Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Israel streitet um sein Selbstverständnis

Der Konflikt zwischen religiösen und säkularen Bewohnern spaltet das Land mehr und mehr

Von Oliver Eberhardt *

Tag für Tag gibt es neue Konfrontationen zwischen religiösen und säkularen Israelis. Der Streit dreht sich um das Selbstverständnis eines politisch und gesellschaftlich zersplitterten Landes - und behindert so auch Fortschritte im Konflikt mit den Palästinensern.

Es sei ein Wunder, dass keine Fäuste, keine Steine geflogen seien, wird ein erzürnter Polizeisprecher am späten Donnerstagabend im Fernsehen sagen, und ausnahmsweise mal die »Zurückhaltung der arabischen Bevölkerung« loben. Denn die Situation, die sich Stunden zuvor in der Altstadt von Jerusalem abgespielt hatte, enthielt alles, was der Nahostkonflikt für eine Fortsetzung braucht:

Am Abend hatte das Militär vor der Klagemauer mehrere hundert Rekruten vereidigen wollen, wie es das schon seit Jahrzehnten tut. Der Weg zur Zeremonie soll die jungen Soldaten, das ist Vorschrift der Armee, durch die jüdischen und armenischen Viertel der nur einen Quadratkilometer großen Altstadt führen - vorbei an den von Arabern bewohnten muslimischen und christlichen Vierteln.

Doch diesmal war es anders: Plötzlich marschierten rund 200 Soldaten durch das Damaskus-Tor ins Herz des muslimischen Viertels und sangen »Die Nation Israel lebt«, eine Parole aus dem rechtsextremen Umfeld. Mittendrin Rabbi Matti Dan, Chef der Ateret-Kohanim-Bewegung, die versucht, Ost-Jerusalem, und vor allem die Altstadt, jüdisch zu besiedeln. »Ihr habt uns wieder belebt«, rief er, »Es ist undenkbar, dass Soldaten zum Kotel (der Klagemauer - d. A.) gehen, ohne dass wir sie in unsere Arme schließen.«

Das war eine Provokation für die arabische Bevölkerung. Und für die Regierung, das Militär. Eine Provokation, wie sie sich mittlerweile allerdings täglich abspielt: Der religiöse Konflikt in der Kleinstadt Beit Schemesch, der nach wie vor andauert, ist nur ein kleiner Teil des Gesamtbildes. Mal geht es darum, ob männliche Soldaten Frauen beim Singen zuhören müssen, obwohl jüdische Männer nach strenger Auslegung keinen weiblichen Gesang hören dürfen. Mal und immer wieder werden Frauen beschimpft, manchmal auch angegriffen, weil sie angeblich unsittlich gekleidet sind. Und vor einigen Wochen stürmten Siedler einen Militärstützpunkt im Westjordanland: Die israelische Armee hatte kurz zuvor den Auftrag erhalten, einige nicht genehmigte Außenposten von Siedlungen zu räumen.

»Wir befinden uns in einer Situation, in der gesellschaftliche Gruppierungen versuchen, die Deutungshoheit in Fragen von existenzieller Bedeutung zu erlangen«, erläutert Zwi Bar'el von der linksliberalen Zeitung »Haaretz«: »Wie viel Religion müssen der Staat, seine Institutionen, seine Gesellschaft enthalten? Welche Gebiete gehören zu Israel, welche nicht? Diese Gruppierungen haben diese Fragen bereits beantwortet, während der Rest noch diskutiert - und die aktuelle Situation ist das Ergebnis.«

Unterschiedliche Auffassungen über die politische und gesellschaftliche Struktur des Staates sind in Israel nicht neu: Schon als Ende des 19. Jahrhunderts das Konzept »Zionismus« auftauchte, gab es heftigen Streit: Religiöse Juden aus Osteuropa konnten sich keinen säkularen Staat vorstellen, wie ihn Theodor Herzl in seinem Buch der »Judenstaat« beschrieb, und die Säkularen stritten darüber, wo die Grenzen sein sollen - die Grenzen des zu gründenden Staates und die der Religion. Das Ergebnis dieses Streits war, dass der Staat in den Grenzen des im Krieg Eroberten entstand und seine Bewohner ein Nebeneinander entwickelten: Jeder lebte so, wie er es für richtig hielt, ließ die anderen in Ruhe, und im Militär vertrauten alle gemeinsam darauf, dass die strategischen Entscheidungen der Politik schon richtig sind.

Dieser Konsens ist aus den Fugen geraten. Nationalreligiöse und Ultraorthodoxe haben durch Einwanderung und Geburtenzahl stark zugenommen und drängen in die Lebensbereiche der anderen, die mit der Forderung konfrontiert werden, ihr Leben religiösen Vorstellungen anzupassen.

Die enge Verbindung von Politik und Religion ist aber auch zu einem massiven Hindernis in den Verhandlungen mit den Palästinensern geworden: Nationalreligiöse Israelis betrachten das Westjordanland, das sie nach biblischem Vorbild in Judäa und Samaria unterteilen, als von Gott durch die Tora gegebenen Teil Israels. Zugeständnisse sind für sie ausgeschlossen.

Die Räumung des Gaza-Streifens, auch wenn der Landstrich kaum religiöse Bedeutung hat, führte laut einem Bericht des Inlandsgeheimdienstes Schin Beth zur Radikalisierung vor allem nationalreligiöser Jugendlicher, die durch die Räumung mehrerer nicht genehmigter Siedlungen im Westjordanland noch verstärkt worden sei. »Für solche Leute ist es undenkbar, dass Militär und Polizei gegen das eingesetzt werden, was sie als ihr Geburtsrecht betrachten«, sagt Journalist Bar'el, »und sie reagieren darauf zunehmend mit Aggression und Provokation.« Provokation, auf die die Politik keine Antwort hat.

* Aus: neues deutschland, 16. Januar 2012


Zurück zur Israel-Seite

Zurück zur Homepage