Netanjahus Koalitionsdeal im Verborgenen
In Israel hat sich unversehens eine Allianz der Regierenden mit der größten Oppositionspartei formiert
Von Oliver Eberhardt *
Vorgezogene Wahlen in Israel sind
abgewendet. In Geheimverhandlungen
haben sich Premierminister Netanjahu
und die größte Oppositionsfraktion
Kadima auf eine Große Koalition
geeinigt.
Die Koalition mit Kadima ist ein
Manöver, das die politische Landschaft
Israels in einen Schockzustand
versetzt hat und die Frage,
ob man den Politikern noch irgend
etwas glauben kann, am Dienstag
zum
Hauptgesprächsthema
machte. »Wenn überhaupt noch
etwas sicher ist«, fasste ein Kommentator
des Armeerundfunks am
Mittag die öffentliche Meinung zusammen,
»dann ist es, dass wir alle
in den vergangenen Tagen und
Wochen nach Strich und Faden
belogen worden sind.«
Während innerhalb und außerhalb
des Parlaments die Parteien
begannen, sich für vorgezogene
Wahlen bereit zu machen,
nachdem Premierminister Benjamin
Netanjahu in der vergangenen
Woche seine Zustimmung zur
Auflösung der Knesseth gegeben
hatte, verpasste der Regierungschef
im Verborgenen einem Koalitionsdeal
mit der größten Oppositionsfraktion
Kadima den letzten
Schliff. Deren erst Ende März gewählter
Vorsitzender Schaul Mofas
hatte immer wieder, zuletzt am
Montag, öffentlich betont, er werde
unter keinen Umständen einer
Regierung unter Führung Netanjahus
beitreten.
Wie die Koalitionsvereinbarung
aussieht, konnte auch eine
Pressekonferenz am Dienstagmittag
nicht erhellen. Einmütig lächelnd
betonten Netanjahu und
Mofas, wie sehr Israel Stabilität
benötige und dass man gemeinsam
»die Ärmel hoch krempeln«
(Mofas) und die drängenden Probleme
angehen werde. Man werde
auf einen Friedensprozess mit den
Palästinensern hinarbeiten. Wie
das künftige Vorgehen in der Causa
Iran aussehen wird, ist hingegen
unklar: Einige Beobachter
denken, dass ein Militärschlag nun
wahrscheinlicher geworden ist,
weil sich Netanjahu auf eine Koalition
stützen kann, die 94 von 120
Abgeordneten umfasst. Andere
sind der Ansicht, dass ein Krieg
nun weniger zu erwarten ist, weil
Mofas sich in der Vergangenheit
dagegen ausgesprochen hat.
Die auf 26 Sitze geschrumpfte
Opposition spricht von einem
»dreckigen Deal« (Nitzan Horowitz
von der linksliberalen Meretz)
und dem »lächerlichsten Zickzack
in der Geschichte des Staates«, so
die Vorsitzende der Arbeiterpartei,
Schelly Jachimowitsch. Doch
ist zu erwarten, dass die Koalition
ihre gigantische Größe nicht behalten
wird. Vor allem die kleinen
Regierungsparteien, die Religiösen,
sind unzufrieden. Die Partei
von Außenminister Avigdor Lieberman
hat nun jenen Einfluss
verloren, der die Regierung in den
vergangenen Jahren lähmte. Bereits
am Dienstag morgen forderten
die ersten Abgeordneten seiner
Partei, man müsse nun darüber
nachdenken, ob es nicht sinnvoller
sei, das eigene Profil in der
Opposition zu schärfen.
* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 9. Mai 2012
"Nationale Einheit"
Israels Premier Netanjahu erweitert sein Regierungsbündnis. Spekulationen über Krieg gegen Iran angeheizt
Von Knut Mellenthin **
Statt Neuwahlen bekommt Israel die breiteste „Regierung der nationalen Einheit“, die es jemals hatte. Nach der Vereinbarung einer Koalition mit der „zentristischen“ Kadima, die Dienstagnacht gegen 2 Uhr nach stundenlangen Geheimverhandlungen bekanntgegeben wurde, kann sich Premier Benjamin Netanjahu auf 94 der 120 Knesset-Abgeordneten stützen. Damit schmilzt die künftig von der sozialliberalen Arbeitspartei geführte parlamentarische Opposition auf nur noch 26 statt bisher 54 Stimmen. Aufgrund des Paktes mit der Kadima könnte Netanjahu bis zum nächsten regulären Wahltermin im Oktober 2013 im Amt bleiben.
Nur einen Tag zuvor, am Montag, hatte der Regierungschef die Auflösung der Knesset und die Abhaltung vorgezogener Neuwahlen am 4. September angekündigt. Alle Prognosen sagten Netanjahus rechter Likud-Partei einen klaren Sieg, mit einer Steigerung auf möglicherweise 40 Sitze – statt derzeit 27 - voraus. Dagegen drohte der Kadima ein Absturz von jetzt 28 Mandaten auf nur noch 10 bis 12. Die Gründe für Parteichef Schaul Mofas, vor diesem Hintergrund in die rettenden Arme Netanjahus zu flüchten, den er noch vor kurzem als „Lügner“ bezeichnet hatte, liegen also klar auf der Hand – auch wenn er noch im März versprochen hatte: „Unter meiner Führung wird Kadima in der Opposition bleiben. Die gegenwärtige Regierung steht für alles, was in Israel falsch läuft. Warum sollten wir ihr beitreten?“
Nicht so leicht und eindeutig zu entschlüsseln sind die Motive des Amtsinhabers, den gerade eben verkündeten Wahltermin gleich wieder abzublasen. Manche Journalisten hatten die Entscheidung für Neuwahlen Anfang September so interpretiert, dass Netanjahu sich eine breitere und stabilere Basis für einen anschließenden militärischen Alleingang gegen Iran noch vor der US-amerikanischen Präsidentenwahl am 6. November verschaffen wolle. Andererseits wird jetzt die Einbeziehung der Kadima in das Regierungsbündnis zum Teil im gleichen Sinn gedeutet. Tatsächlich ist die Bildung von Regierungen „der nationalen Einheit“ in Israel schon seit Jahrzehnten ein geläufiger Schachzug in Krisen- und Kriegszeiten.
Zwar hat der frühere Generalstabschef und Verteidigungsminister Mofas sich noch vor wenigen Wochen skeptisch über einen militärischen Alleingang gegen Iran geäußert, den er als „voreilig“ und „verhängnisvoll“ bezeichnete. Andererseits weisen israelische Journalisten sarkastisch darauf hin, dass das Festhalten an Positionen nicht gerade eine Stärke von Mofas sei.
Der 1948 im Iran geborene Politiker hatte den Vorsitz der Kadima erst Ende März von der früheren Außenministerin Tzipi Liwni übernommen. Die Entscheidung fiel in einer Abstimmung der Parteimitglieder mit 61,7 gegen 37,2 Prozent deutlich zugunsten von Mofas aus. Mit der als vergleichsweise prinzipienfest bekannten Liwni als Parteichefin wäre der Eintritt in Netanjahus Regierung kaum vorstellbar gewesen. Entsprechend deutlich fiel jetzt ihre Kritik an diesem Schritt aus.
Die Kadima wurde im November 2005 vom damaligen Regierungschef Ariel Scharon als Abspaltung vom Likud gegründet, um sich eine Basis für den in seiner eigenen Partei umstrittenen Rückzug aus dem Gaza-Streifen zu schaffen. Der neuen Partei traten auch einige rechte Mitglieder der Arbeitspartei, darunter Präsident Schimon Peres, bei.
Zu den ersten Aufgaben der erweiterten Koalition gehört die Aufhebung oder Änderung eines Gesetzes, das orthodoxe Juden von der allgemeinen Wehrpflicht befreit. Das könnte dazu führen, dass sich einige kleine religiöse Parteien aus dem Regierungsbündnis verabschieden.
** Aus: junge Welt, Donnerstag, 10. Mai 2012
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