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Der Beginn eines Wandels?

Fragen nach dem Auseinanderbrechen der Einheitsregierung in Israel

Im Folgenden dokumentieren wir einen kurzen Kommentar, den Uri Avnery für die Friedensorganisation Gush Shalom verfasst hat und einen Artikel, den uns Hans Lebrecht geschickt hat. In beiden Artikeln geht es um den Rücktritt des Verteidigungsministers Ben-Elieser aus dem Scharon-Kabinett, dem mittlerweile auch Schimon Peres gefolgt ist. Welches sind die Gründe dafür? Geht es nur um Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der finanziellen Förderung jüdischer Siedlungen in den besetzten Gebieten? Oder geht es auch darum, dass Ben-Elieser die Flucht nach vorn antreten muss, um sich in der eigenen Partei, die kriegsmüde ist, an der Spitze zu halten. Die innerparteiliche Konkurrenz ist groß und an einem Ende des Krieges gegen die Palästinenser interessiert.
Den kurzen Text von Avnery haben wir ins Deutsche übertragen; wir dokumentieren aber auch die englische Fassung.



Der Beginn eines Wandels?

Uri Avnery stellt in dem kurzen Text, der am 1. November in der israelischen Zeitung Ha'aretz veröffentlicht wird, die Frage, ob die Demission der Minister Ben-Elieser und Peres den Anfang einer politischen Veränderung in Israel darstellen. Das Auseinanderbrechen der Regierung passiert, nachdem die Scharon-Regierung ein politisches, militärisches und ökonomisches Desaster hinterlassen hat. Benjamin Ben-Elieser, so wird erinnert, hat immerhin alle Untaten der Regierung mitgetragen. Mit seinem Rücktritt verfolgt Ben-Elieser vor allem die Absicht, die Vorwahlen in seiner Partei zu gewinnen und die Führungsposition zu behalten.

Offenbar hat Ben-Elieser ein Gespür dafür, dass die Allgemeinheit diese Regierung ablehnt, eine Regierung, die die Taschen der Armen plündert, um die Siedlungen auszuweiten, eine Regierung, die mit Absicht jeden Weg zu einem Frieden blockiert, eine Regierung, die nicht anderes anzubieten hat als permanenten Krieg, wirtschaftlichen Niedergang und sozialen Abstieg.

Aus all diesen Gründen hat sich Ben-Elieser - reichlich spät - den Anstrich einer Friedenstaube gegeben. Man kann ihm nicht glauben, aber man kann seine Überlegung nachvollziehen: Dass die Öffentlichkeit die Nase voll hat vom Krieg und einen Führer sucht, der eine Friedensbotschaft hat. Der Kampf der Friedenskräfte hat zu dieser Situation beigetragen. Lasst uns unsere Kräfte verdoppeln, damit wir einen wirklichen Wandel erreichen.

Gush Shalom (Friedensblock)

THE BEGINNING OF CHANGE?

The Sharon-Fuad*-Peres government is falling apart, after leading us to political, military and economic disaster. Binyamin Ben-Eliezer, a partner in all its misdeeds, has abandoned it.

He did this in order to win his party's primaries and remain at its helm.

This means he feels that the general public loathes this government, which loots the money of the poor in order to enlarge the settlements and willfully blocks every road to peace; a government that has nothing to offer but permanent war, economic decline and social degeneration.

That is why Ben-Eliezer has adopted, belatedly, a dovish agenda. One cannot believe him, but one can believe his calculation: that the public is fed up with the war and is longing for a leader with a message of peace.

The struggle of the peace forces has helped to create this situation. Let's redouble our efforts, in order to achieve a real change.

Gush Shalom
ad published in Ha'aretz, November 1, 2002.

Fuad: nickname of Ben-Elieser


Nach dem Zusammenbruch seiner "Einheitsregierung"
SCHARON VERSUCHT EINE ÜBERGANGSREGIERUNG MIT DEN RECHTS-AUSSEN PARTEIEN ZUSAMMENZUTROMMELN


Von Hans Lebrecht, Kibbutz Beit-Oren

Nach der dramatischen Entwicklung am Mittwoch (30. Okt.), dessen Schauplatz die Knesseth, das israelische Parlament, war, welche letztendlich mit dem Rücktritt der Arbeitspartei Minister und der Annahme des Staatshaushaltes für 2003 in erster Lesung endete, erschütterte, wie schon erwartet, die politische Landschaft in Israel. Die so genannte Einheitsregierung, welche im Grunde genommen eine Regierung war, in welcher die Arbeitspartei Mitglieder lediglich als Feigenblatt für die rechtsgerichtete Gewaltpolitik gegenüber den Palästinensern diente, hat ausgedient.

Scharon versucht nun, eine Übergangsregierung bis zu den wahrscheinlich vorgezogenen Neuwahlen zusammenzutrommeln. Dafür könnte er eventuell eine knappe Knesseth-Mehrheit erhalten, oder als eine zeitweilige Minderheitsregierung amtieren können. Als Verteidigungs-, oder vielmehr Kriegsminister nennt er den erst vor zwei Monaten entlassenen rechtsradikalen Generalstabschef Schaul Mofas, was einem Gesetz zu einer "Abkühlungsperiode" politischer Tätigkeit für abgehende Offiziere widersprechen würde. Mofas musste bekanntlich gerade heute seinen Besuch in England abbrechen und das Land fluchtartig verlassen, u.a. weil ein Gruppe von Friedenskräften beantragt hatte, ihn als Kriegsverbrecher zu verhaften und vor ein Tribunal zu stellen. Als Außenminister wünscht sich Scharon, den bisherigen Schimon Peres (Arbeitspartei) beizubehalten, welcher dies aber schon kategorisch zurückgewiesen hat. Jetzt denkt er diesen Posten dem rechtsradikalen und für den so genannten "Transfer" der Palästinenser in arabische Nachbarländer plädierende MK Avigdor Liebermann zu übertragen. Sollte dieser nicht mitmachen, hat Scharon bereits verkündet, dass er eventuell diesen Posten, neben seinem Ministerpräsidentenamt selbst übernehmen werde.

Der nächste vorhergesehene Stolperstein für eine neue Scharon Regierung, ein der Knesseth vorliegender Misstrauensantrag der Meretz Partei, welcher jetzt, nach der Entwicklung von Mittwoch von der größten parlamentarischen Partei Fraktion, der Arbeitspartei und anderen, mitgetragen werden würde, entfällt wohl. Ein Misstrauensantrag gegen eine temporäre Übergangsregierung ist, einem Grundgesetz zufolge, nicht zulässig.

Als populistische Ausrede für den Abschied aus der Scharon Regierung diente dem Noch-Vorsitzenden der Arbeitspartei, Binjamin Ben-Elieser, der, wie Yoel Marcus, ein Kommentator der Ha´aretz Tageszeitung bemerkt, "Jahrzehnte hindurch mit Scharon aus einem Armee-Freßnapf aß", war eine, von Scharon und seinem Finanzminister Schalom abgelehnte Abänderung des der Knesseth vorliegendem Staatshaushaltsplanes. Ben-Elieser und seine Genossen forderten eine Kürzung der großzügigen Zuschüsse für die Kolonistensiedlungen im besetzten Palästina (auch sie benützen die chauvinistisch-annexionistische Bezeichnung "Judea, Samaria und Gasa") und Überführung der dadurch eingesparten Ausgaben zur Verringerung der eingeplanten Kürzungen im Sozialpaket. Die Tatsache, dass diese Forderung ultimativ noch vor der ersten Lesung und nicht wie üblich während der noch bevorstehenden Debatten in dem dafür zuständigen Ausschuss eingebracht wurde, wird allgemein als Trick von Ben-Elieser im Vorfeld der für den 17. November stattfindenden innerparteilichen Vorwahlen (Primaries) für den Parteivorsitz angesehen. Mit diesem Trick hofft er seine mutmaßliche, durch Meinungsumfragen gestärkte Wahlniederlage zu verhindern. Aber auch das wird ihm voraussichlich nichts nützen. Seine Falken-Ansichten und Hardliner-Tätigkeit als der Scharon voll und ganz unterstützende Verteidigungsminister, insbesondere als verantwortlicher Minister während der brutalen staatlichen Terrorkampagne gegen die Palästinenser der vergangenen Monate, kann er kaum vergessen machen. Demgegenüber steht die schon längst vorgetragene innerparteiliche Kampagne des so genannten Taubenflügels gegen die Beteiligung der Arbeitspartei an der rechtsradikalen Scharonregierung.

Ben-Eliesers Hauptgegner und in den Meinungsumfragen weit vorne liegender Gegenkandidat für den Vorsitz der Partei und wahrscheinliche Arbeitspartei Kandidat für die nächsten Wahlen zur 16. Knesseth und Ministerpräsidentenposten ist immer noch der Haifaer Oberbürgermeister und General a.D. Amram Mitzna. Am Mittwochabend, nachdem die Würfel in der Knesseth gefallen waren, betonte Mitzna bei einer Versammlung der Jerusalemer Partei Ortsgruppe, er sei sich auch nach diesem augenscheinlichen Vorwahltrick von "Fuad" (Ben-Elieser) seines Wahlsieges bei den innerparteilichen Vorwahlen gewiss.

Wann die nächsten Wahlen zur Knesseth und damit dem Regierungschefposten stattfinden werden, ist noch ungewiss, aber sicherlich nicht zu einem Termin am Ende der gesetzlichen Legislaturperiode im November nächsten Jahres. Man rechnet jetzt allgemein mit Wahlen im kommenden März oder April.

Kibbutz Beit-Oren, 31. Oktober 2002


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