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Von Stalingrad nach Winograd

Von Uri Avnery *

EIN PAAR Tage lang sah das Land wie der Place de la Concorde im Jahre 1793 aus. Die ganze Öffentlichkeit saß um die Guillotine herum und wartete auf den Karren, der den Marquis bringen würde, und darauf, dass der Marquis sich hinlegen, dass das Fallbeil auf sein Genick fallen würde und auf einen Soldaten, der den blutigen vom Leib getrennten Kopf zur Unterhaltung der Zuschauer hochhalten würde.

Aller Augen waren auf das Fallbeil der Winograd-Kommission gerichtet. Der Richter setzte sich vor die Kameras und las den Bericht vor. Aber das Fallbeil fiel nicht. Kein Reservesoldat hob den blutigen, vom Rumpf getrennten Kopf hoch. Der Kopf blieb an seinem Platz. Ehud Olmert ist kein Marquis, und sein Kopf ruht weiterhin wohlbehalten auf seinen Schultern.

Von einem Ende des Landes bis zum anderen gab es einen Seufzer der Enttäuschung. Die Reporter und Kommentatoren sprangen von ihren Sitzen wie die strickenden Frauen auf dem Pariser Platz, denen gerade der Marquis entkommen ist.

Die Winograd-Kommisson hat versagt, riefen die wütenden Kommentatoren aus. Zu den vielen Fehlschlägen des Krieges muss nun auch noch das Versagen der Kommission hinzugefügt werden.

JEDER ERFAHRENE Politiker kennt den Grundsatz: Derjenige, der die Mitglieder einer Kommission auswählt, entscheidet im voraus über ihre Beschlüsse.

Das ist eigentlich selbstverständlich. Schließlich sind alle Mitglieder der Kommission Menschen. Und Menschen haben ihre Einstellungen und ihre Meinungen. Die kennt derjenige im voraus, der sie auswählt. Er kann die Mitglieder nach seinem Wunsch bestimmen. Wenn er Magnaten bestimmt, muss man annehmen, dass sie die Steuern der Reichen nicht erhöhen werden. Wenn er Linke bestimmt, werden die Empfehlungen ganz anders aussehen.

Als deshalb über das vorgeschlagene Gesetz zur Durchführung von Untersuchungskommissionen beraten wurde, entschieden wir, dass die Mitglieder einer „staatlichen“ Untersuchungskommission nicht von der Regierung bestimmt werden dürften, sondern vom Präsidenten des Obersten Gerichtshofes. Ich war ein Mitglied der Knesset in jener Zeit und nahm aktiv an der Debatte teil. Ich schlug vor, dass der Oberste Richter nicht nur die Kommissionsmitglieder bestimmen, sondern dass er – und nicht die Regierung – auch über die Einberufung einer Kommission entscheiden solle. (Dies wurde abgelehnt.)

Das geschah sieben Jahre, bevor der junge Ehud Olmert das erste Mal in die Knesset gewählt worden war. Aber er verstand das Gesetz perfekt. Als es nach dem Zweiten Libanonkrieg darum ging, eine „staatliche“ Untersuchungskommission aufzustellen, wies er das energisch zurück. Er bestand hartnäckig auf einer von der Regierung bestimmten Untersuchungskommission. Wie bereits gesagt: während die Mitglieder einer staatlichen Kommission vom Gerichtspräsidenten bestimmt werden, werden die Mitglieder einer Regierungskommission von der Regierung selbst bestimmt.

Vive la petite difference!

Die Ernennung der Winograd-Kommission war von vielen Zweifeln begleitet. Aber diese lösten sich völlig in Luft auf, als der Zwischenbericht im letzten April veröffentlicht wurde. Er war streng und kompromisslos. Er enthielt viele negative Bemerkungen über Olmert.

Die Öffentlichkeit war erleichtert. Der Unterschied der beiden Arten von Kommissionen war vergessen. Die Winograd-Kommission benahm sich genau wie eine „staatliche“ Kommission, entschied wie solch eine und sprach wie diese. Sie erhob das Fallbeil und alle warteten darauf, dass es auf Olmerts Hals fallen würde.

Und dann kam heraus, dass la petite difference tatsächlich ein sehr wesentlicher Unterschied war. Die von Olmert bestimmte Kommission veröffentlichte einen Schlussbericht, der Olmert auf der ganzen Linie günstig gewogen ist, besonders was die Anklage betraf, dass Olmert über die „Bodenoffensive“ im letzen Augenblick entschieden und Soldaten in den Tod geschickt habe, nur um sein eigenes Prestige zu retten.

Die Kommission klagte keinen Politiker oder General persönlich an. In diesem Punkt konnte sie sich auf eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofes berufen, der der Kommission ausdrücklich verboten hatte, irgendjemanden persönlich anzuklagen.

Wieso? Als die Knesset das Gesetz über die Untersuchungskommission verabschiedete, war uns der Artikel 15 besonders wichtig. Er verbietet, jemanden zu beschuldigen, dem nicht eine faire Möglichkeit gegeben wird, sich selbst zu verteidigen. Solch eine Person muss im voraus gewarnt und aufgefordert werden, sich einen Anwalt zu nehmen, Zeugen im Kreuzverhör zu vernehmen und selbst Zeugen einzuladen.

Das ist ein langer Prozess, und eine Untersuchungskommission ist gewöhnlich in Zeitnot, ihren Bericht zu beenden, bevor der Gegenstand ihrer Untersuchung vergessen wird. Zum Beispiel beachtete die Untersuchungskommission von Richter Agranat, die nach dem Yom Kippur-Krieg aufgestellt worden war, den Artikel gar nicht und entschied, den Generalstabschef, den Befehlshaber der Südfront und andere Generäle zu entlassen, ohne dass man ihnen im voraus irgendeine Warnung gegeben hatte.

Die Winograd-Kommission ging einen anderen Weg: als die Armeebehörden beim Obersten Gerichtshof ein Gesuch einreichten, die Kommission zu zwingen, den Artikel 15 zu respektieren, versprach die Kommission, dass sie niemanden persönlich anklagen wolle. Die Kommission hätte natürlich Olmerts Rolle in diesem Krieg in so vernichtender Weise beschreiben können, dass er zum Rücktritt gezwungen wäre. Aber sie tat es nicht. Im Gegenteil, sie beschloss, seine Entscheidungen seien vernünftig gewesen.

Das Fallbeil fiel nicht, Olmert bekam wohl ein paar blaue Flecken ab, blieb aber siegreich.

NACH DEM Massaker von Sabra und Shatila 1982 veröffentlichte die von Richter Kahan geleitete „staatliche“ Kommission einen vorbildlichen Bericht, der alle Fakten aufdeckte. Aber dieser hätte zu einer viel schärferen Schlussfolgerung kommen können, als sie tatsächlich kam. Statt Ariel Sharon und seine Komplizen „indirekt verantwortlich“ für die Massaker zu befinden, hätte man entscheiden müssen, dass sie direkte Verantwortung trugen. Die Fakten hätten solch einen Beschluss gerechtfertigt. Warum geschah dies nicht, und warum wurden Sharon und einige seiner Offiziere nur entlassen? Ich vermute, aus Furcht scheuten sie davor zurück, dem Staat Israel zu großen Schaden zuzufügen.

Nun könnte ich dasselbe über die Winograd-Kommission schreiben. Die von ihr aufgedeckten Fakten rechtfertigen schärfere Schlussfolgerungen. Was hielt sie zurück ? Man kann raten: die fünf Kommissionsmitglieder, alle Stützen des Establishments – zwei Generäle, zwei führende Akademiker, ein Richter - wollten Olmert, die Nummer eins des Establishments, nicht stürzen. Vielleicht fürchteten sie, dass an seiner Stelle jemand noch Schlimmeres treten würde – eine Furcht, die von vielen anderen im Land geteilt wird.

Als prominente Persönlichkeiten des Establishments scheuten die Kommissionsmitglieder auch davor zurück, zwei grundsätzliche den Zweiten Libanonkrieg betreffende Fragen, zu stellen: (a) Warum ist er überhaupt begonnen worden und (b) was hat zum erschreckenden Verfallszustand der Armee geführt?

BEI IHREN beiden Berichten bestätigte die Kommission, dass die Entscheidung für den Kriegsbeginn in übereilter, unverantwortlicher Weise getroffen wurde. Die angegebenen Kriegsziele waren unerreichbar. Aber die Kommission sagte nicht, was Olmert & Co – also die Regierung Israels - dahin brachte, solch eine Entscheidung zu treffen.

Wir wissen jetzt ganz sicher, dass der Kriegsplan schon lange vorher bereit lag. Er war nur einen Monat vor dem Krieg erprobt worden, und Veränderungen wurden entsprechend den damaligen Auswertungen vorgenommen. Schließlich wurde dieser Plan überhaupt nicht ausgeführt. Aber es ist klar, dass die Regierung und die Armee schon lange vorher darauf bedacht war, die Hisbollah anzugreifen.

Sechs Jahre lang war die Nordgrenze völlig ruhig. Die Hisbollah deckte sich mit Raketen ein (wie sie es auch jetzt tut) und zeigte damals (wie heute) keinerlei Neigung, Israel anzugreifen.

Der grenzüberschreitende Überfall, bei dem zwei israelische Soldaten gefangen genommen wurden, war eine Ausnahme. Die Aktion war mit der Absicht durchgeführt worden, um Verhandlungs“masse“ zur Befreiung von in Israel festgehaltenen Hisbollahgefangenen in der Hand zu haben. (Und vielleicht um Solidarität mit Hamas zu demonstrieren, die gerade einen anderen israelischen Soldaten in ähnlicher Weise gefangen genommen hatte.) Hassan Nasrallah gab später zu, dass dies ein großer Fehler war, dass er es nicht getan hätte, wenn er gewusst hätte, dass dies einen Krieg verursachen würde. (Olmert dagegen hat seinerseits noch keinen einzigen Fehler zugegeben).

Wie ich schon von Anfang an sagte, war der Vorfall nur ein Vorwand für den Krieg, nicht der wahre Grund. Was war dann der reale Grund? Der Wunsch des Zivilisten Olmert, militärischen Ruhm zu ernten ? Der Wunsch des Generalstabschefs Dan Halutz zu beweisen, dass die Luftwaffe allein mit massivem Bombardement der zivilen Bevölkerung einen Krieg gewinnen könne? Der Glaube , dass die Hisbollah mit einem großen Schlag erledigt werden könne?

Als Richter Winograd zu erklären versuchte, warum ein Teil des Berichtes geheim gehalten werden müsse, äußerte er ein paar Worte, die kaum Beachtung fanden: „ Die Sicherheit des Staates und seine auswärtigen Beziehungen.“ Auswärtige Beziehungen? Was für auswärtige Beziehungen? Beziehungen mit wem? Da gibt es nur eine vernünftige Antwort: Beziehungen mit den USA.

Vielleicht ist hier des Rätsels Lösung. Olmert erfüllte einen amerikanischen Wunsch. Präsident Bush wollte seinen Protegé, Fuad Siniora, als Regierungschef in Beirut einsetzen. Dafür musste die Hisbollah, die wichtigste libanesische Opposition, erledigt werden. Bush wollte auch einen Wechsel des syrischen Regimes, eines der Haupthindernisse der amerikanischen Ambitionen in dieser Region.

Ich glaube, dass dies das fehlende Glied in der Winograd-Kette ist. Olmert hätte behaupten können: „Ich gehorchte nur Befehlen.“ Aber das kann man natürlich nicht aussprechen.

Die verheerenden Auswirkungen der Besatzung auf die Armee

DAS ANDERE schwarze Loch im Bericht betrifft die Armee. Der Bericht kritisiert sie in einem mörderischen Tonfall. Nie zuvor war die Armeeführung in solcher Weise beschrieben worden – als ein Haufen von Leuten, denen jeglicher Charakter, jede Art von Talent und Kompetenz fehlt; Generäle, die bereit sind, Soldaten in eine militärische Operation – und damit in den Tod - zu schicken, von der sie von Anfang wissen, dass sie zum Scheitern verurteilt ist, nur um nicht die Courage aufbringen zu müssen, ihren Vorgesetzten zu widersprechen; Generäle, die vor der Schlacht keine klare Definition des Kriegszieles forderten; Generäle, die nicht die verhängnisvollen Fehler ihrer Armee erkannten und die – genau wie ihre Vorgänger - selbst genau an diesen Fehlern schuld sind.

All dies wurde gesagt. Was nicht gesagt wurde, ist: wie gerieten wir an solch eine Führung? Was hat solche Fehler verursacht?

Die Antwort kann mit einem Wort zusammengefasst werden: Besatzung.

In den letzten Jahren habe ich viele Artikel über die verheerenden Auswirkungen der Besatzung auf die Armee geschrieben. Man kann nicht eine ganze Armee jahrzehntelang als koloniale Polizeimacht missbrauchen, um den Widerstand einer besetzten Bevölkerung zu brechen, ohne dass sie ihren Charakter verändert. Soldaten, die hinter Steine werfenden Kindern in den Gassen der Altstadt von Nablus herrennen, die nachts an die Türen von Zivilisten hämmern, die Bulldozer benützen, um die Häuser von Menschen zu zerstören und all dies Jahr um Jahr – solche Soldaten sind nicht mehr in der Lage, in einem modernen Krieg zu kämpfen.

Was noch schlimmer ist: Solch eine Kolonialarmee zieht nicht mehr die Besten und Intelligentesten an - diese gehen jetzt in die High-Tech-Branche und in die Naturwissenschaften. Die brutale Arbeit der Armee gegen Zivilisten und Guerillakämpfer wird von Leuten mit Gewissen und Einfühlungsvermögen verachtet, also genau jene, die das Rückgrat eines guten Offizierskorps wären. Sie stumpft die Sinne derjenigen ab, die bleiben, oder man schickt sie traumatisiert aus den besetzten Gebieten nach Hause.

In den 40 Jahren Besatzung verlor die israelische Armee die Art von Offizieren, die die Kriege von 1948 und 1967 führten, Leute wie Yitzhak Sadeh, Yigal Allon, Yitzhak Rabin, Ezer Weizmann, Matti Peled, Chaim Bar Lev und David Elazar, um nur ein paar zu nennen. Ihren Platz nahmen ein paar mittelmäßige und gesichts- und farblose, aber arrogante Techniker ein, Leute mit enger Sichtweise, kolonialistischen und extrem rechten Einstellungen, mit einem immer höheren Prozentsatz von Kippa-Trägern.

Das ist die Gruppe, von der der Bericht spricht – doch ohne dies so auszusprechen. Es ist eine Besatzungsarmee, in der ein negativer, natürlicher Selektionsprozess vor sich geht - jeder, der sich in diesem Milieu nicht wohl fühlt, geht. Wie in jeder Armee hängt die Atmosphäre von der Spitze ab – ob gut oder schlecht – dies sickert hinunter in die unteren Ränge bis zum einfachsten Soldaten.

Dies ist keine Armee von Stalingrad-Kämpfern, die ihr Land verteidigen – dies ist eine Armee von Winograd-Kämpfern. Eine Armee, die kein Genie zu „reparieren“ in der Lage ist, wie von der Kommission verlangt wird. Weil alle Fehler von der Ursünde ausgehen: der Besatzung.

2. Februar 2008

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Ganz, vom Verfasser autorisiert.)


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