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Ein Linker wagt sich in die Dreckecken

Nitzan Horowitz von der Meretz-Partei will den langjährigen Oberbürgermeister von Tel Aviv ablösen

Von Oliver Eberhardt, Tel Aviv *

Jetzt kommt Horowitz, der unkonventionelle Bürgermeisterkan- didat. Zum ersten Mal seit 15 Jahren muss in Tel Aviv der Amtsinhaber um seinen Posten zittern.

Die Gegend um die Zentrale Busstation im Süden Tel Avivs ist ein Ort, an dem man sich nicht aufhält, wenn man nicht unbedingt muss. Laut, dreckig, heruntergekommen ist dieses Viertel; die glitzernden Fassaden der Hochhäuser, die Bauhausbauten, die Hotels im Zentrum der Stadt sind nur wenige hundert Meter weit entfernt.

Selten verirrt sich ein Tourist hierher. Noch seltener ein Politiker. Denn in der Regel gibt es eine ordentliche Pöbelei, wenn sich doch mal jemand den Anwohnern stellt, weil die sich von allen und vor allem von der Politik verlassen fühlen.

Und so ist das Aufsehen umso größer, als sich ausgerechnet ein Linker hierher wagt. »Gerade jetzt«, sagt Nitzan Horowitz, während seine Mitarbeiter Flyer verteilen, auf denen seine Pläne für diesen Teil der Stadt erläutert werden. »Wir müssen Lösungen anbieten. Sonst gehen die Leute wieder nicht zur Wahl.«

Am Dienstag werden in Israel neue Kommunalparlamente und Bürgermeister gewählt. Und in Tel Aviv ist die Wahlbeteiligung meist extrem niedrig – gerade mal 37,5 Prozent gaben 2008 ihre Stimme ab. Der Grund sei, sagen Wahlforscher, dass viele Tel-Avivim entweder zufrieden seien oder aber keine Alternative sähen – letzteres ist vor allem im Süden der Stadt der Fall. Ron Huldai, Bürgermeister seit 15 Jahren, ist irgendwo in der Mitte angesiedelt und wird von den großen Parteien mitgetragen, weil er den Job macht und sich aus der nationalen Politik raushält. Die Gegenkandidaten sind meist wenig bekannt und unerfahren.

Mit Horowitz hat Huldai nun zum ersten Mal seit Langem einen wirklich ernst zu nehmenden Gegenkandidaten bekommen: Der 48-Jährige, der seit 2009 für die linke Meretz-Partei in der Knesset sitzt, hat politische Erfahrung, er hat eine Plattform, »er ist das Amalgam dessen, was Tel Aviv gerne sein möchte«, wie ihn die Zeitung »Ma'ariv« jüngst beschrieb. Als der derzeit einzige Politiker des Landes, der offen homosexuell lebt, verkörpere er das Bild, das Tel Avivs Liberale von ihrer Stadt haben, und biete zudem die Möglichkeit, sich damit zu rühmen, den einzigen schwulen Bürgermeister im Umkreis von mindestens 1000 Kilometern zu haben. Dadurch, dass er in einer festen Partnerschaft lebe, spreche er die Wertkonservativen an. Aber sehr viel wichtiger seien seine Pläne für mehr soziale Gerechtigkeit in der teuersten Stadt der Region.

Sie sind etwas, was die Menschen anzieht. Horowitz und sein Team sind schnell von einer Menschenmenge umringt. Manche sind schon auf 180, als sie die Schilder mit dem Schriftzug der Meretz-Partei sehen. »Linke Träumer«, schimpft einer, »Alle Menschen lieb haben, auch wenn sie einen kaputtmachen.« Und trotzdem: Man will hören, was er zu sagen hat. Denn zwar hat der Süden mit dem Nachbarschaftsaktivisten Aharon Meduel einen eigenen Kandidaten. Der allerdings auch hier nicht wirklich ankommt. Man wisse, was er wolle, aber einen Plan habe er eben nicht, sagen viele.

Gerade erst hat der Oberste Gerichtshof ein Urteil gefällt, das die Leute auf die Palme gebracht hat. Die Regierung darf Flüchtlinge aus Afrika nicht irgendwo in der Negev-Wüste einsperren, bis sie abgeschoben werden können. Mehrere tausend Flüchtlinge wurden in den vergangenen Monaten interniert; Menschen, die zuvor jahrelang vor allem im Süden Tel Avivs gelebt haben, immer am Rande der Illegalität. Sie dürfen nicht arbeiten, tun es aber oft trotzdem und sind damit Arbeitgebern und Vermietern nahezu schutzlos ausgeliefert. Das wiederum hat extreme soziale Probleme und Spannungen mit den israelischen Nachbarn verursacht.

Horowitz erklärt sachlich, wie er die Dinge sieht, er ist gut darin. Denn bevor er in die Politik ging, war er Journalist, zuerst bei verschiedenen Zeitungen, später beim Fernsehsender Kanal Zehn. Sein Plan ist umfangreich, detailliert, berücksichtigt Einheimische und Flüchtlinge gleichermaßen. Das gefällt vielen. Und auch, dass er die Anwohner nicht, wie viele andere, gleich als Rassisten abstempelt.

Hat Horowitz wirklich eine Chance? Niemand kann das zuverlässig sagen, weil es so gut wie keine belastbaren Umfragen gibt. Was man sagen kann: Die Stadt ist gut für Überraschungen. Bei der vergangenen Wahl zwang der Kommunist Dov Chenin Amtsinhaber Huldai in den zweiten Wahlgang und kam dann überraschend auf 34,3 Prozent der Stimmen. Und auch dies: Meretz generiert einen Großteil seiner Wählerstimmen auf nationaler Ebene in und um Tel Aviv herum; im 31 Sitze umfassenden Kommunalparlament hat die Partei derzeit drei Sitze. Zum Vergleich: Huldais Liste Tel Aviv 1 hält fünf Mandate.

Seitdem hat die Stadt allerdings mehrere Wellen von Protesten gegen die hohen Lebenshaltungskosten erlebt, die Huldai – vermuten Analysten der örtlichen Medien – massiv an Unterstützung gekostet haben dürften. So hatte er den Demonstranten nicht nur rundweg die Unterstützung versagt, sondern sie auch für ihre Proteste kritisiert. Und am Ende des Sommers 2011 ließ er das Ordnungsamt morgens das Zeltlager auf dem Rothschild-Boulevard räumen, das zuvor monatelang Symbol der Proteste war.

Gebessert hat sich hingegen nichts. Die Mietpreise verschlingen selbst in der Mittelschicht um die 50 Prozent des Familieneinkommens. Und neuer bezahlbarer Wohnraum wird von der Regierung vor allem außerhalb gebaut; dort, wo die Jobs nicht sind. Hauptgrund: Tel Avivs Stadtverwaltung lässt auf öffentlichem Baugrund nach wie vor vor allem Luxuswohnungen errichten. »Das bringt Steuern in die Stadtkasse, von denen alle Einwohner der Stadt profitieren«, sagte Huldai vor einigen Wochen in einem Interview.

»Dass das nicht so ist, kann hier wohl jeder auf den ersten Blick sehen«, sagt Horowitz, während ein leichter Windhauch Abfall zwischen den Beinen der Menschen hindurch weht. Selten schickt die Stadtverwaltung mal ein paar Arbeiter vorbei, den Müll aufzusammeln. In manchen Wochen fällt die Müllabfuhr aus, weil nicht genug Wagen da sind und das Zentrum Vorrang hat.

Zünglein an der Waage könnten die Lesben, Schwulen und Transsexuellen werden, für die Tel Aviv im Laufe der Zeit wegen seiner Größe und Offenheit zum Zentrum geworden ist. Bisher wählte die Szene, in der die Wahlbeteiligung traditionell hoch ist, vor allem Huldai. Denn der inszenierte sich im Laufe der Jahre als Unterstützer, zeigte sich bei der jährlichen Gay Pride Parade, bevor es andere Politiker von Rang und Namen taten. Doch auch hier hat sein Image gelitten. Längst ist die Parade zum Massenevent geworden, bei dem sich auch Minister aller Couleur zeigen.

Horowitz hat hier vor allem dadurch an Unterstützung gewonnen, dass er sich für Gleichstellung einsetzt, und seine Homosexualität offen lebt. »Die sexuelle Orientierung ist nicht alles im Leben«, sagt Horowitz. »Die Leute haben darüber hinaus die gleichen Probleme wie alle anderen auch.« Man müsse sich bewusst sein, dass die hohen Lebenshaltungskosten auch Toleranz und Offenheit gefährden, für die Tel Aviv weltweit bekannt ist: »Immer weniger können es sich wirklich leisten, hier zu leben, auch wenn die Anziehungskraft der Stadt hoch ist. Wenn die Preise weiter steigen, werden die Menschen wegziehen.«

* Aus: neues deutschland, Dienstag, 22. Oktober 2013


Erstmals arabische Kandidatin

Von Oliver Eberhardt **

In 191 israelischen Städten und Gemeinden werden heute Bürgermeister und Kommunalparlamente gewählt. Anders als bei Parlamentswahlen sind alle ständigen Einwohner des Landes wahlberechtigt. Dies hat vor allem in Ost-Jerusalem eine Bedeutung, wo der überwiegende Teil der arabischen Bevölkerung nicht die israelische Staatsbürgerschaft hat. Allerdings machen dort nur wenige von ihrem Wahlrecht Gebrauch.

Wer als Bürgermeisterkandidat im ersten Wahlgang erfolgreich will, muss mindestens 40 Prozent der gültigen Stimmen erreicht haben. Die meisten Bewerber werden durch Wahllisten unterstützt, die allerdings sehr oft nicht den Strukturen der landesweiten Parteien entsprechen: Deshalb gehen immer wieder auch ungleiche Partner Allianzen ein. So wurde die Wahlliste Tel Aviv 1 des Amtsinhabers Ron Huldai im Laufe der Jahre von verschiedenen Parteien zusammengesetzt. In Jerusalem haben Ultranationalisten und Religiöse eine gemeinsame Liste aufgestellt.

Auf die Großwetterlage hat das selten Einfluss: Im Vordergrund stehen örtliche Themen, wie Mietpreise und öffentlicher Dienst; Ideologie spielt kaum eine Rolle. So tritt überraschend die Knesset-Abgeordnete Hanin Zoabi in Nazareth ohne ihre Partei Balad im Rücken an. Sie wolle nicht, dass landesweite Thematiken und die politische Orientierung der Partei die Probleme vor Ort überdecken. Zoabi ist die erste arabische Frau überhaupt, die für ein Bürgermeisteramt kandidiert. Ihre Chancen sind allerdings ungewiss: Im Wahlkampf haben sich Zoabi und Amtsinhaber Ramiz Jaraisy gegenseitig mit Vorwürfen überschüttet.

Dennoch lassen sich auch aus den Wahlbündnissen erste Anzeichen für eine Veränderung der politischen Verhältnisse ablesen. So wird die Allianz zwischen der nationalistischen Jisrael Beitenu und der religiösen Schas in Jerusalem als ein Vorzeichen für das Ende des Wahlbündnisses von Jisrael Beitenu mit dem Likud-Block auf nationaler Ebene gewertet. Der Likud unterstützt im Kommunalwahlkampf Bürgermeister Barkat. Wer am Ende das Rennen machen wird, hängt in Jerusalem aber vor allem vom Mobilisierungsgrad der einzelnen Bevölkerungsgruppen ab. Hier wird vor allem nach der Zugehörigkeit des Kandidaten zu einer bestimmten Gruppe gewählt. So wurde Barkats Vorgänger Uri Lupoliansky, ein Ultraorthodoxer, allein wegen der niedrigen Wahlbeteiligung der Säkularen Bürgermeister.

Anders als in Tel Aviv ist in Jerusalem dieses Mal das Zusammenleben in der Stadt das große Thema: Immer wieder kam es in der Vergangenheit zu Auseinandersetzungen über am Schabbath geöffnete Kinos und Restaurants; auch die Frage, ob Frauen an der Klagemauer aus der Torah lesen dürfen, erregt die Gemüter. Ein Konzept, wie diese Streitpunkte beigelegt werden könnten, hat allerdings kein Kandidat.

Gewählt wird nicht überall: In einigen, meist ultraorthodoxen Gemeinden haben sich die Wahllisten vorher auf Bürgermeister und Parlament geeinigt. Und mindestens zwei Kommunen stehen wegen schlechter Haushaltsführung unter Zwangsverwaltung des Innenministeriums.

** Aus: neues deutschland, Dienstag, 22. Oktober 2013


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