Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Netanjahus Koalitionsdeal im Verborgenen

In Israel hat sich unversehens eine Allianz der Regierenden mit der größten Oppositionspartei formiert

Von Oliver Eberhardt *

Vorgezogene Wahlen in Israel sind abgewendet. In Geheimverhandlungen haben sich Premierminister Netanjahu und die größte Oppositionsfraktion Kadima auf eine Große Koalition geeinigt.

Die Koalition mit Kadima ist ein Manöver, das die politische Landschaft Israels in einen Schockzustand versetzt hat und die Frage, ob man den Politikern noch irgend etwas glauben kann, am Dienstag zum Hauptgesprächsthema machte. »Wenn überhaupt noch etwas sicher ist«, fasste ein Kommentator des Armeerundfunks am Mittag die öffentliche Meinung zusammen, »dann ist es, dass wir alle in den vergangenen Tagen und Wochen nach Strich und Faden belogen worden sind.«

Während innerhalb und außerhalb des Parlaments die Parteien begannen, sich für vorgezogene Wahlen bereit zu machen, nachdem Premierminister Benjamin Netanjahu in der vergangenen Woche seine Zustimmung zur Auflösung der Knesseth gegeben hatte, verpasste der Regierungschef im Verborgenen einem Koalitionsdeal mit der größten Oppositionsfraktion Kadima den letzten Schliff. Deren erst Ende März gewählter Vorsitzender Schaul Mofas hatte immer wieder, zuletzt am Montag, öffentlich betont, er werde unter keinen Umständen einer Regierung unter Führung Netanjahus beitreten.

Wie die Koalitionsvereinbarung aussieht, konnte auch eine Pressekonferenz am Dienstagmittag nicht erhellen. Einmütig lächelnd betonten Netanjahu und Mofas, wie sehr Israel Stabilität benötige und dass man gemeinsam »die Ärmel hoch krempeln« (Mofas) und die drängenden Probleme angehen werde. Man werde auf einen Friedensprozess mit den Palästinensern hinarbeiten. Wie das künftige Vorgehen in der Causa Iran aussehen wird, ist hingegen unklar: Einige Beobachter denken, dass ein Militärschlag nun wahrscheinlicher geworden ist, weil sich Netanjahu auf eine Koalition stützen kann, die 94 von 120 Abgeordneten umfasst. Andere sind der Ansicht, dass ein Krieg nun weniger zu erwarten ist, weil Mofas sich in der Vergangenheit dagegen ausgesprochen hat.

Die auf 26 Sitze geschrumpfte Opposition spricht von einem »dreckigen Deal« (Nitzan Horowitz von der linksliberalen Meretz) und dem »lächerlichsten Zickzack in der Geschichte des Staates«, so die Vorsitzende der Arbeiterpartei, Schelly Jachimowitsch. Doch ist zu erwarten, dass die Koalition ihre gigantische Größe nicht behalten wird. Vor allem die kleinen Regierungsparteien, die Religiösen, sind unzufrieden. Die Partei von Außenminister Avigdor Lieberman hat nun jenen Einfluss verloren, der die Regierung in den vergangenen Jahren lähmte. Bereits am Dienstag morgen forderten die ersten Abgeordneten seiner Partei, man müsse nun darüber nachdenken, ob es nicht sinnvoller sei, das eigene Profil in der Opposition zu schärfen.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 9. Mai 2012


"Nationale Einheit"

Israels Premier Netanjahu erweitert sein Regierungsbündnis. Spekulationen über Krieg gegen Iran angeheizt

Von Knut Mellenthin **


Statt Neuwahlen bekommt Israel die breiteste „Regierung der nationalen Einheit“, die es jemals hatte. Nach der Vereinbarung einer Koalition mit der „zentristischen“ Kadima, die Dienstagnacht gegen 2 Uhr nach stundenlangen Geheimverhandlungen bekanntgegeben wurde, kann sich Premier Benjamin Netanjahu auf 94 der 120 Knesset-Abgeordneten stützen. Damit schmilzt die künftig von der sozialliberalen Arbeitspartei geführte parlamentarische Opposition auf nur noch 26 statt bisher 54 Stimmen. Aufgrund des Paktes mit der Kadima könnte Netanjahu bis zum nächsten regulären Wahltermin im Oktober 2013 im Amt bleiben.

Nur einen Tag zuvor, am Montag, hatte der Regierungschef die Auflösung der Knesset und die Abhaltung vorgezogener Neuwahlen am 4. September angekündigt. Alle Prognosen sagten Netanjahus rechter Likud-Partei einen klaren Sieg, mit einer Steigerung auf möglicherweise 40 Sitze – statt derzeit 27 - voraus. Dagegen drohte der Kadima ein Absturz von jetzt 28 Mandaten auf nur noch 10 bis 12. Die Gründe für Parteichef Schaul Mofas, vor diesem Hintergrund in die rettenden Arme Netanjahus zu flüchten, den er noch vor kurzem als „Lügner“ bezeichnet hatte, liegen also klar auf der Hand – auch wenn er noch im März versprochen hatte: „Unter meiner Führung wird Kadima in der Opposition bleiben. Die gegenwärtige Regierung steht für alles, was in Israel falsch läuft. Warum sollten wir ihr beitreten?“

Nicht so leicht und eindeutig zu entschlüsseln sind die Motive des Amtsinhabers, den gerade eben verkündeten Wahltermin gleich wieder abzublasen. Manche Journalisten hatten die Entscheidung für Neuwahlen Anfang September so interpretiert, dass Netanjahu sich eine breitere und stabilere Basis für einen anschließenden militärischen Alleingang gegen Iran noch vor der US-amerikanischen Präsidentenwahl am 6. November verschaffen wolle. Andererseits wird jetzt die Einbeziehung der Kadima in das Regierungsbündnis zum Teil im gleichen Sinn gedeutet. Tatsächlich ist die Bildung von Regierungen „der nationalen Einheit“ in Israel schon seit Jahrzehnten ein geläufiger Schachzug in Krisen- und Kriegszeiten.

Zwar hat der frühere Generalstabschef und Verteidigungsminister Mofas sich noch vor wenigen Wochen skeptisch über einen militärischen Alleingang gegen Iran geäußert, den er als „voreilig“ und „verhängnisvoll“ bezeichnete. Andererseits weisen israelische Journalisten sarkastisch darauf hin, dass das Festhalten an Positionen nicht gerade eine Stärke von Mofas sei.

Der 1948 im Iran geborene Politiker hatte den Vorsitz der Kadima erst Ende März von der früheren Außenministerin Tzipi Liwni übernommen. Die Entscheidung fiel in einer Abstimmung der Parteimitglieder mit 61,7 gegen 37,2 Prozent deutlich zugunsten von Mofas aus. Mit der als vergleichsweise prinzipienfest bekannten Liwni als Parteichefin wäre der Eintritt in Netanjahus Regierung kaum vorstellbar gewesen. Entsprechend deutlich fiel jetzt ihre Kritik an diesem Schritt aus.

Die Kadima wurde im November 2005 vom damaligen Regierungschef Ariel Scharon als Abspaltung vom Likud gegründet, um sich eine Basis für den in seiner eigenen Partei umstrittenen Rückzug aus dem Gaza-Streifen zu schaffen. Der neuen Partei traten auch einige rechte Mitglieder der Arbeitspartei, darunter Präsident Schimon Peres, bei.

Zu den ersten Aufgaben der erweiterten Koalition gehört die Aufhebung oder Änderung eines Gesetzes, das orthodoxe Juden von der allgemeinen Wehrpflicht befreit. Das könnte dazu führen, dass sich einige kleine religiöse Parteien aus dem Regierungsbündnis verabschieden.

** Aus: junge Welt, Donnerstag, 10. Mai 2012


Zurück zur Israel-Seite

Zur Iran-Seite

Zurück zur Homepage