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Viele neue Köpfe mit leeren Botschaften

Israelis fühlen sich vom Wahlkampf genervt

Von Oliver Eberhardt, Jerusalem *

Klangvolle Namen, wenig Inhalte: Der israelische Wahlkampf hat, im Straßenbild sichtbar, begonnen; stellt die Wähler des Landes aber vor Rätsel.

Die zu Wählenden sollen Richtungsentscheidungen über Sozialpolitik und den Friedensprozess treffen. Doch die Vielzahl von Parteineugründungen in Israel macht die Lage äußerst unübersichtlich. Die Wähler reagieren genervt.

Die Hausordnung klebt zur Sicherheit schon an der Eingangstür: »Keine Politik, keine Religion«, heißt es in dem knappen Regelwerk auf altem, neuem Hebräisch, Arabisch, Englisch, Russisch. »Als ich den Zettel vor ein paar Monaten da hingehängt habe, war es ein Scherz - es wurde nur noch über das Eine gesprochen, und am Ende der Nacht sind alle unbefriedigt nach Hause gegangen«, erklärt Juwal, der Besitzer der Kneipe in der Innenstadt von West-Jerusalem, und fügt hinzu: »Wenn ich mir immerzu anhören muss, wer hier welche Partei zusammen mit wem gründen will, bin ich bald reif für die Psychiatrie.«

Und die Menschen scheinen ihm rechtzugeben. Es ist Donnerstag, der Abend vor dem Wochenende, an dem sich Säkulare, Religiöse, also alle, in den Innenstädten von West-Jerusalem, Tel Aviv, Haifa zum Kneipenbummel versammeln, und der Laden ist zum Bersten voll: Der Fernseher an der Wand zeigt auf Discovery Channel abwechselnd Beiträge über Haie und Nazis; junge Männer mit der Kippa, dem Symbol der Nationalreligiösen, auf dem Kopf, der eine oder andere ultraorthodoxe Jude und sehr viele Säkulare, jung wie alt, drängen sich im Raum. Gespräche, auf Hebräisch, Arabisch, Englisch über Beziehungen, Jobsuche, den nächsten Urlaub sind zu hören.

Sind Israelis tatsächlich ein unpolitisches Volk geworden, wie es ein Kommentator der Zeitung »Ha'aretz« gerade behauptet hat? »Nein«, antwortet die Meinungsforscherin Mina Tzemach: »Das Interesse an Inhalten ist heute größer denn je. Deshalb kommen die Menschen nicht damit klar, dass die Parteienlandschaft ihren Wahlkampf komplett auf Köpfe ausrichtet, ohne die Themen zu kommunizieren.«

Und tatsächlich. Draußen, vor der Kneipe, haben sich einige Gäste zum Rauchen versammelt. Was ihnen bei der Wahl wichtig ist? »Die Sozialpolitik«, sagen die jungen Leute übereinstimmend und erzählen von ihrer Suche nach bezahlten Jobs und bezahlbaren Wohnungen, von der Wut auf die Anfang September eingeführte Mehrwertsteuererhöhung, die das Leben noch ein bisschen teurer gemacht hat.

Wen sie wählen werden? Den Likud, die ultrarechte Siedlerpartei »Jüdische Heimat«, sagen die Nationalreligiösen; die religiöse Schas-Bewegung ist die Wahl eines Ultraorthodoxen. Doch der Rest schüttelt ratlos den Kopf; »Ich steige da nicht durch«, sagt eine junge Frau. Wie tief der Unmut über diesen Wahlkampf sitzt, kann man im Internet nachlesen. Tausende machen ihrer Wut auf die Vorgänge im Rennen um die nächste Knesset Luft. Das Zentrum und die Linke sollten endlich Inhalte präsentieren, den Menschen sagen, wofür sie stehen. Doch die schweigen weiter.

Und zelebrieren lieber die Frage, ob Ex-Premier Ehud Olmert, die ehemalige Außenministerin Zippi Livni überhaupt oder zusammen oder getrennt mit neuen Parteien antreten werden, während die Arbeiterpartei mit dem Gerücht um Aufmerksamkeit feilscht, Präsident Schimon Peres, 89, überlege zurückzutreten, um erneut für das Amt des Regierungschefs zu kandidieren.

Vor der Kneipe sagt jemand, die politikfreie Zone sei das Beste, was in der Stadt jemals erfunden worden sei - »der ideale Ort, um sich zu verstecken, bis die Sache vorbei ist.«

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 13. November 2012


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