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Die tägliche Provokation

Israel: Konflikt zwischen Religiösen und Säkularen behindert eine Nahostlösung

Von Oliver Eberhardt *

Tag für Tag gibt es in Israel Konfrontationen zwischen religiösen und säkularen Israelis. Der Streit dreht sich um das Selbstverständnis eines politisch und gesellschaftlich zersplitterten Landes - und behindert so auch Fortschritte im Konflikt mit den Palästinensern.

Es sei ein Wunder, dass keine Fäuste, keine Steine geflogen seien, wird ein sichtbar erzürnter Polizeisprecher am Abend im Fernsehen sagen, und - ausnahmsweise mal - die »Zurückhaltung der arabischen Bevölkerung« loben. Denn die Situation, die sich am Donnerstagnachmittag in der Altstadt von Jerusalem abspielte, hatte alles, was der Nahostkonflikt für eine Fortsetzung braucht: Am Abend hatte das Militär vor der Klagemauer mehrere hundert Rekruten vereidigen wollen, wie es das schon seit Jahrzehnten tut. Der Weg zur Zeremonie soll die jungen Soldaten, das ist Vorschrift der Armee, durch die jüdischen und armenischen Viertel der nur einen Quadratkilometer großen Altstadt führen - vorbei an den von Arabern bewohnten muslimischen und christlichen Vierteln.

Doch dieses Mal war es anders: Plötzlich marschierten rund 200 Soldaten durch das Damaskus-Tor ins Herz des muslimischen Viertels und sangen »Die Nation Israel lebt«, eine Parole aus dem rechtsextremen Umfeld. Mittendrin: Rabbi Matti Dan, Chef der Ateret-Kohanim-Bewegung, die versucht, Ost-Jerusalem, und vor allem die Altstadt, jüdisch zu besiedeln. »Ihr habt uns wieder belebt«, rief er: »Es ist undenkbar, dass Soldaten zum Kotel (der Klagemauer, d. A.) gehen, ohne dass wir sie in unsere Arme schließen.«

Eine Provokation. Für die arabische Bevölkerung. Und für die Regierung, das Militär. Eine Provokation, wie sie sich mittlerweile täglich abspielt: Der religiöse Konflikt in der Stadt Beit Schemesch, der nach wie vor andauert, ist nur kleiner Teil des Gesamtbildes. Mal geht es darum, ob männliche Soldaten Frauen beim Singen zuhören müssen, obwohl jüdische Männer nach strenger Auslegung keinen weiblichen Gesang hören dürfen. Immer und immer wieder werden Frauen beschimpft, manchmal auch angegriffen, weil sie angeblich unsittlich gekleidet sind.

»Wir befinden uns in einer Situation, in der gesellschaftliche Gruppierungen versuchen, die Deutungshoheit in Fragen von existenzieller Bedeutung zu erlangen«, erläutert Zwi Bar'el von der linksliberalen Zeitung »HaAretz«: »Wie viel Religion müssen der Staat, seine Institutionen, seine Gesellschaft enthalten? Welche Gebiete gehören zu Israel, welche nicht? Diese Gruppierungen haben derartige Fragen bereits beantwortet, während der Rest noch diskutiert - und die aktuelle Situation ist das Ergebnis.«

Unterschiedliche Auffassungen über die Struktur des Staates sind in Israel nichts Neues: Schon als Ende des 19. Jahrhunderts das Konzept »Zionismus« erstmals auftauchte, gab es heftigen Streit über seine Inhalte: Religiöse Juden aus Osteuropa konnten sich keinen säkularen Staat vorstellen, wie ihn Theodor Herzl in seinem Buch der »Judenstaat« beschrieb, und die Säkularen stritten darüber, wo die Grenzen sein sollen - die Grenzen des zu gründenden Staates. Und die Grenzen der Religion. Das Ergebnis dieses Streits war, dass der Staat in den Grenzen des im Krieg Eroberten entstand, und seine Bewohner ein Nebeneinander entwickelten: Jeder lebte so, wie er es für richtig hielt, ließ die anderen in Ruhe, und im Militär vertrauten dann alle gemeinsam darauf, dass die strategischen Entscheidungen der Politik schon richtig sind.

Dieser Konsens ist nun aus den Fugen geraten. Nationalreligiöse und Ultraorthodoxe haben, bedingt durch Einwanderung und Geburtenzahl, stark zugenommen, und drängen seit einigen Jahren in die Lebensbereiche der Anderen, wo diese dann mit der Forderung konfrontiert werden, ihr Leben an religiöse Vorstellungen anzupassen.

Die enge Verbindung von Politik und Religion im nationalreligiösen Bereich ist aber auch zu einem massiven Hindernis in den Verhandlungen mit den Palästinensern geworden: Nationalreligiöse Israelis betrachten das Westjordanland, das sie nach biblischem Vorbild in Judäa und Samaria unterteilen, als von Gott durch die Thora gegebenen Teil Israels. Zugeständnisse sind für sie ausgeschlossen.

Die Räumung des Gaza-Streifens, auch wenn dieser Landstrich kaum eine religiöse Bedeutung hat, war ein Schritt, der nach Aussage eines Berichts des Inlandsgeheimdienstes Schin Beth, zu einer Radikalisierung vor allem von nationalreligiösen Jugendlichen geführt hat, die durch die Räumung mehrerer nicht genehmigter Siedlungen im Westjordanland noch verstärkt worden sei. »Für solche Leute ist es undenkbar, dass Militär und Polizei gegen das eingesetzt werden, was sie als ihr Geburtsrecht betrachten«, sagt Journalist Bar'el, »und sie reagieren darauf zunehmend mit Aggression und Provokation.«

Provokation, auf die die Politik keine Antwort hat.

* Aus: neues deutschland, 13. März 2012


Netanjahu droht Palästinensern

Neue israelische Luftangriffe auf Gaza / Bisher 21 Todesopfer **

Bei neuen israelischen Luftangriffen im Gaza-Streifen sind in der Nacht zum Montag mindestens fünf Palästinenser getötet worden. Ein Sprecher der palästinensischen Rettungsdienste teilte ferner mit, 38 weitere Menschen seien verletzt worden. Darunter seien auch zahlreiche Frauen und Kinder.

Bei israelischen Luftangriffen auf den Gaza-Streifen ist am Montagmorgen ein 15-jähriger Palästinenser getötet worden. Bei dem Beschuss im Norden des Küstengebiets seien zudem sechs weitere Schüler verletzt worden, teilten palästinensische Rettungskräfte mit. Bereits zuvor hatten sie von weiteren in der Nacht östlich und südlich der Stadt Chan Junis getöteten Palästinensern berichtet. Seit Freitag kamen damit nach palästinensischen Angaben durch israelische Luftangriffe 21 Palästinenser ums Leben, mehr als 70 wurden verletzt.

Die gezielte Tötung des Chefs einer Palästinensergruppe durch die israelische Luftwaffe am Freitag hatte eine neue Gewaltwelle zwischen Israel und den Palästinensern im Gaza-Streifen ausgelöst. Etwa 180 palästinensische Raketen wurden seitdem auf israelisches Gebiet abgefeuert, ohne dass dabei jemand getötet wurde. Israel flog seitdem Dutzende Luftangriffe.

Ungeachtet der Tatsache, dass es die jüngste Gewaltwelle selbst ausgelöst hat, rief Israel den UNSicherheitsrat zum Handeln auf. Der Rat müsse dafür sorgen, dass die anhaltenden Raketenangriffe auf israelische Zivilisten gestoppt würden, erklärte der stellvertretende israelische UN-Botschafter Chaim Waxman am Sonntag in einem Schreiben an den Sicherheitsrat. Gleichzeitig drohte er, Israel werde »alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um seine Bürger zu schützen«. Der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu teilte mit, er habe der Armee Anweisung erteilt, gegen alle vorzugehen, »die uns angreifen wollen«. Ohne ein Ende der »iranischen Bedrohung« sei auch keine Lösung für die Raketenangriffe in Sicht. Näher äußerte sich Netanjahu dazu nicht.

** Aus: neues deutschland, 13. März 2012


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