Kritik an Israel muss möglich sein
Reaktionen auf einen "taz"-Kommentar zeigen, welcher tiefe Riss durch die jüdische Diaspora in Deutschland geht
Von Martin Lejeune *
Auslöser heftiger Auseinandersetzungen war ein Zeitungstext von Iris Hefets, der unter dem Titel
»Nur auf Zehenspitzen gehen« am 9.3.2010 in der »taz« abgedruckt wurde. Die in Berlin lebende
israelische Autorin hatte darin eine Instrumentalisierung des deutschen Völkermordes an den Juden
kritisiert. In ihrem Kommentar heißt es: »Bei diesem Schoah-Kult handelt es sich, so muss man es
wohl sagen, um eine Art Religion mit festen Ritualen. Dazu gehört - ungeachtet aller heutigen
Realitäten - die feste Überzeugung, die Deutschen seien die ewigen Täter und die Israelis die
ewigen Opfer, weshalb die Gesetze und Regeln demokratischer Staaten für Letztere nicht zu gelten
hätten: ein Sonderfall halt.«
Dieses Phänomen, so Hefets weiter, führe in Deutschland zur Selbstzensur. Sobald proisraelische
Kreise erfahren, dass Juden, von denen harte Kritik an der israelischen Regierung befürchtet wird,
zu Vorträgen eingeladen sind, üben sie Druck auf die Veranstalter aus. Eine der von Hefets
kritisierten Institutionen ist die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die dem US-amerikanischen Historiker
Norman Finkelstein einen zugesagten Raum wieder verwehrte, nachdem der Vortragstermin bereits
publik geworden war. Andere Einrichtungen luden Ilan Pappe und Hajo Meyer wieder aus. »Um
dieses Phänomen des praktischen Redeverbots für jüdische Israelkrtitker in Deutschland geht es
mir«, erklärt Hefets im Gespräch.
Dass sie einen empfindlichene Nerv traf, zeigt die Reaktion von Stephan Kramer, Generalsekretär
des Zentralrates der Juden und Berlin-Chef des European Jewish Congress. Auf Hefets' »taz«-Kommentar
angesprochen, redete Kramer im Interview mit dem Magazin »Focus« (17.5.2010) von
antijüdischen »Attacken, deren Urheber offenbar keine Kinderstube genossen haben«. Hefets'
Entgegnung auf solche Vorwürfe: »Ich kritisiere die politische Elite Israels.«
Bereits am 18.3. hatte der Historiker Alexander Hasgall, ebenfalls in der »taz«, auf Hefets' Artikel
reagiert. Er suggeriert in seinem Text, Finkelstein sei Antisemit, daher müsse ihm der Auftritt in den
Räumen einer linken Stiftung verwehrt werden. »Ob solche antisemitischen Aussagen von einem
Sohn von Holocaustüberlebenden stammen« (Finkelstein) »oder vom Enkel eines SS-Offiziers«,
macht für Hasgall inhaltlich keinen Unterschied. »Hasgall setzt Opfer und Täter gleich, macht alle zu
Opfern, alle zu Tätern, alle zu nichts«, analysiert Hefets. »Hasgall widerlegt nicht meine Argumente.
Historiker des Völkermords tendieren dazu, die Geschichte aus Täterquellen zu schreiben. Keinen
Unterschied zwischen Opfern und Tätern zu machen, ist ein ahistorisches Vorgehen. Psychologisch
und moralisch gibt es selbstverständlich einen enormen Unterschied.« Hasgall versuche, die
Aussagen zu dekontextualisieren. So ebne er nichtjüdischen Deutschen den Weg, als Opfersprecher
zu fungieren. »Doch soweit sind wir noch nicht«, meint Hefets.
Iris Hefets ist Nachkomme vertriebener Sephardim, die nach der »Reconquista« vor Christen aus
Spanien flüchteten und über Marokko im 17. Jahrhundert nach Palästina kamen. Dort wurde sie
1965 geboren. »Ich kritisiere die Politik Israels als Betroffene, im Gegensatz zu den Juden und
Nichtjuden hier, die der Israel-Lobby angehören. Meine Kinder, väterlicherseits Enkel von
Überlebenden des Völkermords an den Juden, sind als israelische Staatsbürger zu Auschwitzreisen
wie zum Armeedienst verpflichtet«, sagt Hefets. 2003 wurde sie Mitglied der »Jüdischen Stimme für
einen gerechten Frieden in Nahost«, einer Sektion der »European Jews for a Just Peace«. Die 35
Mitglieder der »Jüdischen Stimme« bilden eine kritische Opposition zur übergroßen Mehrheit der in
Deutschland lebenden Juden, deren Meinung in den Äußerungen des Zentralrats zum Ausdruck
kommt, in dem die Hälfte der 200 000 deutschen Juden organisiert sind. »Wir wollen das
Meinungsmonopol des Zentralrats brechen«, begründet Hefets ihre politische Arbeit. »Deshalb
bekämpft uns der Zentralrat.«
Die größte Mitgliedsgemeinde des Zentralrats ist die Berliner Jüdische Gemeinde mit 11 000
Mitgliedern. Hier ist man offenbar höchst alarmiert, dass ein Blatt aus der Mitte der Gesellschaft
Kritik an der Instrumentalisierung des Genozids eine Bühne bietet. Deshalb war der Gemeinde
Hasgalls Widerspruch in der »taz« nicht genug. Man lud »taz«-Chefredakteurin Ines Pohl auf ein
Podium mit dem Titel »Zum Umgang deutscher Medien mit Erinnerungskultur, Israelkritik und
Antisemitismus«, das am 27.4. Hefets' Artikel diskutieren, die Autorin selbst aber nicht zu Wort
kommen lassen wollte. Bereits »der Einladungstext und die Aussagen von MitarbeiterInnen der
Jüdischen Gemeinde ließen von vornherein keinen Zweifel daran, dass es in dieser Veranstaltung
um ein Tribunal gegen Iris Hefets und ähnliche kritische Stimmen aus Israel oder den jüdischen
Gemeinden gehen sollte«, heißt es in einer Pressemitteilung der »Israelis gegen die Besatzung«.
Etwa zwanzig jüdisch-israelische Veranstaltungsbesucher, darunter Enkelkinder von HolocaustÜberlebenden,
protestierten gegen das voreingenommene Podium, indem sie »Wir sind alle Iris
Hefets«- Schilder hochhielten. Als die Gemeinde-Vorsitzende Lala Süsskind die Protestierenden
»kindisch und dumm« nannte, verließ Ines Pohl die Veranstaltung. Die Demonstranten wurden von
Polizisten aus dem Saal geführt. Weil Hefets sich in Süsskinds Grußwort zudem falsch zitiert sieht,
gibt es im Juni einen Gerichtstermin.
In Stephan Kramers »Focus«- Interview setzten sich die von Süsskind erhobenen Antisemitismus-
Vorwürfe gegen Hefets fort. »Es ist bezeichnend, dass Funktionäre des Zentralrats der Juden mich
angreifen, ohne mich zu kennen. Sie sprechen also im Namen der Juden, kriegen dafür Geld vom
Staat und blenden meine jüdische israelische Herkunft aus, während sie mir ausgedachte Attribute
und Aussagen zuschreiben. Es macht den Eindruck, sie wollen eine fiktive Figur für sich basteln und
meine Person angreifen, da ihnen die Argumente fehlen«, entkräftet Hefets Kramers
Anschuldigungen. »Ich gehöre nur zu einem Gegenstrom, der die israelisch-deutsche Interpretation
des Genozids und ihre Instrumentalisierung im Kampf gegen die Palästinenser nicht akzeptiert«. Zu
dieser Strömung gehören auch die »Jüdische Zeitung« und die »Jewrejskaja Gazeta«, die der
Zentralrat wegen ihrer kritischen Berichterstattung boykottiert.
Kramer will antisemitische Äußerungen nicht nur in der »taz« ausgemacht haben, sondern auch in
der »Jungen Welt« (jW) und im »Neuen Deutschland« (ND). Ihm zufolge berichten diese Zeitungen
einseitig, nehmen kompromisslos für Palästinenser Partei und überschreiten die Grenze zum
Antisemitismus deutlich. Dem entgegnet jW-Chefredakteur Arnold Schölzel, sein Blatt versuche
stets, viele Stimmen zu zitieren. Nicht immer die der israelischen Regierung, dafür oft linke Israelis
und Menschenrechtler, die sonst keine Stimme haben. »Die von Kramer behauptete 'einseitige Berichterstattung zum Nahostkonflikt' gibt es in jW nicht. Die findet in der deutschen
Mainstreampresse statt. Kramer spricht pauschal von 'Alibi-Juden', auf die linke Blätter als 'jüdische
Kronzeugen' angeblich verweisen. Meint er mit dieser rassistisch gefärbten These jW-Autoren wie
Moshe Zuckermann, Uri Avnery oder 100 Israelis, die einen in jW dokumentierten Brief an die LINKE
verfassten?« Kramer gehe es nicht so sehr um Aufklärung über Antisemitismus, sondern eher um
Verdrehung linker Positionen.
Auf Kramers Vorwurf, das ND zeichne Israel als rassistischen und imperialistischen Kolonialstaat, in
dem »das Agieren der israelischen Armee unterschwellig in die Nähe der Wehrmacht gerückt«
werde und rufe »zu Boykotten israelischer Waren« auf, antwortet ND-Chefredakteur Jürgen Reents: »Die Vorwürfe sind unzutreffend. Das ND hat kein Einfallstor für Antisemitismus. Die Bekämpfung
von Antisemitismus und jeder Form von Rassismus gehört zu unserer unverrückbaren redaktionellen
Orientierung.« Über die israelische Politik berichte ND mit denselben kritischen Maßstäben, mit
denen es insgesamt berichte. Doch »für die Missachtung von Völkerrecht und Menschenrechten in
den seit über 60 Jahren israelisch besetzten palästinensischen Gebieten kann es keine
Entschuldigung mit Hinweis auf die Verbrechen der Nazis an den Juden geben. Eine kritische Berichterstattung darüber in die Nähe von Antisemitismus zu rücken, ist leichtfertig, weil es von der
Aufmerksamkeit gegenüber tatsächlichen antisemitischen Gefahren ablenkt.«
In der nächsten Woche treffen sich Ines Pohl und Stephan Kramer zum Gespräch. Die »taz«-
Chefredakteurin freut sich über Kramers Anfrage: »Mir geht es um die Auseinandersetzung darüber,
was erlaubte Israelkritik ist, und um eine gemeinsame Verantwortung für einen offenen und
aufrichtigen Diskurs.«
* Aus: Neues Deutschland, 29. Mai 2010
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