Israel: Regierungsbildung unter Ausnahmezustand
Gewalt und Terror nehmen zu - Scharons Kabinett wird kriegstauglich gemacht
Die Regierungsbildung um den neuen israelischen Ministerpräsidenten Scharon wird - wie nicht anders zu erwarten - von blutigen Zusammenstößen zwischen Palästinensern und israelischen Sicherheitskräften und von grausamen Terroranschlägen überschattet. Hier ein Überblick über die letzten vier Tage:
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Am Donnerstag (1. März) wurden im Norden Israels, in der Nähe der vorwiegend von Arabern bewohnten Stadt Umm el Fahem, ein Mann getötet und neun weitere Menschen verletzt, als eine Bombe in einem Sammeltaxi detonierte. Der mutmaßliche Attentäter befinde sich nach Angaben der Polizei unter den Verletzten.
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Am Freitag (2. März) wurde ein Palästinenser im Gazastreifen nahe der jüdischen Siedlung Nezarim von israelischen Soldaten erschossen. Angeblich habe der Mann eine Bombe legen wollen. Etwas später räumte ein Armeesprecher allerdings ein, es habe sich um ein "Versehen" gehandelt. - Im Westjordanland wurd ein neunjähriger Palästinenser erschossen. Über die näheren Umstände lagen keine Meldungen vor. Auch über die Begleitumstände der Erschießung zwei weiterer Palästinenser im Westjordanland gab es zunächst keine Nachrichten.
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Am Samstag (3. März) wurde in El Bireh bei Ramallah im Westjordanland eine 43-jährige Frau tödlich getroffen, als sie ins Kreuzfeuer militanter Palästinenser und israelischer Soldaten geriet. In dem Dorf Kariot bei Nablus im Norden des Westjordanlands wurde ein 23-Jähriger bei einer Schießerei mit israelischen Soldaten von einer Kugel im Kopf getroffen und getötet.
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Sonntag (4. März): Bei einer Bombenexplosion im Zentrum der israelischen Küstenstadt Netanya, nördlich von Tel Aviv, sind am Sonntagmorgen vier Menschen, unter ihnen der palästinensische "Selbstmord"-Attentäter, ums Leben gekommen und etwa 50 weitere zum Teil schwer verletzt worden. Die Explosion beim Busbahnhof in der Nähe des Marktplatzes richtete großen Sachschaden an. Ein Sprecher der radikalen palästinensischen Hamas-Bewegung, Abdelaziz Rantisi, bezeichnete den Anschlag vor Journalisten in Gaza als "Teil des rechtmäßigen palästinensischen Widerstandes gegen die israelische Besatzung" und als "Selbstverteidigung". Der militärische Arm von Hamas, "Ezzedin el Kassam", hatte in einem
Flugblatt angekündigt, zehn Selbstmord-Attentäter stünden bereit, den neuen israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon bei dessen Amtsantritt "zu begrüßen". (Der Standard - online - 04. 03. 2001)
Arafat: Israel hat alles bis auf Atomwaffen eingesetzt
Seit Beginn der Unruhen, der "Intifada 2" vor mehr als fünf Monaten sind 377 Palästinenser und 65 Israelis Opfer der Gewalt geworden. Ende Februar hatte der israelische Generalstabschefs Shaul Mofaz die palästinensische Autonomie-Behörde eine "Terror-Einheit" genannt. Außerdem drohte er am 3. März an, die israelische Armee werde möglicherweise noch mehr Gewalt anwenden müssen, um die blutige Konfrontation mit den Palästinensern zu beenden.
Palästinenserpräsident Yasser Arafat verurteilte am Samstagabend (3. März) die Äußerungen Mofaz' und meinte sarkastisch, das einzige Mittel, das Israel noch nicht gegen die Palästinenser eingesetzt habe, "sind Atomwaffen". Arafat kündigte an, dass die Autonomiebehörde bis zur Bildung einer neuen israelischen Regierung warten werde, "bevor sie politische Aktivitäten aufnimmt".
Das kann nach Lage der Dinge bald geschehen, denn die Regierungsbildung in Israel schreitet zügig voran. Ministerpräsident Ariel Sharon hat während der Verhandlungen mit rechtsgerichteten potenziellen Koalitionspartnern deutlich gemacht, dass er sich nicht an die von seinem Vorgänger Ehud Barak mit den Palästinensern erzielten Verhandlungsergebnisse halten werde, eine Position, die von der neuen US-Regierung in Washington bereits grundsätzlich akzeptiert worden war.
Arbeitspartei Awoda mit acht Ministerien dabei
Auch die israelische Arbeitspartei, deren Kandidat Barak bei der Wahl geschlagen worden war, ist mittlerweile mehrheitlich auf den Kurs Scharons eingeschwenkt. Am 2. März bestimmte die Partei ihre acht Ministerkandidaten für die von Scharon angestrebte Koalition der "nationalen Einheit". Ohne Konkurrenz wurden Shimon Peres zum Aussenminister und ein Vertreter der Kibbuzbewegung zum Landwirtschaftsminister ernannt. Diskussionen und Kampfabstimmungen gab es um andere Posten, u.a. um den des künftigen Verteidigungsministers. Schließlich setzte sich gegen zwei andere Kandidaten Binyamin Ben-Eliezer durch. Ben-Eliezer war bereits Kommunikationsminister und stellvertretender Ministerpräsident in Baraks Kabinett. Der 65-jährige ehemalige General ist im Irak geboren und wanderte als 13-Jähriger mit seiner Familie nach Israel aus. Er diente im Sechstagekrieg und im Jom-Kippur-Krieg als Kommandant. 1977 wurde er Israels leitender Offizier in Südlibanon und hatte danach während dreier Jahre das oberste Kommando im Westjordanland. Während weiterer dreier Jahre war er Koordinator der israelischen Aktivitäten in den besetzten Gebieten. 1984 wurde er als Vertreter der von Ezer Weizman gegründeten Yahad-Partei in die Knesset gewählt, die sich später der Arbeitspartei anschloss. Unter Rabin und Peres diente er als Wohnungsbauminister. Er zählt zweifellos zu den "Falken" des neuen Kabinetts. Schon unter Barak hatte er ein härteres Vorgehen gegen die Palästinenser gefordert. In der Süddeutschen Zeitung wurde die Wahl Ben-Eliezers sehr kritisch kommentiert: "Die Erwartungen an den künftigen israelischen Verteidigungsminister Benjamin Ben-Elieser stehen in diametralem Gegensatz zu seinen Fähigkeiten", schreibt Thorsten Schmitz. Eine diplomatische Karriere müsse man nicht unbedingt absolviert haben, "um einen Ministerposten anvertraut zu bekommen. Es reicht schon, wenn man sich im Kampf gegen die Palästinenser einen Namen als General gemacht hat. Ben-Elieser ist ein überdurchschnittlicher Brigade-General der Reserve – aber ein Unbekannter, was die Politik betrifft." (SZ, 3. März 2001, Kommentar)
Der bisherige stellvertretende Verteidigungsminister Ephraim Sneh wird das Verkehrsministerium übernehmen wird. Dalia Itzik, die bisherige Umweltministerium, erhält das Handels- und Industrieministerium, und Vilnai bleibt Minister für Wissenschaft, Kultur und Sport. Das bemerkenswerteste Resultat der Verhandlungen war aber zweifellos die Zuteilung eines Ministerpostens ohne Geschäftsbereich. Der Abgeordnete Salah Tarif, ein Abgeordneter, der der drusischen Minderheit in Israel angehört, wird der erste nichtjüdische Minister in der Geschichte Israels sein. Tarif erklärte sich nach der Wahl sehr bewegt. Insbesondere sei er stolz darauf, dass er vom Zentralkomitee der Partei gewählt und nicht von Parteigrössen in einer Alibiübung ernannt wurde. Raanan Cohen, der Vorsitzende der Arbeitspartei, wird der achte Minister der Arbeitspartei in Sharons Kabinett sein, ebenfalls ohne Geschäftsbereich.
Ein rechtes Kabinett mit dem "Feigenblatt" Peres
Einen Tag nach der Ministerkür in der Arbeitspartei Awoda hat Scharon auch dem rechtsextremen Bündnis "Nationale Union - "Israel Beitenu" ("Unser Haus Israel"), das mit fünf Abgeordneten im Parlament vertreten ist, zwei Ministerposten angeboten. Die "Nationale Union" fordert u.a. die Deportation aller israelischen Araber aus dem Staatsgebiet Israels. Die Gruppe "Unser Haus Israel" besteht vor allem aus russischen Juden.
In Israel wird spekuliert, Scharon habe Peres nur als "Feigenblatt" in seine Regierung "gelockt", um eine konfrontative Politik zu kaschieren (SZ, 03.03.2001). Tatsächlich steht Peres - vor allem im Ausland - im Ruf, immer noch am besten mit Arafat zu können. Ob ihm das in einem Kabinett, das vom Hardliner Scharon angeführt wird, viel nützen wird, ist indessen fraglich. Hinzu kommt, dass auch Arafats Stellung im Palästinenserlager längst nicht mehr unangefochten ist. Es wäre nicht einmal eine Überraschung, wenn schon bald ein Führungswechsel in der Autonomiebehörde stattfinden würde. Die Frage in Israel müsste dann nicht mehr lauten, wer kann am besten mit Arafat, sondern wer hat den Mut, einen wirklichen Friedensprozess einzuleiten. Die Arbeitspartei taugt nicht mehr dazu. Sie hat sich zu sehr ins Schlepptau der eigenen Offiziere und Frontkämpfer und des Likud-Blocks begeben. Die außerparlamentarische Bewegung (z.B. die Friedensbewegung) scheint im Augenblick zu schwach, um überhaupt eine nennenswerte politische Rolle spielen zu können. Auf Seiten der Palästinenser ist die Situation nicht viel besser. Solange Arafat seinen von Korruption angefressenen Machtapparat aufrechterhält und sein Volk mit einer nicht mehr geglaubten Oslo-Rhetorik hinzuhalten versucht, erhalten die radikalen Hamas- und anderen Kämpfer immer mehr Zulauf. Eine "zivile" Alternative ist derzeit nicht in Sicht. Und aus dem Ausland ist Hilfe für die Palästinenser auch kaum zu erwarten: Die USA stehen eisern hinter Israel, gleichgültig welche Politik betrieben wird. Und die Europäer sind zu einer unabhängigen Politik gegenüber Israel (und gegenüber den USA) nicht bereit.
Peter Strutynski
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