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Israel in der Nahost-Strategie der USA

Von Ernst Woit

Obwohl ernsthaft niemand daran zweifelt, dass die USA zumindest seit dem Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts der Hauptverbündete Israels sind, werden die strategischen Ziele dieses Bündnisses, die ihm zugrunde liegenden Interessen und seine Auswirkungen auf Krieg und Frieden im Nahen Osten in den wichtigsten Massenmedien nur selten behandelt. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass beide Bündnispartner prinzipiell darin übereinstimmen, sich bei der Durchsetzung ihrer Ziele in erheblichem Maße militärischer Mittel zu bedienen und sich dabei nicht durch geltendes Völkerrecht, insbesondere auch nicht durch die Charta und die Beschlüsse der UN behindern zu lassen. Besonders aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Militarisierung Israels und seine Hochrüstung zur Kernwaffenmacht, die Inszenierung eines «Friedensprozesses», der von seiner ganzen Anlage her nicht zum Frieden zwischen Israelis und Palästinensern führen konnte, und das Militärbündnis Israels mit der Türkei.

Ursachen der Militarisierung Israels

Ein deutliches Indiz für den Grad der Militarisierung eines Staates ist der Anteil der Militärausgaben an seinem Gesamthaushalt. Er beträgt im Falle Israels immerhin 17,9 % gegenüber 3,3 % in den USA und 2,7 % in Großbritannien.(1) Die Profilierung Isra-els zu einem Staat, in dem das Militär absolut dominiert, hängt sowohl mit der gewaltsamen Expansion seines Territoriums als auch der Bereitschaft zusammen, Interessenkonflikte mit den Nach-barstaaten wie auch mit den Palästinensern in den von Israel besetzten Gebieten vorrangig mit militärischen Mitteln auszutragen. Im Rückblick auf 50 Jahre Israel charakterisierte der an der Bundeswehruniversität München lehrende Michael Wolffsohn die territoriale Ausdehnung Israels so: «Ohne die Frage nach der Kriegsschuld klären zu wollen, stellen wir fest, dass Israels Territorium schon nach dem ersten arabisch-israelischen Waffengang im Jahre 1949 größer war als bei der Staatsgründung im Mai 1948. ... der Sechs-Tage-Krieg veränderte die geopolitische Situation völlig... Durch den 1982 geführten Krieg gegen die PLO im Libanon hatte Israel dann ungefähr die Gebiete unter Kontrolle, die schon lange vor der Staatsgründung, im Jahre 1919, von der Zionistischen Weltorganisation gefordert worden waren.»(2) Aus der Tatsache, dass die israelische Armee seit 1967 in den von Israel annektierten Gebieten als Besatzungsarmee fungiert, ergibt sich ein eigenständiger starker Militarisierungseffekt. Dieser wird durch die völkerrechtswidrige Errichtung von immer mehr jüdischen Siedlungen auf besetztem palästinensischem Territorium noch verstärkt. Die Folge davon ist, wie Peter Scholl-Latour kritisiert, «dass fünftausend zionistische Siedler im Gaza-Streifen der arabischen Bevölkerungsmasse ein Viertel ihres ohnehin winzigen Territoriums vorenthalten und durch ein völlig disproportioniertes Militäraufgebot geschützt werden müssen.»(3)

Insgesamt führte dieser aggressive Expansionskurs Israels und seine permanent die Menschenrechte der Palästinenser verletzende Besatzungspolitik immer wieder zu Abstimmungsniederlagen in der UNO und außenpolitischer Isolierung. Nach Wolffsohn ist Israel eben dadurch «ein Fremdkörper im fast ausschließlich arabisch-islamischen Nahen Osten», was seiner Einschätzung nach wiederum dazu führt, dass die «Regionalpolitik Israels ... fast ausschließlich militärisch bestimmt» blieb.(4) Obwohl durchaus nicht alle Auseinandersetzungen Israels mit seinen Nachbarstaaten dem globalstrategischen Gesamtinteresse der USA entsprachen (weshalb sie z. B. 1978 Israel im Vertrag von Camp David zwangen, die Sinai-Halbinsel an Ägypten zurückzugeben), haben die USA Israel spätestens seit dem Ölschock 1973/74 permanent politisch, wirtschaftlich und militärisch massiv unterstützt. Sehr oft war es das Veto der USA, das Israel vor einer Verurteilung durch den UN-Sicherheitsrat bewahrte. Nach Wolffsohn dokumentiert diese Unterstützung «einerseits das globale und strategische Interesse der USA am jüdischen Staat; sie signalisiert andererseits die Tatsache, dass sich Israel im Ernstfall selber helfen müsste und an ein direktes amerikanisches Eingreifen kaum zu denken wäre. ... So gesehen, gehört die massive Hilfe an Israel auch zum Preis, den die USA zahlen müssen, um ohne einen Großeinsatz eigener Soldaten amerikanische Interessen im Nahen Osten wahrnehmen zu können.»(5) US-amerikanische Interessen im Nahen Osten - das sind vor allem Interessen, die mit der ungehinderten Verfügung über die dortigen Erdölvorräte zusammenhängen. Weil Israel dabei zwar nicht der einzige, aber der Hauptverbündete der USA ist, ist das auch von prägender Bedeutung für seine innere Verfassung: «Die ‹Friedensordnung im Heiligen Land›» - so Scholl-Latour - «offenbart sich ... unverblümt als Teilaspekt der imperialen Pax Americana.»(6)

Kernwaffenmacht Israel

Israel verfügt inzwischen über ein Kernwaffen-Arsenal, das aus 200 bis 300 Sprengköpfen besteht.(7) Als «Vater der israelischen Atombombe» gilt der Kernphysiker Yu' Val Ne'man, während unter den israelischen Politikern der Sozialdemokrat Shimon Peres die treibende Kraft hinter dem israelischen Nuklearwaffenprogramm war.(8) «Im Jahr 1952», sagte Peres später einem israelischen Reporter, «stand ich ganz allein da mit meinem Ziel, die israelische Kernwaffenoption durchzusetzen.»(9) Er war es, der zur Absicherung des Atomprojekts auf der Schaffung eines neuen, speziellen Nachrichtendienstes bestand, die Beschaffung von Spenden bei jüdischen Millionären im Ausland betrieb, und jede internationale Kontrolle des offiziell als zivil hingestellten israelischen Nuklearprogramms ablehnte.(10) 1966 verteidigte Peres Israels Entscheidung, der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA) Kontrollen zu verweigern, «mit der Begründung, die Araber seien im konventionellen Bereich überlegen.»(11) Nachdem die britische Sunday Times am 5. Oktober 1986 einen Bericht des ins Ausland geflohenen israelischen Kernphysikers Mordecai Vanunu über die israelische Kernwaffenproduktion veröffentlicht hatte, an der er bis zu seiner Flucht persönlich mitgewirkt hatte, war es Peres, der den israelischen Geheimdienst Mossad beauftragte, Vanunu in London zu kidnappen und in israelischen Gewahrsam zu bringen, wo er seitdem eingekerkert ist.(12) Schließlich hatte Shimon Peres auch maßgeblichen Anteil an der Herstellung einer engen Kooperation Israels mit dem südafrikanischen Apartheid-Regime auf dem Gebiet der Waffenent-wicklung und insbesondere der Nuklearrüstung.(13) Diese Kooperation ermöglichte es Israel, am 22. September 1979 über dem Südatlantik einen Nuklearw-affentest durchzuführen. Auch deshalb ist es durchaus berechtigt, ja unerlässlich, den späteren Friedensnobelpreisträger Shimon Peres - wie Gush Shalom das kürzlich getan hat - als das einzuschätzen, was er tatsächlich war und geblieben ist: «ein traditioneller zionistischer Falke».(14)

Inzwischen verfügt Israel nicht nur über ein umfangreiches Arsenal unterschiedlicher Nuklearwaffen einschließlich Neutronensprengköpfen, sondern auch über die unterschiedlichsten Trägermittel bis hin zu Interkontinentalraketen. Im September 1988 schoss Israel seinen ersten Satelliten ins All und ist inzwischen neben den USA und Russland das dritte Land, das Cruise Missiles mit einer Reichweite von 1.500 Kilometern von U-Booten aus starten kann. Dabei handelt es sich übrigens um U-Boote des Typs «Delfin», die von Deutschland finanziert und produziert wurden.(15) Doch nicht nur, dass Israel sich unter Ignorierung aller völkerrechtlichen Vereinbarungen zur Kontrolle und Verminderung nuklearer Rüstungen ein Kernwaffenpotential von strategischer Bedeutung schuf - es schreckte auch nicht davor zurück, ähnliche Entwicklungen in anderen Ländern mit allen Mitteln, auch mit Waffengewalt zu verhindern. So bombardierte und zerstörte die israelische Luftwaffe am 7. September 1981 den in Bau befindlichen Atomreaktor in Osirak bei Bagdad. Überlegungen israelischer Politiker und Militärs, ähnlich auch gegen andere Länder vorzugehen, hat es seitdem mehrfach gegeben. So schlug der damalige israelische Verteidigungsminister Ariel Scharon während des Libanonkrieges 1982 vor, man solle Syrien mit Nuklearwaffen angreifen.(16) Am 28. September 1998 votierte der gerade zum Generalstabschef ernannte Generalleutnant Schaul Mofaz mit folgender ‹Argumentation› dafür, den Iran anzugreifen: «Ein Präemtivschlag war immer ein Teil von Israels strategischen Optionen. Die Ausrüstung eines extremistischen Landes wie dem Iran mit weitreichenden Raketen, die mit nicht-konventionellen Raketengefechtsköpfen ausgestattet werden können, könnte auf längere Sicht zu einer existentiellen Bedrohung Israels werden.»(17)

Nach Seymour M. Hersh ist es schon bemerkenswert, «dass einer der wichtigsten Verbündeten der USA ... heimlich ein beachtliches Atomwaffenarsenal aufbauen konnte, während Washington einfach schwieg und die Augen geschlossen hielt.»(18) Tatsächlich hat Israel auf seinem Wege zu einer Kernwaffenmacht in extremer Weise all die Eigenschaften und Praktiken entwickelt, die typisch für jene Staaten sind, die von den USA gemeinhin als «Schurkenstaaten» bezeichnet und bekämpft werden. Demgegenüber haben die US-Strategen die Entwicklung Israels zur Kernwaffenmacht nicht ein einziges Mal öffentlich kritisiert, sondern vielmehr nach Kräften unterstützt. Immerhin haben die USA Israel die meisten Trägersysteme für seine Kernwaffen geliefert. Das alles hängt letztlich damit zusammen, dass die Existenz dieser Kernwaffenmacht ein wohl kalkulierter Bestandteil der Nahost-Strategie der USA gegenüber den arabischen Ländern ist.

Ein «Friedensprozess», der keinen Frieden bringen konnte

Nahezu ausnahmslos wird in den meisten Massenmedien mit großer Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, dass mit bzw. durch den Beginn der Zweiten Intifada der Palästinenser dort der bis dahin im Gange gewesene ‹Friedensprozess im Nahen Osten› unterbrochen oder gar abgebrochen sei. Diese Einschätzung steht in deutlichem Gegensatz zu den Urteilen, die ausgewiesene Kenner der dortigen Situation in ihren Analysen seit längerem publizieren. Und das nicht erst seit jenem Prozess, der mit dem am 13. 9.1993 in Washington unterzeichneten Gaza-Jericho-Abkommen begann, wofür die Unterzeichner dieses Abkommens Jassir Arafat, Yitzhak Rabin und Shimon Peres 1994 bekanntlich den Friedensnobelpreis erhielten.

Der Begriff «Friedensprozess» ist für das, was Israel mit seinen arabischen Nachbarn - oder gegen sie - anstrebt, in den meisten Massenmedien des NATO-Bereiches spätestens seit dem Abschluss eines separaten Friedensvertrages zwischen Israel und Ägypten 1979 gängig. Zugleich muss man ihn sowohl in Hinblick auf seinen Realitätsgehalt als auch hinsichtlich der Zielsetzung seiner Verwendung als irritierend bezeichnen. So kommt Andreas Rieck vom Deutschen Orient-Institut in Hamburg bereits 1991 in einer Analyse des arabisch-israelischen Konflikts zu dem Schluss: «Die seit dem ägyptisch-israelischen Separatfrieden von 1978/79 so beliebt gewordene Floskel vom ‹Friedenspro-zess› im Nahen Osten ist ein starker Euphemismus, wenn nicht eine irreführende Bezeichnung für die tatsächliche Entwicklung der Beziehungen zwischen Israel, seinen arabischen Nachbarn und den Palästinensern.»(19)

Unmittelbar nach Beginn der Zweiten Intifada betonte der namhafte israelische Journalist Uri Avnery, dass es sich dabei um einen «Volksaufstand der Palästinenser» handelt, um die «Entladung einer Wut, die sich seit Jahren aufgestaut hat, und besonders seit dem Amtsantritt von Barak. ... seit er an die Macht gekommen ist, hat sich die Lage verschärft, und nicht entschärft. In den besetzten Gebieten geht täglich die Erweiterung der Siedlungen vor sich, Boden wird enteignet, Häuser werden demoliert, die Palästinenser glauben, sie werden täglich im ganzen Lande, in den ganzen besetzten Gebieten von Israel angegriffen, und sie sehen, dass in dem sogenannten ‹Friedensprozess› überhaupt nichts vor sich geht. Viel Gerede, aber nicht ein einziger Schritt vorwärts.»(20) Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangte der an der Columbia-University in den USA lehrende Edward Said. Für ihn war der «Osloer Friedensprozess ein hoffnungsloser Irrläufer seit der ersten Stunde», denn die «Führer der Arbeiterpartei und des Likud-Blocks machten kein Hehl daraus, dass der Osloer Vertrag die Palästinenser in unzusammenhängenden Enklaven abschotten sollte: umringt von israelisch kontrollierten Grenzen und zerschnitten von Siedlungen und Siedlungsstraßen, die den Zusammenhalt der Gebiete zerstörten. Enteignungen und die Zerstörung von Häusern sind unter den Regierungen Rabin, Peres, Netanjahu und Barak an der Tagesordnung gewesen, die israelischen Siedlungen haben sich permanent vergrößert (200.000 israelische Juden in Jerusalem, 200.000 weitere im Gaza-Streifen und im Westjordanland) die militärische Besatzung nahm kein Ende... Jeder winzige Schritt in Richtung einer Souveränität Palästinas - und dazu gehörte auch der vereinbarte langsame Rückzug aus den besetzten Gebieten - wurde von Israel aufgeschoben und unmöglich gemacht.»(21) «Die Kritiker, die in den Osloer Verträgen nie eine reale Friedensperspektive gesehen haben», sind nach dem Urteil des Völkerrechtlers Norman Paech «leider nachhaltig bestätigt worden». Er führt das insbesondere darauf zurück, dass Israel mit Unterstützung der USA Palästinenserführer Arafat zwingen wollte, «ein Besatzungsstatut als Friedensrege-lung anzuerkennen und auch noch zum langen Arm für dessen Durchsetzung degradiert zu werden.»(22) Tatsächlich hat die völkerrechtswidrige Siedlungspolitik Israels in dem von ihm seit 1976 besetzten Gebieten dazu geführt, dass das palästinensische Territorium inzwischen einem «Flickenteppich» gleicht.(23) Im Ergebnis dessen sind die autonom genannten Gebiete tatsächlich untereinander unerreichbare «Bantustans» und herrscht faktisch ein System von Apartheid, vergleichbar mit dem südafrikanischen Modell. Dass auf dieser Basis kein wirklicher Frieden zwischen Israel und den Palästinensern möglich ist, hat Felicitas Langer, israelische Rechtsanwältin und Trägerin des alternativen Nobelpreises, in ihrem Buch «Lasst uns wie Menschen leben!» eindrucksvoll beschrieben.(24) Diese der südafrikanischen Apartheid ähnliche Bantustanpolitik der Besatzungsmacht Israel gegenüber den Palästinensern betrifft vor allem zwei große Probleme: erstens die Flüchtlingsproblematik und zweitens die Wasserfrage. Insbesondere dazu wird die aggressiv auf unterschiedliches Lebensrecht für Juden und Araber zielende Besatzungspolitik Israels selbst von zahlreichen Israelis für gerecht und unverzichtbar gehalten, die sich selbst als «politische Linke» verstehen. Typisch für deren Einstellung zur Flüchtlingsproblematik ist die Position, die der namhafte israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk so formuliert: «Araber und Juden haben einander noch nie verstanden. Die Juden, deren Lehrmeisterin die Schoah war, verabschiedeten als erstes Gesetz das Chokk ha Shvut, das Rückkehrgesetz, das jedem Juden erlaubt, nach Israel zu kommen und dort volle Bürgerrechte zu erhalten. Dieses Gesetz ist nach international geltendem Recht nicht zulässig, doch keine Nation auf der Welt wäre bereit, Bastionen, die ihre Existenz garantieren, aufzugeben. Für das israelische Volk stellt dieses Gesetz eine solche überlebenswichtige Bastion dar. Im Zuge der Niederlage von 1948 verlangen die Araber ein Rückkehrrecht für die Flüchtlinge, die damals flohen oder vertrieben wurden. Gemessen an international gültigen Rechtsnormen, ist dies ein berechtigter Anspruch, doch Israel als eine winzige Insel von 5 Millionen Juden in einem Meer von 100 Millionen Arabern würde mit der Umsetzung dieses Rechtsanspruchs aufhören zu existieren.»(25)

Vielleicht noch deutlicher zeigt sich der kolonialistische Charakter der israelischen Besatzungspolitik in der Wasserfrage, einem Problemfeld, das in den meisten unserer Massenmedien als ein Tabu behandelt wird. Unter Militärhistorikern hingegen gilt der israelisch-arabische Sechstagekrieg von 1967 seit längerem als «erster Wasserkrieg». In diesem Krieg, den Israel aufgrund eines «hydrologischen Imperativs» führte (26), eroberte und besetzte es Gebiete, aus denen es seitdem den größten Teil seines Wassers gewinnt. Das aber ist eine Tatsache, deren Kenntnis für die richtige Beurteilung des israelisch-arabischen Konflikts von fundamentaler Bedeutung ist. So kam eine von der Akademie der Bundeswehr für Information und Kommunikation 1998 veröffentlichte Studie zur Situation in der Mittelmeer-Region u. a. zu der Einschätzung: «Im Sechstagekrieg konnte sich Israel die Grund-wasservorkommen am westlichen Ufer des Jordan sichern. Es zieht fast 90 % des Wassers für seine eigene Versorgung ab und kontrolliert seither die benötigten 40 % des gesamten Wasserbedarfs. Die Palästinenser förderten bis zur israelischen Besetzung des Westjordanlandes aus ca. 750 Brunnen Wasser, heute sind es kaum die Hälfte. Tiefboh-rungen der Israelis (angeblich bis zu 1000 m) ließen die weniger tief gehenden Brunnen der Palästinenser austrocknen. ... Die Besetzung des Golan sichert Israel die Kontrolle über den Jordan und damit über 50 % des Wassers, mit dem es seit 1967 die Wüste bewässert: auch aus dieser Sicht ist die Rückgabe der Höhen an Syrien für Jerusalem problematisch.»(27) Tatsächlich speist Israel, wie es in einer anderen Analyse heißt, «seine Wasserversorgung hauptsächlich aus Quellen außerhalb seines Staatsgebietes: durch Vorkommen auf dem syrischen Golan, im Südlibanon, in der West Bank und dem Gaza-streifen.» Mehr noch: im Gegensatz zu den Forderungen der UN-Resolution 242, sich aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen, wird «diese rechts-widrige Wassernutzung von Israel als ‹Sicher-heitsargument› missbraucht, um staatsfremdes Territorium weiterhin besetzt zu halten.»(28) Dieses Wasser wird nun auch innerhalb des gegenwärtigen israelischen Herrschaftsbereiches höchst ungleich verteilt, so dass jüdische Siedler gegenüber ihren palästinensischen Nachbarn durchaus das 50-fache an Wasser verbrauchen können.(29) Und dieses Regime höchst ungerechter Ressourcen-Nutzung wird durch die israelische Besatzungsmacht auf eine höchst spezifische Weise durchgesetzt: «Die Zuteilung der Wassermengen für die paläs-tinensische Bevölkerung wird durch die Militärbehörden festgelegt und kontrolliert. ... Die Installation von Wassernetzen, ihre Planung und Genehmigung liegen wie die Finanzierung in der alleinigen Kompetenz der Militärbehörden. ... Dazu kommt der unterschiedliche Status der Menschen. Im Gegensatz zu den Palästinensern sind die Siedler bewaffnet. ... Paradox, dass es die Bewaffneten sind, die ständig nach Sicherheit schreien.»(30) Und bisher ist ein Ende dieses Wasserkonflikts nicht in Sicht. Immerhin erklärte der damalige israelische Außenminister Shimon Peres nach dem Abschluss des Osloer Vertrages, aus dem Vertragstext «ergibt sich, dass Israel weiterhin über 73 Prozent des Bodens in den besetzten Gebieten, über 80 Prozent der Wasservorkommen und 97 Prozent der Sicherheitskräfte verfügen wird.»(31) Angesichts all dessen kann ich Alexandra Senfft nur zustimmen, wenn sie in ihrer Rezension des jüngsten Buches von Edward Said «The End of the Peace Process» (London 2000) zu der Einschätzung gelangt: «Liberale hierzulande, in Israel und anderenorts sind über den radikalen Zusammenbruch des Friedensprozesses im Nahen Osten erschrocken und enttäuscht: Rabins und Arafats Händedruck 1993 sowie die Oslo-Friedensverträge haben offenbar dazu verleitet, den Konflikt zwischen Arabern und Israelis für beigelegt und die Entwicklung für unumkehrbar zu halten. In Wahrheit haben sich diese Optimisten den Friedensprozess jahrelang schöngeredet, haben weggeschaut, die Vertragstexte nicht gelesen und Kritiker als pessimistische Querulanten abgetan.»(32) Diese Täuschung und Selbsttäuschung ist ganz sicher auch ein Resultat jener Praxis der Massenmedien, seit 1993 ständig von einem im Nahen Osten im Gange befindlichen «Friedensprozess» zu berichten, der seinen realen Grundlagen und Inhalten nach solange noch kein wirklicher Friedensprozess sein konnte, wie er nicht wirklich auf die Beendigung des seit 1967 währenden völkerrechtswidrigen und die Menschenrechte der Palästinenser missachtenden israelischen Besatzungsregimes orientiert ist.

Analysiert man die Situation genauer, in der dieser seit 1993 währende «Oslo-Friedensprozess» zu Ende kam, dann drängt sich folgende Einschätzung auf: Die USA und Israel hatten ihre wichtigsten mit diesem diplomatischen Prozess verfolgten Ziele (Beendigung der Isolierung Israels, Öffnung der arabischen Märkte für israelische Exporte, Schwächung der Einheit der arabischen Staaten und ihrer Solidarität mit den Palästinensern) bereits weit-gehend erreicht. Allein 1994 nahmen über zwan-zig Länder diplomatische Beziehungen zu Isra-el auf. In Südostasien, in Lateinamerika, im Nahen und Mittleren Osten öffneten sich Israels Exportwirtschaft einschließlich dem Waffenhandel neue Märkte. Gleichzeitig gelang es Israel mit Hilfe der Weltbank, die wirtschaftliche Abhängigkeit des Westjordanlandes und des Gazastreifens zu vergrößern.(33)

Demgegenüber hatten die Palästinenser ihre wichtigsten Ziele (Konstituierung eines eigenen souveränen Staates, Beendigung der israelischen Besatzung und der israelischen Besiedlung paläs-tinensischen Territoriums, Rückkehr bzw. Entschädigung der Flüchtlinge) noch nicht erreicht. Ihre Lösung aber stand bei der Fortsetzung der Verhandlungen unmittelbar an oder war bereits - wie die Ausrufung eines palästinensischen Staates - überfällig. Zugleich hatte sich in der palästinensischen Bevölkerung eine große und schnell wachsende Unzufriedenheit mit dem «Friedensprozess» entwickelt, denn ihr Lebensstandard war seit Beginn dieses Prozesses deutlich gesunken.(34) So konnte Scharon mit seiner Provokation auf dem Jeru-sa-lemer Tempelberg mühelos die zweite Intifada auslösen und damit zugleich das Ende eines Verhand-lungsprozesses herbeiführen, in dem Israel und die USA für ihre gemeinsame Strategie nichts mehr gewinnen, sondern nur noch das seit 1967 besetzte Territorium verlieren konnten. Diese Einschätzung wird auch durch jene «essentials» erhärtet, die für Israel - unterstützt von den USA - bisher für alle Verhandlungen mit den Palästinensern außerhalb jedes Kompromisses stehen: «die hermetische Abschirmung des palästinensischen Rumpfstaates nach außen durch israelische Polizei und Armee, die unbeschränkte Kontrolle Zahals über das westliche Jordan-Ufer; die massive Ausweitung des jü-di-schen Staatsgebiets rund um Jerusalem, längs der Verbindungsstrecke nach Hebron und im westlichen Samaria; jede Diskussion über die Rückkehr der arabischen Flüchtlinge; der Verzicht der paramilitärischen Einheiten der PLO auf schwere Waffen; der freie, militärisch abgesicherte Zugang zu den jüdischen Siedlungen der West-Bank; die Unantastbarkeit der israelischen Nuklear-Streitmacht; last not least, der ungeschmälerte Anspruch auf Jerusalem als ungeteilte und ewige Hauptstadt Israels.»(35)

Die Achse Israel - Türkei - USA

Zu einer deutlichen Veränderung des Kräftever-hält-nisses im Nahen Osten führte der 1996 zwischen der Türkei und Israel abgeschlossene Vertrag über militärische Zusammenarbeit, der durch ein Frei-handelsabkommen ergänzt und dessen Verwirklichung durch die USA entschieden unterstützt wird.(36) Durch diesen Vertrag ist das direkte militärische Zusammenwirken Israels mit der Türkei eingeleitet worden, die mit 600.000 Mann starken Streitkräften über die zehntstärksten weltweit und die zweitstärksten in der NATO verfügt. Bedeutsam ist auch, dass Israel über Kernwaffen verfügt und die USA in der Türkei Kernwaffen stationiert haben, deren Basen sie in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts noch ausgebaut haben. Die Politik der Türkei gegenüber ihren Nachbarstaaten zeichnet sich seit längerem durch Aggressivität und Missachtung des Völkerrechts aus. Hier sei nur an die Okkupation der Osthälfte Zyperns (1983), an die kaum noch zu zählenden Überfälle auf den Irak und die 1997 proklamierte Installation einer ständigen militärischen Sicherheitszone von bis zu 15 Kilometern auf irakischem Gebiet erinnert, womit die Türkei nur nachmachte, was Israel mit wiederholten Interventionen im Libanon (und jahrelanger Annexion des Südlibanon) vorgemacht hatte. Derartige Aggressionshandlungen liegen auf der selben Ebene wie die permanenten Luftüberfälle der USA und Großbritanniens auf den Irak. Das alles ist eine Praxis der permanenten Verletzung geltenden Völkerrechts und der Versuch, nach dem Ende des Warschauer Vertrages erneut das Faustrecht in den internationalen Beziehungen durchzusetzen.

Das Militärbündnis der beiden wichtigsten Verbündeten der USA in der Region, die zugleich die militärisch stärksten Regionalmächte sind, eröffnet den USA qualitativ neue Handlungsmöglich-keiten in einem Raum, der die beiden erdölreichen Subregionen Golf und Kaspisches Meer umfasst. Die Felder der Zusammenarbeit reichen von der Koordinierung der Militäraufklärung und der intensiven Rüstungskooperation bis zu gemeinsamen Manövern. Im Januar 1998 fanden erstmals gemeinsame Übungen israelischer, türkischer und US-amerikanischer Kriegsschiffe im östlichen Mittelmeer statt. Bereits 1999 begann Israel, 54 von den USA an die Türkei gelieferte F-4E Kampfflugzeuge für 630 Millionen Dollar auf den neusten Stand der Technik zu bringen. Israelische Kampfjet-Piloten üben im weiträumigen türkischen Luftraum. Das ehrgeizige, von den USA intensiv geförderte Modernisierungsprogramm der türkischen Streitkräfte, dessen Kosten für die nächsten 25 Jahre allein 150 Mrd. Dollar für militärische Hardware betragen sollen, eröffnet Israel geradezu einmalige Gewinnchancen durch den Export militärischer Hochtechnologie.(37) Strategisch ist das militärische Zusammenwirken Israels mit der Türkei unter der Vorherrschaft der USA darauf gerichtet, den Nahen Osten und den Zugang zum Mittleren Osten durch Luftherrschaft und permanente Interventionsfähigkeit absolut zu beherrschen. Nach einer US-ameri-kani-schen Studie «verändern die wachsenden Bindungen zwischen Israel und der Türkei dauerhaft das regionale Kräfteverhältnis», wobei für Israel besonders bedeutsam sei, dass die Türkei «lange Grenzen mit drei von Israels Hauptfeinden hat: Syrien, Irak und Iran.»(38)

Die Rolle und Funktion Israels in der Nahost-Strategie der USA hat US-Präsident George W. Bush in seinem während des Golfkrieges II verkündeten Konzept einer ‹Neuen Weltordnung› als «stets verfügbares Damokles-Schwert der US-Hegemonie in dieser Region» definiert.(39) Es entsprach wohl dieser Rolle, als die Regierung Scharon in der Nacht zum Ostermontag 2001 mit vier Kampfflugzeugen in einer 20-minütigen Raketenattacke eine syrische Radarstation 65 km nördlich der israelischen Grenze vernichten ließ und ein israelischer Armeesprecher im Armeerundfunk sagte, man wolle mit dem Angriff eine «Botschaft» an Syrien und die Hisbollah-Miliz senden.(40)

Anmerkungen
  1. Nach: antimilitaristische information, Berlin 31(2001)2, S.58.
  2. M. Wolffsohn: 50 Jahre Israel: Versuch einer historischen Bilanz. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung das Parlament, Bonn, Nr. 14/98 v. 27.3.1998, S.3.
  3. P. Scholl-Latour: Lügen im Heiligen Land. Berlin 1998, S. 399.
  4. M. Wolffsohn: A.a.O., S.4.
  5. M. Wolffsohn: A.a.O.,S. 6.
  6. P. Scholl-Latour: A.a.O., S.384 u. 420.
  7. Vgl.: Israels Atomstreitkräfte. In: antimilitaristische Information, Berlin 31(2001) 1, S.13 ff.
  8. Vgl.: W. E. Burrows/R. Windrem: Critical Mass. London 1994, S.292 f.
  9. S. M. Hersh: Atommacht Israel. München 1991, S.35.
  10. Ebenda, S. 68, 73, 141.
  11. Ebenda, S. 163.
  12. Ebenda, S. 207.
  13. Ebenda, S. 274.
  14. Gush Shalom: Israel: 80 Thesen für ein neues Friedenslager. In: Marxistische Blätter. Essen 39(2001)3, S.11.
  15. Nach: Wissenschaft & Frieden, Bonn, 18(2000)4, S. 4.
  16. Nach: antimilitaristische information. A.a.O., S. 21.
  17. Nach: Ebenda, S. 22.
  18. S. M. Hersh: A.a.O., S.331.
  19. A. Rieck: Der Golfkrieg als Schlüsselereignis für den arabisch-israelischen Konflikt. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 7-8/91. Beilage zu: Das Parlament, Bonn, 8. 2.1991, S.39.
  20. Interview durch K. Bednarz in «Monitor», ARD, 19.10.2000.
  21. E. Said: Die Wut und ihr Recht. Ende eines Friedensprozesses. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurt/M., 12.10.2000, S. 49.
  22. N. Paech: Die UNO und der Zionismus. In: Ossietzky, Hannover, Nr. 23/2000, S. 809.
  23. Vgl.:A. Gresh / Ph.Rekacewicz: Topographie der israelisch-palästinensischen Verhandlungen. In: Le Monde diplomatique (deutsche Ausgabe), Berlin, Februar 2000, S.12 f.
  24. F. Langer: Lasst uns wie Menschen leben ! Schein und Wirklichkeit in Palästina. Göttingen 1999.
  25. Y. Kaniuk: Krieg ohne Front. In: Die Zeit, Hamburg, Nr. 43 v. 19.10.2000, S.61. (Hervorh. E.W.)- Zur Problematik der palästinensischen Flüchtlinge s. u.a. die Dokumentation: Das palästinensische Flüchtlingsdrama. Geschichtlicher Hintergrund. In: Im Land der Bibel, Berlin, Nr.2/2000, S.24-29.
  26. Vgl.: A. v. Edig: Kriegsgrund Wasser. Verteilungskonflikte im Nahen Osten. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Bonn, H. 8/1998, S. 996.
  27. K.-G. Schirrmeister: Islamismus: Faktor in der politisch-gesellschaftlichen Ordnung oder Ausdruck des Protestes. Aspekte zur Situation in der Mittelmeer-Region. (AIK-Texte 2/98) Strausberg 1998, S. 20.
  28. A. v. Edig: Kriegsgrund Wasser. Verteilungskonflikte im Nahen Osten. A.a.O., S.997.
  29. Wasserkonflikt in Palästina. In: Archipel, Basel, Nr. 53 (September 1998), S. 6.
  30. S. F. Nasser: Nahost: Prüfstein Wasser. In: Neue Wege, Zürich 89 (1995)10, S. 291 ff. - «Es sind Tatsachen, dass seit Oslo zweimal mehr Palästinenser umgekommen sind als Israelis, meist von Soldaten erschossen.» (U. Avnery: Zwei Völker - Zwei Staaten. Heidelberg 1995. Zit. nach: PAX REPORT, Berlin, Nr. 10/11 - 1998, S. 18)I
  31. Nach S. F. Nasser, a.a.O., S. 294 f.
  32. A. Senfft: Opfer der Opfer. In: Die Zeit, Hamburg, Nr. 49 v. 30. 11.2000, S. 70.
  33. Vgl.: M. Bishara: Die fetten Jahre Israels. In: Le Monde diplomatique (deutsche Ausgabe), Berlin, April 2001, S. 17.
  34. Vgl. ebenda.
  35. P. Scholl-Latour: A.a.O., S.406 f.
  36. Zu wesentlichen Aspekten dieses Bündnisses siehe auch: A. Buro: Die Herrscher über Nahost. Das militärische Dreieck Türkei - Israel - USA. In: Wissenschaft & Frieden, Bonn 16(1998)4.
  37. Vgl. M. Johannsen: «Wenn hinten weit in der Türkei...» Konfliktpolitischer Strukturwandel im Mittleren Osten und die Rolle der USA. In: B. Schoch/U. Ratsch/ R. Mutz (Hrsg.): Friedensgutachten 1999. Münster 1999, S. 151.
  38. R. Usher: A Potent Combination. In: Time, New York, June 2, 1997, p. 33.
  39. Nach: P. Scholl-Latour: A.a.O., S.420.
  40. H. Lebrecht: Luftschlag gegen syrische Radarstation. In: Neues Deutschland, Berlin, 14.4.2001, S.3.

Aus: Marxistische Blätter, Heft 4/2001-Sonderheft (erscheint am 22. Juni 2001). Bezug über:
Marxistische Blätter, Hoffnungstr. 18, 45127 Essen.
Per e-mail:MarxBlaetter@compuserve.de


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