Schwarze Fahne, finsteres Licht
Wehrdienstverweigerung löste in Israel eine Debatte über die Moral der Besatzungspolitik aus
Von Moshe Zimmermann*
Gesellschaften, die das Militär hoch schätzen, lassen an den Handlungen
dieses Militärs keine Kritik zu. Kommt sie doch auf, prallt sie automatisch
ab. Fällt dieser Automatismus aus, wird zum Gegenangriff übergegangen: In
der Regel wird die Kritik als Dolchstoß gebrandmarkt und so delegitimiert.
Mut allein bewirkt wenig; konstruktiv wird solche Kritik nur, wenn Ikonen
der militaristischen Gesellschaft sie formulieren.
Was ist idealtypischer als ein Kampfpilot, ein Oberst, dazu schwer verwundet
und ehemaliger Kriegsgefangener? Tatsächlich gibt es in Israel eine solche
Ikone: Igal Schochat hat es geschafft, endlich die längst fällige Debatte um
die Rechtmäßigkeit der Tätigkeit des Militärs in den besetzten Gebieten zu
entfesseln.
Schochats Kampfjet wurde 1970 von der ägyptischen Luftabwehr abgeschossen;
er geriet in Gefangenschaft, wo sein Bein amputiert wurde. Nach seiner
Heimkehr studierte er Medizin und wurde Chefarzt der Luftwaffe. Diese
Karriere machte ihn in der militärverehrenden Gesellschaft Israels
unantastbar. Sein Aufruf am 18. Januar, den Kriegsdienst in den besetzten
Gebieten zu verweigern, schlug deshalb ein wie eine echte Bombe.
1957 sprach ein Gericht das Urteil über ein Massaker, das eine Kompanie der
israelischen Armee an israelischen Arabern verübt hatte. Die Soldaten
argumentierten, sie hätten Befehle befolgt, noch dazu in einer
Notstandssituation. Das konnten die Richter jedoch nicht akzeptieren; sie
kannten die Nürnberger Urteile. Das Urteil sprach von der "schwarzen Fahne",
die über eindeutig illegalen Befehlen weht - eine Sprachmünze, die Oberst
Schochat nun zu reaktivieren versucht. Nicht nur Infanteristen, auch
Piloten, die Ziele im palästinensischen Autonomiegebiet bombardieren,
befinden sich nach seiner Meinung im Schatten jener schwarzen Fahne.
Schochat gibt zu, dass sein Aufruf nicht konsequent genug ist: "Ich weiß,
dass manchmal der Soldat, der im Hauptquartier seine Arbeit leistet, mehr
Unrecht stiften kann als der Soldat an der Straßensperre".
Der Preis der Besatzung
Das war der "Trigger". Eine Woche später erschien in den Zeitungen der
Aufruf von 52 Offizieren und Soldaten, alle aus Kampfeinheiten, also
"unantastbar" in den Augen der israelischen Gesellschaft: "Die Befehle,
die wir erhielten, zerstören alle Werte, die wir in diesem Land verinnerlicht
haben. Wir begreifen heute, dass der Preis der Besetzung die Korrumpierung
der gesamten israelischen Gesellschaft ist." Einige unter den 52 saßen
bereits im Militärgefängnis, wegen Dienstverweigerung in den besetzten
Gebieten. Im Internet meldeten sich bald weitere 200 Reservesoldaten. Keine
echte Massenverweigerung - doch das Problem ließ sich nicht mehr unter den
Teppich kehren.
Die Luftangriffe gegen Ziele in dicht besiedelten Städten, die Liquidierung
von Terroristen, die Zerstörung palästinensischer Häuser und Felder, vor
allem das alltägliche Schikanieren von Palästinensern an Straßensperren
brachten das Fass der latenten Vorwürfe gegen die Armee zum Überlaufen.
Kritisiert wurden auch die Euphemismen der Militärs: "Gezielte Vereitelung"
oder "Liquidieren" für Töten, "Krone" für hermetische
Abriegelung, "Entblößung" für den Abriss von Häusern und Bäumen, "Terrorist"
für jedes beliebige Ziel der israelischen Vergeltungsstrategie. Darauf antwortet die
harte Sprache der Protestierenden: Sie reden von unmenschlichem Verhalten
des Militärs, ja von der Gefahr fürs Gemeinwesen. Schochat sprach auch von
der Apartheid-Einstellung der Siedler, die die ganze Gesellschaft erfasse.
Selbst der ehemalige Chef des Geheimdienstes zweifelte den Sinn der
"Liquidierungen" offen an, und sein Nachfolger sprach sein Erstaunen darüber
aus, dass sich so wenige Soldaten an die Regel der "schwarzen Fahne" halten.
So haben "Linke" zwar allzu oft seit 1967 geredet - und wurden prompt
als Schöngeister oder Verräter abgehakt. Gegen Offiziere und Geheimdienstchefs
a. D. ist diese Taktik jedoch nicht anwendbar. Mehr noch: Die Zahl der
"grauen Dienstverweigerungen", also der Versuche, sich ohne Deklaration und
ungestraft vor dem Reservedienst in den besetzten Gebieten zu drücken, ist
hoch.
Das Establishment setzt sich zu Wehr. So der Generalstabschef: Der Protest
beruhe "nicht auf moralischer Basis", sondern sei ideologisch und politisch
inspiriert. Sein Beweis: Die Protestler sprächen davon, man solle "die
Gebiete" verlassen. Dass er sich selbst zum Instrument einer anrüchig
ideologisierten Siedlerpolitik macht, mag er nicht begreifen; für ihn wie
für die Mehrheit der Gesellschaft ist die Siedlungsbewegung keine Politik,
sondern eine Selbstverständlichkeit, keine unmoralische Haltung, sondern die
höchste Moral.
Die selbstverständlich gewordene Akzeptanz des Besatzungszustands, gekoppelt
mit der militärfreundlichen Mentalität, bietet den Rückhalt für die
Regierungspolitik. Eine Meinungsumfrage zeigt: Vier Fünftel der Israelis
betrachten Militärdienstverweigerung in den besetzten Gebieten als nicht
legitim. Hier unterscheiden sich die Wähler der linken Parteien kaum von
anderen. So ist die Debatte zwar da, aber die Aussicht auf baldigen Erfolg
eher gering. Die Grundwerte einer militarisierten und terrorisierten
Gesellschaft zu ändern ist eine schwierige Aufgabe: Drei Viertel der
jüdischen Israelis befürworten die "Liquidierungen" von palästinensischen
Terroristen, und die Mehrheit glaubt, die Ausschreitungen des Militärs gegen
palästinensische Zivilisten sollten weniger stringent als solche gegen
Israelis oder - so denkt immerhin ein knappes Viertel - gar nicht verfolgt
werden.
Klare Unterschiede gibt es aber zwischen religiösen und nicht religiösen
Menschen. Bekanntlich sind palästinensische Selbstmordattentäter
fundamentalistische, gläubige Moslems. In der jüdischen Gesellschaft sind
die Befunde weniger explosiv, jedoch alarmierend: Doppelt so viele (nämlich
43 Prozent) Wähler der orientalisch-religiösen Schas-Partei wie selbst
Likud- Anhänger fordern, von Menschenrechtsverletzungen gegen Palästinenser
solle weggeschaut werden.
Im Sinne der Moral?
Von dieser Seite kam denn auch die hemmungsloseste Reaktion auf die Kritiker
des Militärs. Drei Tage nach dem Aufruf zur Kriegsdienstverweigerung
erschien die unfassbare Empfehlung eines Rabbiners der Siedlung Alon Schwut:
Um das Phänomen der Selbstmordattentäter zu bekämpfen, übernehmen "wir
wieder die Aufgabe, 'Licht für die Völker' zu sein, diesmal ein finsteres
Licht: Die Familien der Selbstmordattentäter zu treffen... , durch
Vertreibung, Requirierung und sogar Ausmerzen eines Banditendorfs". Der
Rabbiner fügte hinzu: "Der vorgeschlagene Weg ist im Sinne der jüdischen
Moral."
Ein Rabbiner aus einer anderen Siedlung, Knessetabgeordneter und
Vorsitzender der rechtsradikalen "Partei der nationalen Einheit", nahm die
Parole seines Vorgängers, des ermordeten Ministers Seewi, wieder auf, und
verlangte den Transfer, ja die Vertreibung von Palästinensern.
Intellektuelle und Journalisten, die ihre Geschichtsstunden nicht vergessen
hatten, schlugen Alarm: Die Debatte breche ausgerechnet in der Woche aus, in
der man sich anderswo mit dem Thema "60 Jahre Wannseekonferenz" befasse.
Der Streit geht auch prinzipiell ums Widerstandsrecht in einer Demokratie.
Auch wenn nur fünfzehn Prozent die protestierenden Soldaten unterstützen,
stärkt ihr Widerspruch die demokratische Praxis im Land. Das sollte auch dem
deutschen Außenminister bewusst sein, wenn er nächste Woche in Israel die
Vertreter des Militärestablishments, Sharon, Ben Eliezer und Peres, trifft.
Man erwartet von dem grünen Politiker Fischer eine andere Haltung zur
Kriegsdienstverweigerung als von George W. Bush.
Eine Randbemerkung für deutsche Rechtsradikale, die nächste Woche, statt
gegen die Wehrmachtsausstellung zu protestieren, zum deutsch- israelischen
Freundschaftsspiel nach Kaiserslautern fahren, um auf dem Betzenberg gegen
die israelische Politik zu demonstrieren: Die israelischen Nationalspieler
sind privilegiert und leisten keinen Militärdienst in den besetzten
Gebieten. Wären alle so privilegiert, hätte sich der Prozess erübrigt.
* Der Autor lehrt Geschichte an der Hebräischen Universität von Jerusalem und
ist Direktor des Richard-Koeber-Centers for German History.
Aus: haGalil onLine 28-01-2002
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