Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Mythos und Wahrheit

Der Historiker Shlomo Sand über die Erfindung des jüdischen Volkes und des Landes Israel


Ob die Parlamentswahlen in Israel zu einem Kurswechsel führen, ist dahingestellt. Klar ist: Israel muss sich neu finden, neu erfinden. Shlomo Sand, Vertreter der Generation der sogenannten Neuen Historiker in Israel, gehört zu den schärfsten Kritikern der Politik Tel Avivs insbesondere gegenüber den Palästinensern. Nach seinem Bestseller »Die Erfindung des jüdischen Volkes« (s. ND vom 22./23. Mai 2010) wendet er sich in seinem neuen Buch »Die Erfindung des Landes Israel. Mythos und Wahrheit« (Propyläen, 396 S., geb., 22,99 €; aus dem Hebräischen von Michael Lemke) dem aus seiner Sicht zweiten Gründungsmythos des vor 65 Jahren ins Leben gerufenen jüdischen Staates zu: dem »angestammten Land«, Eretz Israel. Mit Shlomo Sand, geboren 1946 als Kind polnischer ShoahÜberlebender in einem DP-Lager in Linz, seit 1949 in Israel, Dozent für Geschichte an der Universität Tel Aviv, sprach Karlen Vesper.

Was hat Sie bewogen, Ihrem Buch »Die Erfindung des jüdischen Volkes« noch ein zweites Buch »Die Erfindung des Landes Israel« folgen zu lassen. Ist nicht im ersten schon alles gesagt?

Nein. Damals ging es mir um die imaginierte Ethnie. Es gibt nicht »das jüdische Volk«. Das ist ein biblischer Mythos. Auch nicht die jüdische Nation. Als sich in Europa Nationalstaaten bildeten, haben jüdische Intellektuelle eine Identitätsgeschichte konstruiert, die sich aus der Theologie speist.

Im »nd« Interview vor über zwei Jahren erzählten Sie, israelische Forscher versuchten gar ein »jüdisches Gen« nachzuweisen.

Ein krudes Spektakel. Die Juden sind keine Rasse. Das ist eine Erfindung des Antisemitismus, von Zionisten aufgegriffen. Sie suggerieren, die Juden gehörten einem antiken Volksstamm an, einer ewigen »Ethnie«, die in einer schicksalhaften Stunde, als sie vernichtet werden sollte, ins »Land der Väter« zurückkehrte, aus dem sie vor über 2000 Jahren verjagt wurde. Doch die Römer haben keine Vertreibungspolitik betrieben. Der Mythos diente den Zionisten zur Eroberung Palästinas und Vertreibung der dort ansässigen Bevölkerung. Gegenfrage: Fühlt sich denn die Mehrheit der Deutschen dem antiken teutonischen Volksstamm zugehörig?

Das glaube ich nicht.

»Eretz Israel« ist eine Chimäre. Wahr ist, dass die Universität, an der ich lehre, auf den Trümmern eines ausgelöschten arabischen Dorfes steht. Kein Professor vor mir auf dem Lehrstuhl hat dies je erwähnt. Ich widmete mein zweites Buch den Dorfbewohnern von Al-Scheich Muwannis, die vertrieben und entwurzelt wurden.

Ihr erstes Buch hatte heftige Debatten ausgelöst. Antworten Sie mit dem zweiten auf die Kritik?

Nein, weil die Kritik zumeist nicht ernsthaft war. Vor allem die aus dem Ausland. In Israel war mein Buch wochenlang auf der Bestsellerliste, es wurde an den Universitäten diskutiert. Und es kann wahrlich keiner bestreiten, dass es doch kein jüdisches Volk und keine jüdische Nation gibt, wie es auch kein christliches, buddhistisches, hinduistisches oder muslimisches Volk und keine christliche, buddhistische, hinduistische oder muslimische Nation gibt.

Sie argumentieren rein säkular.

Es ist meine Pflicht als Historiker, falsches Bewusstsein aufzubrechen. Ich übersehe nicht die Affinität vieler Juden zum sogenannten Heiligen Land. Ihre Beziehung zu Jerusalem ist vergleichbar jener der Muslime zu Mekka. Aber nicht alle Muslime leben in Mekka. Übrigens: Selbst Stammvater Abraham und Moses sind erst ins spätere »Gelobte Land« eingewandert. Juden sind in den USA, Frankreich, Deutschland, Ägypten, Jemen, Syrien etc. zu Hause, teilen die Sprache, Kultur, Mentalität der dortigen Bevölkerung. Sie rekrutierten sich aus dieser und sind keine, wie Antisemiten behaupten, fremde »Ethnie«, die von weit her kam und das »eigene« Volk infiltrierte und »infizierte«.

Aber sie sind auch oft erst in jene Staaten emigriert, die zu ihrer Heimat wurden, so russische Juden, bedrängt durch die Pogrome im Zarenreich. Und später auf der Flucht vor den mörderischen Antisemitismus der Nazis.

Das ist richtig, widerlegt aber nicht meine Theorie. Diese Leiderfahrung erschwert es, die Wahrheit zu akzeptieren. Die Selbstwahrnehmung als »auserwähltes Volk« hat den Überlebenswillen und den Widerstand gegen Erniedrigung und Verfolgung durch die Jahrhunderte bewahrt und gestärkt. Aber deshalb kann ich doch nicht schweigen, wenn Zionisten und Pro-Zionisten Palästina für sich reklamieren. Auch die Kreuzritter hatten kein historisches Recht, sich des Landes zu bemächtigen, trotz starker religiöser Bindungen an ihre heiligen Stätten dort.

Aber Sie leugnen nicht, dass für Juden die mythsiche Erinnerung an das »Gelobte Land« wirkungsmächtiger ist als irgendein anderer Mythos für andere Religionsgemeinschaften?

Die jüdische Sehnsucht nach Zion verführte die Mehrheit der Juden, auch strenggläubige, nicht dazu, ein Eigentumsrecht zu artikulieren. Das »Eretz Israel« zionistischer und israelischer Autoren ist nicht identisch mit dem Heiligen Land meiner Vorväter, die tief in der jiddischen Kultur Osteuropas verwurzelt waren. Und erst durch die einwanderungsfeindliche Gesetzgebung der USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelangten größere Flüchtlingsströme in den Nahen Osten. Hätte es diese restriktive Immigrationspolitik der USA und anderer Staaten nicht gegeben, wäre der Staat Israel womöglich niemals entstanden. Neben der Heiligen Schrift dient der zionistischen Historiographie die Belfour-Deklaration von 1917 als Legitimation des Anspruchs der Juden auf »Eretz Israel«.

Die nach dem damaligen britischen Außenminister genannte Deklaration versprach den Juden eine »nationale Heimstätte« im noch unter der Herrschaft der Osmanen befindlichen Palästina.

Ich frage Sie: Warum hat Lord Belfour die Opfer der Pogrome in Osteuropa nicht nach Großbritannien eingeladen? Nach Karl Marx wiederholt sich Geschichte zwei Mal: Zunächst tritt sie als Tragödie auf, dann als Farce. Anfang der 80er Jahre beschloss US-Präsident Ronald Reagan, den Juden im »Reich des Bösen«, wie er die Sowjetunion nannte, die Einreise in die USA zu gestatten. Viele ergriffen die Chance. Doch das passte der israelischen Regierung nicht, sie übte Druck auf Washington aus, damit sich die Tore wieder schließen. Man wollte, dass die Juden aus der Sowjetunion und anderen kommunistischen Staaten nach Israel einwandern. Dabei ging man sogar eine Kumpanei mit Rumäniens Diktator Ceausescu und seinem Geheimdienst Securitate ein. Mit Bestechungsgeldern erreichte man, dass mehr als eine Million Juden in ein Land reisten, in dem sie eigentlich nicht leben wollten.

Aber Sie leben gern in Israel?

Natürlich! Das ist meine Heimat. Und die von Henryk M. Broder ist Deutschland. Er hat nicht für Israel gekämpft, sein Leben riskiert wie ich. Ich lebe seit meinem dritten Lebensjahr in Israel, bin ein Israeli mit Wurzeln in der jüdischen Kultur. Mein Vater gab mir universale Werte und Sinn für Gerechtigkeit mit auf den Weg. Das Land soll allen gehören, die darauf leben, ihre Häuser gebaut haben, den Boden beackern, hier Kinder zeugen und großziehen. Die angebliche jüdische Heimkehr nach 2000 Jahren diente der Kolonialisierung und Verdrängung einer indigenen Bevölkerung, wie es die Puritaner in Nordamerika oder die Buren in Südafrika taten.

Nun ist aber durch den Massenmord der Nazis an den Juden Europas eine andere, unvergleichbare Situation entstanden.

Die Shoah kann nicht mehr alles entschuldigen. Das wäre nicht nur für den Staat Israel gefährlich, sondern für alle Juden rund um den Globus. Man kann generell mit den großen Verbrechen in der Geschichte Revisionismus nicht begründen. Dann müssten wir die politische Landkarte gründlich umgestalten, so wie sie vor Tausenden oder Hunderten von Jahren aussah. Das würde ein Chaos geben, Gewalt und Wahnsinn inklusive. Man müsste die Reconquista rückgängig machen, die Araber dürften sich wieder auf der Iberischen Halbinsel ansiedeln. Die Indianer erhalten Manhattan zurück, alle Weißen und Schwarzen müssten New York verlassen. Und die Serben, Nachfahren der Sieger in der Schlacht auf dem Amselfeld 1389, dürften sich wieder im Kosovo ansiedeln dürfen.

Übertreiben Sie da nicht?

Überhaupt nicht. Geschichte ist nicht nur eine Welt der Ideen, sondern konkret Zeit und Raum menschlichen Handelns. Die Juden, die in den 20er Jahren Hollywood gründeten, kamen aus dem osteuropäischen Schtetl, nicht aus Palästina. Rabbi Nachman von Bratslav, dessen Grab im ukrainischen Uman Pilgerort der chassidischen Juden ist, und der selbst 1789/99 nach Palästina pilgerte, als dort gerade auch Napoleon weilte, hat das Land nie als nationales Eigentum angesehen, sondern als ein spirituelles Zentrum. Er kehrte demütig in sein Geburtsland zurück, wo er hoch geachtet starb und ehrenvoll beigesetzt wurde. Die ersten Siedler in der Ukraine waren jüdisch. Und ich sage Ihnen noch etwas: Ende des 19. Jahrhunderts war unter Zionisten auch Uganda im Gespräch.

Wie kann der Nahostkonflikt gelöst werden? Was halten Sie von der neuerdings wieder diskutierten Ein-Staat-Lösung?

Sie wäre optimal, aber ich bin nicht so infantil, zu glauben, das würde jetzt oder in naher Zukunft funktionieren. Auch eine Konföderation ist derzeit irreal. Die Mehrheit der jüdischen Israelis denkt rassistisch und favorisiert eine Art Apartheid. Doch wir können nicht in ständiger Feindschaft und im ewigen Krieg leben. Unser Militär muss sich aus den besetzten Gebieten zurückziehen. Wir dürfen keine neuen Siedlungen bauen. Sonst schüren wir immer nur neuen Judenhass, der neue Gewalt gebiert. Die Palästinenser haben Israel anerkannt. Israel muss auf die Palästinenser zugehen – und zwar nicht in Besatzungsstiefeln.

Sind Sie für eine UN-Mitgliedschaft der Palästinenser?

Aber natürlich. Eine Vollmitgliedschaft ist eine wichtige Voraussetzung für endlichen Frieden.

Wie viele Israeli denken wie Sie?

Nicht genügend. In Tel Aviv aber gibt es viele, die wie ich denken.

Was entgegnen Sie dem Vorwurf, Sie würden Wasser auf die Mühlen der Antisemiten gießen?

Ich weiß, in Deutschland gilt jede Kritik an Israels Politik als Antisemitismus. Ich bin Antisemiten wie Zionisten und Pro-Zionisten ein Ärgernis. Ich schreibe mit Sympathie für die Palästinenser, glaube an ihr Recht auf ihre nationale Heimstätte und verteidige das Existenzrecht des Staates Israel.

Dessen Gründung vor nunmehr 65 Jahren Sie als Akt der Vergewaltigung bezeichnen.

Aber die Kinder einer Vergewaltigung sind doch nicht illegitim. Ich möchte, dass alle Menschen, die in Israel leben, gleich behandelt werden, egal welcher Herkunft oder Religionszugehörigkeit sie sind.

Können Araber Antisemiten sein, wenn sie selbst Semiten sind?

Ein solcher Vorwurf wäre in der Tat problematisch. Deshalb bevorzuge ich den Begriff »Phobie«, Islamophobie oder Judenphobie. Es gibt unbestreitbar heftige Judenphobie in der arabischen Welt.

Und diese wurde mit der Gründung des Staates Israel 1948 geweckt oder befördert?

Eigentlich erst mit dem 1967er Krieg. Trotz der Nakba, der Vertreibung der Palästinenser 1948, war die Judophobie unter Arabern anfangs nicht so stark wie ab 1967. Und in den letzten Jahren wurde sie schlimmer und schlimmer. Wir müssen endlich den palästinensischen Staat anerkennen.

Sie waren im Sechstage-Krieg.

Wir wurden in den Kampf um Jerusalem geschickt. Meine Kameraden fühlten sich als »Heimkehrer « in die Stadt des Königs David, ich nicht. Und ich erschrak über die Brutalität gegen Palästinenser.

Was haben Sie erlebt?

Nach dem Krieg, im September 1967, stand ich Wache vor einer Polizeistation eingangs von Jericho. Plötzlich hörte ich furchtbare Schreie. Ich rannte ins Gebäude und sah, wie die Kameraden einen alten, gefesselten Palästinenser schlugen und mit brennenden Zigaretten traktierten. Ich stolperte hinaus und übergab mich. Kurz darauf kamen meine Kameraden mit der Leiche raus, warfen sie auf einen Wagen und riefen mir zu, sie würden zum Jordan fahren. Vielleicht haben sie ihn an der Stelle ins Wasser geworfen, wo nach mythologischer Überlieferung die »Kinder Israels« den Jordan überquerten auf dem Weg in das ihnen von Gott verliehene Land? Es war für mich ein traumatisches Erlebnis, über das ich lange nicht sprechen konnte.

Wie sehen Sie die Zukunft des Staates Israels?

Als Historiker scheue ich zwar Prophezeiungen, doch diese wage ich: Der Mythos von der Exilierung und der Heimkehr der Juden, der im 19./20. Jahrhundert als Folge nationalistischen Antisemitismus in Europa unter Juden virulant war, wird im 21. Jahrhundert sukzessive verschwinden.

* Aus: neues deutschland, Montag, 21. Januar 2013


Zurück zur Israel-Seite

Zurück zur Homepage