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Desaster auf der ganzen Linie

Israels Premier Ehud Olmert unter Druck / Winograd-Kommission stellt Israels Armee und Regierung ein vernichtendes Zeugnis aus

Von Oliver Eberhardt, Jerusalem *

Das Urteil ist vernichtend: Israels Regierung und Militär haben während des Libanon-Krieges im Sommer 2006 auf der ganzen Linie versagt, heißt es im Schlussbericht der Winograd-Kommission. Personelle Konsequenzen sind vorerst nicht zu erwarten.

Sie waren mit dem Schneepflug gekommen, denn über Jerusalem tobte der schlimmste Wntersturm der vergangenen Jahre. Was die Mitglieder der Winograd-Kommision Israels Premierminister Ehud Olmert und Verteidigungsminister Ehud Barak überbrachten, trug zur Erwärmung der Gemüter indes nicht bei: Zwei Wälzer, 500 eng bedruckte Seiten dick, auf denen der nach ihrem Vorsitzenden Elijahu Winograd, einem pensionierten Richter, benannte Untersuchungsausschuss bis ins Detail auflistet, was während des Libanon-Krieges im Sommer 2006 schief gegangen ist. Und das ist kurz gesagt: alles. Wichtige Regierungsentscheidungen seien viel zu spät gefällt worden und das Vorgehen des Militärs sei von Versäumnissen und Mängeln geprägt gewesen.

Wie erwartet brach die Veröffentlichung des Schlussberichtes einen Sturm der Entrüstung vom Zaun: Politiker zur Rechten und zur Linken sowie die meisten Kommentatoren der Medien forderten gleichermaßen den Rücktritt des Regierungschefs. Schließlich ist er der letzte der damals verantwortlichen Entscheidungsträger, der noch im Amt ist. Verteidigungsminister Amir Peretz und General-stabschef Dan Halutz waren bereits im vergangenen Jahr im Umfeld der Veröffentlichung eines Zwischenberichts der Kommission zurückgetreten.

»Das Urteil ist eindeutig: Der Premierminister hat damals auf der ganzen Linie versagt«, sagt Zehawa Gal-On, Abgeordnete des linksliberalen Meretz/Jachad-Blocks: »Das Parlament muss jetzt umgehend Schritte einleiten, um eine neue Regierung zu bilden.« Aber das wird wohl kurzfristig nicht geschehen, denn obwohl Rechte und Linke und auch der Großteil der Koalition in der Ansicht vereint sind, dass man Olmert loswerden muss, besteht Uneinigkeit über das Wie: Die Linke will eine Regierungsneubildung; die Rechte fordert Neuwahlen. Und die will die inner- wie außerparlamentarische Linke im Moment auf gar keinen Fall, weil dabei mit sehr großer Wahrscheinlichkeit eine rechtskonservative Mehrheit unter Führung des Likud-Vorsitzenden Benjamin Netanjahu an die Macht käme. Ein diplomatischer Ausgleich mit der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland, wie er zur Zeit von Olmert angestrebt wird, würde damit komplett unwahrscheinlich.

Olmert gibt sich von alledem völlig unbeeindruckt. Bereits Minuten, nachdem er sein Exemplar des Berichts in Empfang genommen hatte, ließ er von seinen Sprechern verbreiten, er sei sehr zufrieden, die Kommission habe ihn entlastet. Außerdem verspreche er, sämtliche Kritikpunkte im Bericht umgehend zu beseitigen.

Es ist eine Strategie, die der Regierungschef bereits nach der Veröffentlichung des Zwischenberichtes im vergangenen Frühjahr verfolgt hatte. Er gesteht ein, Fehler gemacht zu haben, und beruft sich darauf, dass jeder die Chance verdient, sie wiedergutzumachen. Und damals wie heute hat er Erfolg mit dieser Vorgehensweise: In einer Blitzumfrage der Zeitung »Ma'ariv« stiegen seine Zustimmungswerte auf »beachtliche« 42 Prozent, während die Zahl derer, die der Ansicht sind, er solle seinen Hut nehmen, auf nur noch 27 Prozent sank. »Olmert hat es geschafft, die Öffentlichkeit auf seine Seite zu ziehen, indem er Dinge behauptet, die er nicht wissen kann, weil niemand dazu in der Lage ist, 500 Seiten in wenigen Minuten zu lesen«, heißt es in der Zeitung.

Dass er im Amt bleiben kann, liegt allerdings vor allem an der Kehrtwende von Verteidigungsminister Barak. Barak, Chef der Arbeitspartei, Olmerts größtem Koalitionspartner, hatte ursprünglich ein Koalitionsende nach der Berichtsveröffentlichung angekündigt. Doch die Unwägbarkeiten einer etwaigen Regierungsumbildung brachten ihn dazu, doch in der Regierung zu bleiben und stattdessen einen Termin für Neuwahlen in den Raum zu stellen: März 2009.

Nicht nur Olmert und die Armee, auch der Bericht der Winograd-Kommission selbst ist mit scharfer Kritik konfrontiert. »Entscheidende Aspekte des Krieges« blieben außer Acht, kritisierte Amnesty International in einer am Donnerstag in London veröffentlichten Erklärung. Dazu gehöre die »Regierungspolitik und Militärstrategie, die keinen Unterschied zwischen libanesischer Zivilbevölkerung und Hisbollah-Kämpfern, zwischen militärischen Zielen und ziviler Infrastruktur machten«. Der für den Nahen Osten zuständige Amnesty-Direktor Malcolm Smart kritisierte vor allem fehlende »Ermittlungen zu Kriegsverbrechen der israelischen Streitkräfte«.

* Aus: Neues Deutschland, 31. Januar 2008

Kriegsbilanz aus Sicht Libanons

Bei 7000 Raketenangriffen der israelischen Armee wurden 1200 Libanesen getötet, darunter 28 libanesische Soldaten, die nicht am Krieg beteiligt waren. Die Gesamtzahl der getöteten Kämpfer von Hisbollah, Amal und der Kommunistischen Partei ist nicht bekannt. 3697 Libanesen wurden verletzt. Vier UN-Mitarbeiter wurden von der israelischen Luftwaffe gezielt zu Tode gebombt. Gekennzeichnete Konvois von Journalisten und Rote-Kreuz-Mitarbeitern wurden angegriffen. 15 000 Häuser und Wohnungen, darunter auch Kirchen, Schulen und Krankenhäuser, 900 Wirtschaftsbetriebe (Fabriken, Läden, Landwirtschaftsbetriebe) und 25 Tankstellen wurden ganz oder teilweise zerstört. 32 Angriffe richteten sich gegen Flughäfen, Häfen, Wasserwerke, Kläranlagen, Elektrizitätswerke. 78 Brücken und 630 Kilometer Straßen wurden zerstört.

Die Anwaltsvereinigung von Beirut forderte im Oktober 2006 von den Vereinten Nationen, dass Israel Libanon für die Kriegsschäden entschädigen müsse. Außerdem müsse Israel für die Verletzung des Völker- und Menschenrechts verurteilt werden. Die Forderungen blieben ohne internationale Unterstützung und folgenlos.

Die Kompensierung Libanons wurde von der Internationalen Gemeinschaft bei der Geberkonferenz am 25. Januar 2007 in Paris übernommen: Libanon erhält 8,1 Milliarden US-Dollar.

Weiterhin weigert sich Israel, Libanon Karten zu übergeben, auf denen die Positionen der vier Millionen Streubomben dokumentiert sind, die von der israelischen Luftwaffe in den letzten drei Kriegstagen über Südlibanon abgeworfen wurden. Rund ein Viertel davon explodierte nicht. Seit Ende des Krieges starben 30 Personen durch diese schlafenden Zeitbomben, 200 wurden verletzt.

KL
Quellen: UN, Libanesische Regierung


Eckpunkte des Winograd-Kommissionspapiers

»Versäumnisse und Mängel« – diese beiden Begriffe ziehen sich wie ein roter Faden durch den Bericht der Winograd-Kommission. Die Eckpunkte: Versäumnisse und Mängel in den Entscheidungsprozessen und in der Interaktion von Regierung und Militär, in der Kampfbereitschaft der Armee, deren Strategie und Planung sowie in der Verteidigung der Zivilbevölkerung. Diese Mängel hätten zum Teil bereits lange vor Kriegsbeginn bestanden.

Nachdem nach der Entführung mehrerer Soldaten durch die Hisbollah die Entscheidung zu militärischen Schritten gefällt wurde, seien Israels Optionen auf zwei Möglichkeiten reduziert gewesen: zum einen ein »kurzer, schmerzvoller Schlag« gegen die paramilitärische Organisation, zum anderen eine groß angelegte Offensive mit dem Ziel, die Realität in Südlibanon grundlegend zu verändern. Eine Entscheidung zwischen diesen beiden Optionen sei erst mehrere Wochen nach Kriegsbeginn gefällt worden, mit dem Ergebnis, dass es kein klares Ziel und auch keinen Alternativplan gab. Dies habe den Verlauf des Krieges negativ beeinflusst und Israels strategische Position stark geschwächt, weil er ohne klaren Sieg endete.

Anfänglich habe es »wichtige militärische Errungenschaften« gegeben, die allerdings ob des Fehlens eines Kriegszieles verpufft seien. Regierung und Militärführung hätten sich der »unbegründeten Hoffnung« hingegeben, dass die Fähigkeiten der Luftwaffe kriegsentscheidend sein würden.

Eine gute bis sehr gute Note bekommt derweil Außenministerin Zippi Livni: Es habe während des Krieges »wichtige diplomatische Errungenschaften« gegeben, und eine davon sei die Resolution 1701 des UN-Sicherheitsrates gewesen, die das Ende des Krieges einleitete

ND, 1. Januar 2008




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