundern. Auch nicht, daß der Rabbiner seine rassistischen Auslassungen damit begründet, daß es »so in der Thora geschrieben steht«. Denn was ist schon von einer Regierungsmannschaft zu erwarten, die einen Avigdor Lieberman, den Initiator des Treueeid-Gesetzes, zum Außenminister und die rechtsradikalsten Elemente der israelischen Parteienlandschaft zu Koalitionspartnern erkoren hat? Auch die bigotte Bibeltreue des Stadtrabbinners birgt einen realen Wahrheitskern – denn in der Tat läßt sich manches der Thora entnehmen, das mit den Rassismen des Rabbiners vollauf kompatibel wäre. Ein orthodoxer Rabbiner ist seinem Beruf nach nun einmal ein Vermittler der Thora, Werber halachischer Lebensweise und Bekämpfer all dessen, was seinen religiösen Wahrheiten entgegensteht.

Von Verfolgten zu Verfolgern

Nur stellt sich dann halt die Frage aufs neue, ob somit der Zionismus vielleicht doch für rassistisch zu erachten sei. Die Antwort lautet weiterhin: nein – jedenfalls insofern der Zionismus als prononciertes Erzeugnis des europäischen Nationalismus begriffen wird. Was Rassismus, Fremden- und Ausländerhaß anbelangt, hat er keinem anderen Nationalstaat des Westens etwas voraus. Die Spezifität der ihm nachweisbaren rassistischen Elemente (die hier nur lapidar skizziert werden konnten) erklärt sich aus seinem Entstehungszusammenhang und seiner präzedenzlosen historischen Genese, mithin aus seinem wesentlich reaktiven Charakter: Der zionistische Rassismus »verdankt« sich in vielem dem europäischen Antisemitismus, nicht zuletzt in seiner ideologischen Selbstgewißheit und seinem selbstgerechten Hang zur (geschichtlichen) Verdrängung. Am Rande bemerkt sei hier nur, daß er darin auch im innerjüdischen Diskurs (etwa zwischen aschkenasischen und orientalischen Juden) nicht haltmacht.

Eine ganz andere Frage ist freilich, ob sich Israels Staats- und Gesellschaftsrealität (ungeachtet essentialistischer Wesensbestimmungen des Zionismus als solchen) durch Rassismus auszeichnet. Und diese Frage muß – zumindest im Hinblick auf die immer beredter sich manifestierende Gesamttendenz – entschieden bejaht werden. Die unselige Konstellation von geschichtlicher Verfolgungsneurose, politischer Ideologie der Expansion, religiös-messianischem Wahn und realer (selbstgewollter?) Sackgasse in der Handhabung des Nahostkonflikts hat inzwischen die ursprüngliche Idee emanzipierter nationaler Souveränität in eine regressiv-repressive »Rückbesinnung auf sich selbst« umkippen lassen, bei der die historische Angst vorm Verfolgtsein in eine brachiale Ideologie der Verfolgung, »Judentum« zur reaktionären Kampfparole gegen Fremde und das Gedenken an historischen Rassenwahn in eigenen Rassismus umgeschlagen sind. Das hat nicht unbedingt etwas mit Zionismus, viel aber mit der Art und Weise zu tun, wie sich seine Träger in den »Straßenrändern« und den »Korridoren der Herrschaft« gegenwärtig meinen, setzen zu sollen.

* Der Soziologe Moshe Zuckermann lehrt seit 1990 am Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas (Universität Tel Aviv) und war von 2000 bis 2005 Direktor des Instituts für Deutsche Geschichte in Tel Aviv.

Zuletzt erschien von Moshe Zuckermann: »Antisemit!« Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument. Wien, Promedia Verlag, 208 Seiten, brosch., 15,90 Euro.

Aus: junge Welt, 17. November 2010



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