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"Nein, alle Wunden heilt die Zeit nicht"

Zorn und Enttäuschung über den Bericht zu Israels Libanon-Krieg - Die vielen Opfer auf beiden Seiten sind einfach vergessen worden

Von Oliver Eberhardt,Naharija, und Rafael LeClerc, Sidon *

Israels Politiker haben mit Erleichterung auf den Bericht der Winograd-Kommission zum Libanonkrieg reagiert. Dessen Opfer aber sind enttäuscht und wütend. Denn sie kommen in dem 500-Seiten-Wälzer überhaupt nicht vor.

Man sagt, die Zeit heile alle Wunden. Man sagt es auf Hebräisch, man sagt es auf Arabisch, man sagte es immer wieder in Libanon und in Israel im Laufe der vergangenen 18 Monate, während man den Schutt wegräumte, die Toten beerdigte, versuchte, die Schulden abzuarbeiten, die sich durch die wochenlange Flucht und Arbeitslosigkeit angehäuft hatten. Und im Inneren nagt die Wut auf jene, die einem dies angetan haben.

»Nein, alle Wunden heilt die Zeit nicht, man gewöhnt sich nur an den Schmerz«, meint Jigal Feldman, der am Strand von Naharija knapp vor der libanesischen Grenze sitzt, Kaffee trinkt und nur einer von vielen zu sein scheint, die sich der Normalität des Alltags hingeben. »Seit dem Krieg ist nichts mehr normal«, sagt Feldman. »Ich weiß nicht, was schlimmer ist – dass man sein Kind verloren hat oder dass dessen Tod womöglich völlig sinnlos war.«

Gestorben bei einer sinnlosen Offensive

Sein »Kind«, das ist sein Sohn Ron, der 28 war, als er in den letzten der 34 Kriegstage in einer Offensive fiel. Dabei war, wie man heute weiß, von vornherein klar, dass sie nie beendet werden würde, weil die UNO bereits über eine Resolution des Sicherheitsrates verhandelte, die das Kriegsende ermöglichen sollte. »Die Nachricht hat meinen Glauben an das System erschüttert und mein Leben zerstört«, erklärt Feldman.

Es gab Tausende Tote, die meisten auf libanesischer Seite, Hunderttausende verlorengegangene Lebensgrundlagen, Kriegsschäden in Milliardenhöhe. »Die Menschen sollten die Zielgruppe des Winograd-Berichts sein«, unterstreicht die israelische Abgeordnete Zehawa Gal-On vom linksliberalen Meretz/Jachad-Block. »Für sie wurde die Kommission damals gegründet – damit die Opfer erfahren, wer Schuld an ihrem Leid hat.«

Doch der Ausschuss unter der Leitung des pensionierten Richters Elijahu Winograd sah das anders. Es sei nicht die Aufgabe der Kommission gewesen, Verantwortlichkeiten zu klären, sondern herauszufinden, warum der Krieg ohne Sieg endete, damit Politik und Sicherheitsapparat es künftig besser machen können, verkündeten die Kommissionsmitglieder nach der Vorstellung des Berichtes.

Das macht viele der Opfer noch wütender als die Weigerung von Premier Ehud Olmert, Konsequenzen aus dem Versagen, das ihm der Report attestiert, zu ziehen und seinen Sessel zu räumen. Vor allem in Libanon wirft man der Kommission Zynismus vor, weil sie sich fast ausschließlich mit den Details der Kriegsführung befasst und die Opfer unberücksichtigt, die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel unbeantwortet lässt.

Darauf hatten sich viele Libanesen eine Antwort erhofft, denn auf libanesischer Seite sind ebenfalls viele Details unaufgearbeitet. »Vor allem bei säkularen Libanesen ist der Wunsch nach einer eigenen Untersuchungskommission groß«, konstatiert der Journalist Gerard Tabesch. »Viele fragen sich, welche Ziele die Hisbollah damals verfolgt hat, als sie diese Soldaten entführten. Und wenn sie mich fragen, dann haben die Menschen ein Recht auf eine Antwort, denn die Hisbollah beansprucht für sich, Libanon zu vertreten.«

Es sind viele zerstörte Leben, die der Krieg hier jenseits der schwer bewachten Grenze zu Libanon zurückließ. Es wird viel gebaut, und immer wieder sagen die Menschen in Beirut und im Süden des Landes, dass alles, wenn es fertig ist, viel schöner sein werde als zuvor. Nur wenn die Aufpasser der Hisbollah, jener paramilitärischen, radikalislamischen Organisation, mit der sich Israel diesen zerstörerischen Krieg lieferte, gerade mal wegsehen, mischt sich mit dem Stolz auf den eigenen Aufbauwillen der Schmerz über das Verlorene. »Man kann alles wieder aufbauen, alles noch schöner machen, man kann wieder heiraten und wieder Kinder bekommen, aber so wie vorher wird es nie wieder werden«, sagt ein Mann, der seine Frau und seine siebenjährige Tochter bei einem Luftangriff auf sein Dorf verloren hat.

War dieser Angriff, wie viele andere auch, notwendig? Das ist eine Frage, die der Winograd-Bericht nicht beantwortet, weil seine Verfasser Angst davor hatten. Kritikern Israels dürfe keine Munition geliefert werden. Genau das allerdings geschah: Die Hisbollah zog aus dem Bericht den Schluss, dass er ihren Sieg bestätigt habe.

Sie wussten nicht, was sie taten

Von einer »verpassten Chance« spricht die Politikerin Gal-On. »Es wurde die Gelegenheit vertan, den Opfern Gerechtigkeit zu verschaffen, indem man Ross und Reiter nennt und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zieht. Ungeklärt blieb die Frage der moralischen Vertretbarkeit in Zeiten des Krieges«, schätzt sie ein. Ein Zwischenbericht, den der Ausschuss im Frühjahr vergangenen Jahres vorgelegt hatte, lieferte da ein sehr viel deutlicheres Bild. Zwei Männer ohne nennenswerte militärische Erfahrung, der eine ein Premierminister, der andere ein Verteidigungsminister, trafen auf Anraten des Generalstabschefs die Entscheidung zu einer Offensive gegen die Hisbollah. Dan Halutz, dem klar war, dass weder Olmert noch Peretz wussten, was sie da tun, hätte sie auf die Vor- und Nachteile aller Optionen hinweisen müssen. Zum anderen hätten der Regierungschef und sein Minister sich Rat von Dritten holen müssen. Beides passierte nicht. Halutz, einst Kommandeur der Luftwaffe, einer Eliteeinheit mit übergroßem Selbstbewusstsein, setzte ausschließlich auf Luftschläge, wohl wissend, dass dafür zunächst einmal die Ziele bekannt sein müssen. Dies jedoch war nicht der Fall, weil die israelische Geheimdiensttätigkeit in Südlibanon wegen eines Kompetenzstreites zwischen dem Inlands- und dem Auslandsgeheimdienst seit Jahren brachlag.

Viele der Überlebenden, auf beiden Seiten, sind sich einig, dass dafür die Köpfe der Verantwortlichen rollen müssen, weil dies wenigstens eine kleine Gerechtigkeit wäre, die helfen könnte, die Wunden zu heilen. Aber am Ende sind die 500 eng mit hebräischen Worten bedruckten Seiten des Berichts – eine arabische Version gibt es nicht – vor allem eines geworden: »Ein Schocker, in dem das Versagen eines gesamten Systems beschrieben wird«. So drückt es Jigal Feldman aus, und diese Ansicht teilen viele Opfer und deren Angehörige.

»Ich hatte die Arbeit der Kommission als Aufarbeitung betrachtet, und natürlich habe ich mir gewünscht, dass die Verantwortlichen die Konsequenzen ziehen«, erklärt Aharon Avital, der als Reservist am Krieg teilnahm. »Die Erkenntnis, dass wir mit miserabler Ausrüstung in ein Abenteuer geschickt wurden, ohne dass jemand einen Plan hatte, hat mich schockiert.«

Zorn erfüllt auch den Libanesen, der Frau und Tochter verlor. »Ich habe nur die offizielle Zusammenfassung gelesen, die in der Zeitung veröffentlicht wurde. Mich macht wütend, dass der Ausschuss den Krieg als verpasste Chance bezeichnet. Kriege sind nie Chancen. Kriege töten. Haben die Israelis geglaubt, ich hätte ein paar Raketen in meinem Keller, als sie mein Haus bombardierten?«, fragt er.

Alte Wunden wurden neu aufgerissen

So hat der Bericht alte Wunden neu aufgerissen, weil er die Verantwortlichen nicht nennt und sie ungeschoren davonkommen lässt. Er hat die Überlebenden, jene, die Menschen beerdigen mussten, aber auch jene, die ihre Häuser oder einfach nur ein paar Wochen ihres Lebens verloren haben, ratlos zurückgelassen. »Die Arbeit der Kommission war vielleicht die letzte Gelegenheit, den Menschen bei der Bewältigung des Erlebten zu helfen; stattdessen hat sie für mich alles nur noch schlimmer gemacht«, schätzt Jigal Feldman ein. Er habe den Bericht in einer einzigen Nacht gelesen. »Es hat mir die Tränen in die Augen getrieben«, sagt er. »Diese vielen Geschichten vom Versagen und von verantwortungslosem Handeln machen mich fertig.«

Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden. Aber ob sie diese heilen wird, für die keiner verantwortlich sein will, kann niemand sagen.

* Aus: Neues Deutschland, 8. Februar 2008


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