Gilad Shalit und was nun?
von Reiner Bernstein *
Im Morgengrauen des 12. Oktober hat sich die israelische Regierung mit
Mehrheit dafür ausgesprochen, gegen die Freilassung des seit dem 25.
Juni 2006 im Gazastreifen festsitzenden Gilad Shalit 1.027 Palästinenser –
darunter zahlreiche „Verwaltungshäftlinge“ ohne ordentliches Verfahren, 27
Frauen und sechs israelische Staatsbürger – ziehen zu lassen. Der
populäre Marwan Barghouti ist nicht unter ihnen.
Benjamin Netanjahu braucht diesen Erfolg innenpolitisch, weil er zuletzt
durch die sozialen Protestwellen in Bedrängnis geraten ist. Aber der
Ministerpräsident bricht gleichzeitig ein Tabu: In den Deal musste Hamas
eingebunden werden. Damit hat Israel erstmals anerkannt, dass es im
Gazastreifen an der dortigen Regierung nicht vorbeikommt. Umgekehrt gilt
dasselbe: Hamas hat trotz gegenteiliger Rhetorik über den „zionistischen
Feind“ einen Schritt zur Anerkennung Israels vollzogen. Zwar haben keine
Minister beisammen gesessen, doch ohne die inneren Zirkel wäre der
geplante Austausch nicht möglich geworden. Im übrigen: In der Region ist
nichts entschieden, solange nicht alles entschieden ist. Überraschungen
sind also vorprogrammiert.
Der Ministerpräsident geht gegenüber seinen widerstreitenden Kollegen
Avigdor Lieberman, Uzi Landau und Moshe Yaalon ein hohes Risiko ein.
Denn es wird sich zeigen, ob die komplizierte Verabredung hält, wonach
etwa palästinensische Gefangene ins Ausland abzuschieben seien und
ihre Rückkehr in den Gazastreifen und in die Westbank verhindert werden
kann. Hamas hat stets politisches und gewaltbesetztes Selbstbewusstsein
unter Beweis gestellt, sollte es nach Angriffen auf den Süden Israels zu
Vergeltungsschlägen kommen.
Netanjahu hat aber auch einen diplomatischen Trumpf eingefahren: Die
Übereinkunft ist ohne die Autonomieregierung in Ramallah ausgehandelt
worden. Was Ariel Sharon im Sommer 2005 mit dem einseitigen Rückzug aus dem Küstenstreifen in Gang setzte – die Entfesselung des Konflikts zwischen Hamas und Fatah –, findet eine Wiederholung. Der Islamischen Widerstandsbewegung wird dies recht sein, weil ihr politisches Profil in der palästinensischen Bevölkerung an Boden gewinnt, nachdem die Verlässlichkeit Syriens und Irans schwächelt. Denn der Austausch um Shalit läuft darauf hinaus, den breiten Empathien für den Auftritt von Mahmoud Abbas am 23. September vor der UN-Vollversammlung den Rang abzulaufen, zumal da dem Präsidenten der Durchbruch versagt bleibt, Palästina in die Völkergemeinschaft zu integrieren. So gesehen gesehen hat Netanjahu also das Bekenntnis zur Zwei-Staaten-Lösung
erneut an die Wand gefahren. Da kommt die Umfrage zur rechten Zeit,
dass nur 23 Prozent seiner „Likud“-Wähler hinter einer solchen Regelung
stehen.
Wenn die Bundeskanzlerin von ihrer Ostasien-Tour nach Berlin zurück ist,
wird ein weiteres Telefonat mit Netanjahu anstehen. Nachdem sie diesen
am 30. September wegen des Baus von weiteren elfhundert Wohneinheiten in der Jerusalemer Vorstadt Gilo „zornig“ – wie es in israelischen Zeitungen hieß – zur Rede gestellt hat, wird ihr der Ministerpräsident für die deutschen Vermittlungsdienste in Sachen Shalit überschwänglich danken. Womit die alte Regel eine Bestätigung finden dürfte:
Deutsche Einwände gegen die Siedlungspolitik müssen die Regierung in
Jerusalem nicht sonderlich beeindrucken. Berliner Vermittlungstätigkeiten
sind auch künftig erwünscht, doch diplomatisches Agieren mit dem Ziel des
friedenspolitischen Durchbruchs ist seitens der Bundesregierung nicht zu
befürchten. Die Klage von Yoel Marcus, dem Chefkommentator von
„Haaretz“, dass Israel mit Angela Merkel „die einzige Führungskraft in
Europa, wenn nicht auf der Welt, die uns mit Verständnis und Sympathie
begegnet“, nach dem 30. September verloren habe, entbehrt aller
Erfahrungen. Frankreichs Außenminister Alain Juppé hat vor wenigen
Tagen unverblümt erklärt, in welcher Hauptstadt die gemeinsame
europäische Stimme für den Frieden im Heiligen Land scheitert.
Dieser Beitrag wurde auf der Website von Reiner Bernstein veröffentlicht: http://www.reiner-bernstein.de
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