"Ohne massiven Druck von außen kein Frieden"
Interview mit Michel Warschawski (ehem. Direktor des Alternativen Informationszentrums in Jerusalem)
Das nachfolgende Interview, das wir der Tageszeitung "junge welt" vom 19. Januar 2002 entnommen haben, spiegelt aus einem etwas anderen Blickwinken die komplizierte Situation im Nahostkonflikt wider. Michel Warschawski vertritt einen demokratischen, binationalen und säkularen Staat, dem Israelis und Palästinenser angehören sollen - aus heutiger Sicht eine unerreichbare Utopie. Seine Kritik am Umgang des israelischen Staates mit dem "Holocaust" - diesen Begriff verwendet Warschawski nicht gern, weil er religiös gefärbt ist - ist bedenkenswert. Das Interview führte Werner Pirker.
F: In den
israelisch-palästinensischen Beziehungen herrscht wieder
Eiszeit, täglich gibt es neue Nachrichten von bewaffneten
Zusammenstößen, Anschlägen und zerstörten Häusern. Woran
ist der Oslo-Friedensprozeß gescheitert?
Weil Frieden an sich
nichts bedeutet. Nur ein gerechter Frieden ist tragfähig. Ariel
Scharon hat unlängst kundgetan, daß der israelische
Unabhängigkeitskrieg noch nicht beendet sei, daß er noch
hundert Jahre dauern könne. Der Scharon-Plan, dem alle
israelischen Regierungen, ob links- oder rechtsorientiert,
folgten, sieht die Konzentration der palästinensischen
Bevölkerung in bestimmten Zentren und deren Kontrolle von
außen vor. Das heißt, es sollen selbstverwaltete Gebilde nach
dem Modell der Bantustans geschaffen werden. Des weiteren
sollen die Wasserressourcen möglichst vollständig unter
israelischer Kontrolle bleiben. Wie eine Kette schlingen sich die
jüdischen Siedlungen um die autonomen Gebiete. Diese
wurden voneinander abgeschnitten, was die
Bewegungsfreiheit der Palästinenser enorm beeinträchtigt,
während die Siedlungen über Umgehungsstraßen miteinander
verbunden sind. Das war die Formel von Camp David. Was die
Palästinenser im Jahr 2000 in Camp David hätten
unterschreiben sollen, war im Grunde der Scharon-Plan. Ein
solcher Friedensvertrag konnte von der Palästinensischen
Autonomiebehörde (PNA) nicht akzeptiert werden, die
palästinensischen Massen hätten das Arafat nie verziehen. Für
diese Ablehnung sind die Palästinenser kollektiv bestraft
worden. Die Repression Israels in den besetzten Gebieten war
noch nie so scharf wie heute, außer in der kurzen Periode
zwischen 1969 und 1970 im Gaza-Streifen. Auch damals war
es Scharon persönlich, der als General für diese Intervention
die Verantwortung trug.
F: Doch auch die PNA stellte sich mehr
als ein Instrument der Unterdrückung als der Befreiung
heraus.
Die PNA fungierte als eine Art Unterabteilung der
israelischen Unterdrückungspolitik, doch sie kann die
Repression nur sehr begrenzt ausüben. Die israelische
Führung hegte die Hoffnung, daß sich die Autonomiebehörde
nach dem Muster der Südlibanesischen Armee entwickeln
könnte. Vergebens: Die PLO hat sich nicht von einer
Befreiungsbewegung zu einer Bewegung von Kollaborateuren
entwickelt. Um ein Regime der Kollaborateure zu etablieren,
hätte es eines Bürgerkrieges bedurft. Die Ablehnung von Camp
David hat die palästinensische Einheit gestärkt. Schon lange
nicht mehr wirkte Arafat so entspannt wie nach der
Nichtannahme dieses Friedensdiktats. Camp David bedeutete
auch den völligen Kollaps des israelischen Friedenslagers. Es
folgte Baraks Darstellung, daß Israel den Palästinensern einen
gerechten Frieden angeboten hätte, diese aber
kompromißunfähig seien. Barak argumentierte wie ein
Autohändler. Als hätte er Arafat ein Auto praktisch umsonst
angeboten, dieser das Angebot aber ausgeschlagen. Die
öffentliche Meinung in Israel ist wieder auf dem Stand von vor
30 Jahren zurückgefallen. Jetzt herrscht wieder die Ansicht vor,
daß die Palästinenser, die Araber, die internationale
Gemeinschaft, daß alle Israel zerstören, die Juden ins Meer
werfen wollen und daß das treibende Prinzip der
internationalen Politik der Antisemitismus sei.
F: Gegen
schwere innere Widerstände hatte sich die palästinensische
Führung für die Zweistaatenlösung entschieden. Ist die nun
gescheitert?
Die einfachste und auch billigste Lösung wäre ein
gemeinsamer Staat in einem einheitlichen Raum gewesen. Ein
Staat mit einem hohen Grad an kultureller Autonomie für die
Palästinenser, eventuell auch einer eigenen Polizei. Selbst
diese Lösung wäre mit Blickpunkt auf die nationale
Gleichberechtigung für die Palästinenser mit höheren Risiken
verbunden gewesen als für die Israelis, weil sie ökonomisch
unterlegen waren. Nachdem eine solche Lösung keine Chance
hatte, entstand in der palästinensischen Bevölkerung das
Bedürfnis nach einem Staat in den von Israel 1967 okkupierten
Gebieten. Das bildete die Grundlage für den
israelisch-palästinensischen Kompromiß, der den Oslo-Prozeß
einleitete. Doch das Projekt eines Staates auf der Westbank
und im Gaza-Streifen hätte zügig umgesetzt werden müssen.
In der Realität war der Oslo-Prozeß aber geprägt von einer
ständigen Hinhaltetaktik der Israelis bei gleichzeitiger
Schaffung von Tatsachen, das heißt der Einkreisung der
Autonomiegebiete durch jüdische Siedlungen und der
Entwicklung einer Apartheid-Politik gegenüber der arabischen
Mehrheit. Nach der Lockerung der militärischen Okkupation
kam die Siedler-Invasion. Langfristig könnte sich das als
Verbrechen gegen die jüdische Existenz in dieser Region
herausstellen. Früher haßten die palästinensischen Massen die
Zionisten, die Okkupation, nun, unter das Apartheid-Regime
geraten, hassen sie die Juden. Die Hoffnung der Palästinenser
auf Rückgewinnung eines Teils ihrer angestammten Territorien
erwies sich als Trugschluß. Denn der Grad der nationalen
Selbstbestimmung ist territorial nicht zu bemessen. Es geht
nicht um Territorien, sondern um nationale Rechte. Das
Scheitern der zweiten Lösung könnte in Perspektive wieder
zur ersten zurückführen: zur Schaffung eines demokratischen,
säkularen Staates auf dem Boden des ganzen historischen
Palästina.
F: Ist eine friedliche Transformation des
zionistischen Staates in einen demokratischen, säkularen
Staat möglich, oder ist ein Crash unvermeidbar?
Ohne
Zusammenprall, ohne massiven Druck von außen ist eine
grundsätzliche Veränderung der israelischen Gesellschaft nicht
denkbar. Das hat der Oslo-Prozeß bewiesen. Die Israelis
konnten sich stets in der Sicherheit wiegen, eine Befriedung
des palästinensischen Konflikts ohne wesentliche
Zugeständnisse zu erreichen. Und es bestand wenig
Veranlassung für sie, den Forderungen der Palästinenser nach
einem souveränen Staat nachzukommen. Ob Friedens- oder
Kriegskabinett: Die nationale Gleichberechtigung zwischen
Israelis und Palästinensern stand in Israel nie ernsthaft zur
Debatte. Aus sich selbst heraus wird sich die israelische
Gesellschaft nicht transformieren. Zu ausgeprägt ist das Gefühl
der eigenen nationalen Exklusivität. Auch werden die Juden in
Israel und den besetzten Gebieten nicht von sich aus auf
nationale Vorrechte verzichten. Der antidemokratische
Charakter Israels ergibt sich aus der Spezifik der zionistischen
Kolonialisierung. Eine substantielle Veränderung der
israelischen Gesellschaft ist nur durch das Zusammenwirken
äußeren Drucks und innerer Widersprüche denkbar. Die USA
haben sich auch deshalb aus Vietnam zurückgezogen, weil die
inneren Widerstände gegen den Krieg zu groß geworden
waren. Der Vietnam-Krieg war mit dem Rückzug der
US-Truppen praktisch beendet, in Algerien mußten mit den
französischen Truppen die Algerien-Franzosen das Weite
suchen. Da die Existenz der israelischen Juden aber
weitgehend an Israel gebunden ist, wird sich der
Nahost-Konflikt nur durch eine Veränderung der israelischen
Gesellschaft beenden lassen. Ein wirklicher Frieden wird für die
Israelis nicht umsonst zu haben sein, sie werden einen
angemessenen Preis dafür bezahlen müssen, der im Verlust
ihrer Vorrechte besteht.
F: Welcher Art sind die
innerisraelischen Widersprüche?
Da ist einmal der Widerspruch
zwischen der Konzeption eines jüdischen und der eines
demokratischen Staates. Diese Spannung ist dem Staat Israel
seit seiner Gründung immanent. Ein Staat, der auf dem Prinzip
der religiösen und nationalen Exklusivität beruht, kann nicht
demokratisch sein. Natürlich wird Israel auch von den
Widersprüchen geprägt, die sich aus seiner
Klassengesellschaft ergeben. Doch kommen diese nur in einer
sehr moderaten Form zum Ausdruck. Gegen die
Budgetkürzungen demonstrierten gerade mal 2000 Menschen
vor der Knesset. Der dritte wesentliche Widerspruch ist der
zwischen der jüdischen und der israelischen Identität. Die
jüdische bezieht sich auf die Religion, die israelische ist
säkular. Im Grunde stehen sich in Israel zwei Gesellschaften
gegenüber. Eine, die auf einen modernen Staat gerichtet ist
und sich nicht außerhalb der Globalisierung bewegen will, und
eine theokratische, die sich aggressiv von der Moderne
abgrenzt. Die eine hat ihre Kapitale in Tel Aviv, die andere in
Jerusalem. Es ist ein Widerspruch zwischen Israel und Judäa.
Für Israel stand um das am Beispiel von israelischen
Politikern darzustellen Barak, für Judäa Netanjahu. Hebron,
wo 400 Siedler in erklärter Feindschaft mitten unter 30.000
Palästinensern leben, weil es dort eine heilige jüdische Stätte
zu verteidigen gibt, ist das beste Beispiel für ein archaisches
Judäa. Die beiden Blöcke sind kaum imstande, miteinander zu
kommunizieren. Ben Gurions Vision, mit dem neuen Staat auch
den »neuen Juden« zu kreieren, aus Polen, Deutschen,
Marokkanern usw. einen neuen nationalen Typus zu schaffen,
den er sich im übrigen blond, blauäugig, groß und stark
vorstellte, erwies sich als reaktionäres Hirngespinst.
F: Können
diese Widersprüche im Sinne einer Demokratisierung bzw.
Entzionisierung genutzt werden?
Der 1948 gegründete
jüdische Staat bedeutet Diskriminierung per Definition. Doch es
gibt ein starkes Bedürfnis im säkularen Sektor der israelischen
Gesellschaft nach einem demokratischen Staat im westlichen,
liberalen Sinn. Gleichzeitig sind nach dem Scheitern von Oslo
die Denkmuster aus den 1950er und 1960er Jahren wieder
bestimmend geworden. Wir erleben eine Neuauflage des alten
Diskurses, demzufolge Israel sich gegen die ganze Welt
behaupten müsse. Zu Beginn der Verhandlungen waren 70
Prozent der Israelis für einen Ausgleich mit den
Palästinensern, welcher Art auch immer, nun beansprucht die
große Mehrheit in Israel eine Carte blanche für die Fortsetzung
der expansiven Siedlungspolitik. Nach dem Scheitern von Oslo
steht uns ein langer Kampf bevor, einer, der nicht wenige
Monate, sondern Jahre dauern wird. Der Tiefpunkt ist noch
nicht erreicht. Auch vom gegenwärtigen Waffenstillstand soll
man sich nicht täuschen lassen. Spätestens im Frühjahr wird
die israelische Führung neue Auseinandersetzungen
provozieren.
F: Die politische Bewegung der Palästinenser ist
in mehrere, sich mitunter heftig bekämpfende Strömungen
gegliedert. In Arafats Al Fatah, die linkssäkularen Kräften um
die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) und die
Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP) sowie
den Islamisten um Hamas und Dschihad. Bevorzugen Sie eine
dieser Strömungen?
Ich bin für den Befreiungskampf und fühle
mich am stärksten mit der palästinensischen Linken, also mit
der PFLP und der DFLP, verbunden. Doch es wäre eine typisch
kolonialistische Attitüde, den Palästinensern vorschreiben zu
wollen, wie sie ihren Kampf zu führen haben und von welchen
Kräften sie sich dabei leiten lassen sollen. Selbstbestimmung
bedeutet, auch über die Kampfformen zur Erreichung dieses
Ziels selbst bestimmen zu können. Natürlich ist die Frage
legitim, ob militärische Aktionen in Israel zweckmäßig sind und
nicht vielmehr bewirken, daß die militärische Unterdrückung der
Palästinenser in den besetzten Gebieten um ein vielfaches
verstärkt wird. Doch diese Frage zu beantworten, ist nicht
Aufgabe der israelischen Linken. Die zur Zeit vorherrschende
Einheit gegen die Okkupation ist eine große Errungenschaft.
Sie darf nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Selbst
wenn man sich auf eine falsche Politik einigen sollte, wäre das
immer noch besser, als sich in einen Bürgerkrieg treiben zu
lassen. Meiner Meinung nach ist die Einheitsfront die sicherste
Garantie, um sich in diesem Kampf langfristig zu behaupten.
F: Hat sich in den mehr als 50 Jahren der staatlichen Existenz
Israels eine israelische Nation herausgebildet?
Es ist das
Gegenteil von dem eingetreten, was Ben Gurion gedacht
hatte. Er glaubte, daß sich die israelische Nation innerhalb
weniger Jahrzehnte, innerhalb von ein oder zwei Generationen
herausbilden würde, während er hinsichtlich der Entstehung
eines starken Staates mit einer Zeitspanne von ungefähr 150
Jahren rechnete. Längst ist der Staat Israel stark und mächtig,
doch das Ziel der Bildung einer israelischen Nation ist bisher
deutlich verfehlt worden. Der Prozeß verläuft sogar eher in die
entgegengesetzte Richtung. Zwar hat sich Hebräisch als
gemeinsame Sprache etabliert, doch ansonsten entfremden
sich die unterschiedlichen Gemeinschaften zunehmend
voneinander. Die Widersprüche zwischen religiösen und
säkularen Juden, zwischen orientalischen und westlichen
Juden sind größer und nicht kleiner geworden. Es gibt keine
kollektive Identität. Das einzige gemeinsame
Identitätsmerkmal wäre die Religion, doch gerade die ist ein
Element der Trennung und nicht der Einheit. Ich persönlich
gehöre sicher nicht der gleichen Nation an wie die Siedler in
Hebron.
F: Den Palästinensern wird oft mangelnde Sensibilität
für die jüdische Leidensgeschichte, besonders für den
Holocaust, nachgesagt. Ist dieser Vorwurf berechtigt?
Der in
den USA lebende palästinensische Intellektuelle Edward Said
hat dieses Problem sehr schön auf den Begriff gebracht. Auch
er wirft seinen Landsleuten vor, den Massenmord an den
europäischen Juden zu verdrängen. Doch er empfiehlt ihnen,
offensiv mit dieser Frage umzugehen. Das heißt, deutlich zu
machen, daß dieser Völkermord ich verwende den Begriff
Holocaust nicht, weil er ein religiöser ist nicht von den
Palästinensern begangen wurde. Daß der Mord an den
europäischen Juden nichts mit dem jüdisch-palästinensischem
Verhältnis zu tun hat, sondern mit dem Verhältnis zwischen
Juden und Deutschen bzw. zwischen Juden und christlichen
Europäern. Daß also die Palästinenser die Opfer der Opfer
sind. Doch auch in Israel wird mit dem Auschwitz-Vermächtnis
völlig falsch umgegangen. Richtig wäre gewesen, hätten die
Überlebenden den Sieg über das Naziregime als ihren Sieg
empfunden. Sie hätten ihr Auschwitz-Vermächtnis, ihr
kollektives Gedächtnis nicht zu einem nationalen, sondern zu
einem universellen Wert erheben müssen, kundtun müssen,
daß sich ein solches Verbrechen niemals und nirgendwo mehr
wiederholen dürfe. Doch der Zionismus reagiert auf Auschwitz
ganz anders: Niemals mehr dürfe Juden solches angetan
werden, und um das sicherzustellen, müsse ihnen alles erlaubt
sein. Auch, wenn das allen zivilisatorischen Normen und
humanitären Werten widerspricht.
Aus: junge welt, 19. Januar 2002
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