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Die israelischen Medien und die Intifada II

Was die Medien berichten, bestimmt das Militär

Hierzulande konnte die Friedensbewegung während des NATO-Kriegs gegen Jugoslawien ein Lied davon singen, wie die Kriegstatsachen von den Medien geschönt, verdreht und zum Teil auf den Kopf gestellt wurden. Ohnmächtig musste man mit ansehen, wie die Bilder vom Krieg im NATO-Hauptquartier zusammengestellt und für die Öffentlichkeit frei gegeben wurden, Bilder, die jeden Gedanken an eine Unrechtmäßigkeit der NATO-Intervention von vorneherein verdrängen sollten. In Israel - umgekehrt drüfte es in der arabischen Welt nicht viel anders sein - wurden die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und israelischem Militär seit dem 28. September 2000, der "Intifada II" auch höchst einseitig wahrgenommen und interpretiert. Und wie es sich gehört hatt auch hier das Militär die Meinungsführerschaft inne. - Der folgende Bericht, den wir der taz-Beilage Le monde diplomatique entnommen haben, handelt vom fast perfekten Diktat des israelischen Militärs gegenüber den Medien. Die Autorin, Amira Hass, ist Korrespondentin der Tageszeitung "Haaretz", einer Zeitung für die besetzten palästinensischen Gebiete. Aus ihrer Feder stammt das Buch "Drinking the Sea of Gaza" (New York 1999).

Die Israelis stellen sich blind und taub

Israel und Palästina: Verzerrte Wahrnehmungen

Die israelische Öffentlichkeit reagiert auf die blutigen Konflikte der jüngsten Zeit mit einer Stimmung, die sich im Wunsch nach einer Koalition unter Einschluss der friedensfeindlichen Kräfte widerspiegelt. Diese Stimmung wird durch die Berichterstattung der Medien genährt. Die aber halten sich unkritisch an die Informationen der Armee, die ungenau, lückenhaft oder schlicht unwahr sind.

Von Amira Hass

Seit Beginn der "Al-Aksa-Intifada" stützen sich die israelischen Medien auf die Verlautbarungen von Armee- und Regierungssprechern. Doch diese Informationen, die üblicherweise zuverlässig und präzise sind, strotzen nunmehr von Ungenauigkeiten, Unwahrheiten und Lücken. Zum Beispiel gab man den Journalisten zu verstehen, das Übermaß an Gewalt bei der Auflösung der Demonstrationen sei notwendig und gerechtfertigt gewesen, weil israelische Soldaten und Zivilisten gefährdet gewesen seien: Angeblich hätten aufgebrachte Jugendliche am 29. September während des Freitagsgebets in der Al-Aksa-Moschee jüdische Gläubige, die an der Klagemauer beteten, mit Steinen beworfen.

Dagegen hat die israelische Menschenrechtsorganisation Betselem einen Bericht veröffentlicht, der die Darstellung der palästinensischen Augenzeugen bestätigt: Die Steine galten zunächst dem Großaufgebot israelischer Polizisten, deren Anwesenheit auf dem Platz vor der Moschee eine Provokation darstellte. Überdies setzten die Ordnungskräfte gegen die Steinewerfer kein Tränengas ein, sondern von Anfang an Gummigeschosse, die auf geringe Entfernung tödlich sein können und es auch waren. Das auf diesem heiligen muslimischen Boden vergossene Blut löste im ganzen Land eine Welle der Empörung aus. Der Tod mehrerer junger Palästinenser hat das Feuer weiter geschürt.

Bis zum 20. Oktober gab es bei den Palästinensern in den besetzten Gebieten 115 Tote und 4 500 Verletzte, dazu kommen weitere zwölf Tote und 1 650 Verletzte in Israel selbst. Auf israelischer Seite gab es acht Tote. Um die Umstände jedes einzelnen Dramas aufzuklären, müssten sich Dutzende Untersuchungskommissionen von Betselem an die Arbeit machen. Freilich stimmen sämtliche Zeugenaussagen darin überein, dass die israelische Armee auf den Einsatz von Tränengas weitgehend verzichtet hat, obwohl dieses Mittel bekanntermaßen höchst wirksam ist, um Menschenmassen ohne Blutvergießen auseinanderzutreiben. Vielmehr hat das Militär regelmäßig Scharfschützen eingesetzt, die auf die Demonstranten zielten, und zwar auf deren Oberkörper: Die Zahl der Toten und Verwundeten, die in den ersten Tagen der Zusammenstöße oberhalb der Hüfte getroffen wurden, liegt nach Angaben aus palästinensischen Krankenhäusern bei 70 Prozent.

Die meisten israelischen Medien haben die Interpretation übernommen, die Soldaten hätten nur in für sie lebensgefährlichen Situationen von ihren Waffen Gebrauch gemacht. Erst als Kamera-Aufnahmen die gezielten Schüsse dokumentierten und der Beweis erbracht war, dass die offizielle Version nicht zutrifft, räumte die Armee einige "bedauerliche Irrtümer" ein. Die einzig plausible Erklärung lautet: Das israelische Militär muss den Schießbefehl gegeben haben, um auf diese Weise die Unruhen zu beenden - und erreichte damit das Gegenteil.

Am 6. Oktober erklärte der Armeesprecher, Soldaten auf einem vorgeschobenen Posten in der israelischen Siedlung Netzarim (Gaza) hätten zweimal auf Palästinenser geschossen, nachdem diese das Feuer eröffnet hatten. An diesem 6. Oktober wurden an der besagten Stelle vier Palästinenser getötet und vierundzwanzig verletzt. Ich selbst war am Ort des Geschehens und weiß, was der Armeesprecher verschweigt: dass Dutzende von Schüssen fielen und auch direkt aus der Siedlung mehrfach ganze Gewehrsalven abgegeben wurden. Ebenso unerwähnt ließ die Armee, dass Soldaten, die auf entfernteren Wachtürmen postiert waren, mit Maschinengewehren auf Tausende unbewaffnete Demonstranten gefeuert haben. Das Ziel der Aktion liegt auf der Hand: Die gegen die israelische Besetzung demonstrierenden Jugendlichen sollten von dem befestigten Vorposten möglichst fern gehalten werden. In diesem Fall handelte es sich gewiss nicht darum, dass die Soldaten ihr Leben verteidigen mussten.

Die Armeesprecher haben kaum einen Schuss von palästinensischer Seite unerwähnt gelassen. Zwei Dinge jedoch blieben den israelischen Medien verborgen. Zum einen eröffneten die bewaffneten Palästinenser im Allgemeinen nur dann das Feuer, wenn Scharfschützen gezielte Todesschüsse auf die Menge abgegeben haben. Und zum anderen gingen die Schüsse der Palästinenser nur allzu oft ins Leere. Belegt wird dies durch die Zahl der Opfer auf beiden Seiten. Die palästinensischen Sicherheitskräfte haben im Übrigen ihr Bedauern über den Schusswaffeneinsatz geäußert und erklärt, es sei hauptsächlich "in die Sonne" geschossen worden.

Indem die israelischen Medien detailliert über diese Zusammenstöße berichtet und dabei von "schwerem Beschuss" der Vorposten gesprochen haben, verstärkten sie in der Öffentlichkeit natürlich den Eindruck, Israel sei in einen kriegerischen Konflikt verwickelt, gegen eine palästinensische Armee, die ihrer eigenen gleichsam ebenbürtig sei.

Unter Berufung auf Informationen der Armee behauptete der israelische Rundfunk zudem, palästinensische Krankenwagen hätten "Autoreifen und Munition" zu den Orten gebracht, an denen es zu Zusammenstößen kam - als ob die Palästinenser zu solchen Zwecken nicht genausogut Privatautos benutzen könnten. Schließlich sind, wo immer die Gewalt eskaliert, auch Vertreter des Roten Kreuzes zur Stelle und kontrollieren die Nutzung der Krankenfahrzeuge. Diese gezielte Falschmeldung sollte lediglich die empörenden Angriffe der israelischen Streitkräfte gegen palästinensische Krankenwagen und die Ermordung eines Fahrers rechtfertigen.

Im israelischen Radio und Fernsehen, aber auch in den Zeitungen (mit Ausnahme von Haaretz) werden die Namen der palästinensischen Opfer nicht genannt: Deren Anonymität schützt die jüdische Öffentlichkeit davor, den Schmerz und die Empörung der Angehörigen wahrzunehmen. Auf diese Weise ließen sich die Ereignisse leichter als Ergebnis eines von der palästinensischen Autonomiebehörde initiierten Komplotts präsentieren. Dabei fürchtet der Palästinenserchef in Wahrheit doch jede Unruhe und jeden größeren Zusammenstoß. Denn er weiß sehr wohl, dass sich der Aufruhr irgendwann auch gegen ihn und seinen autoritären Führungsstil wenden könnte, da er es ja auch nicht geschafft hat, sein Versprechen eines unabhängigen palästinensischen Staates einzulösen.

Die Falschinformationen im Zusammenhang mit den jüngsten Zusammenstößen sind nur die Zuspitzung einer verzerrten Darstellung des in Oslo vereinbarten Friedensprozesses, die bereits sieben Jahre andauert. So sind die Israelis ganz allgemein blind und taub geblieben gegenüber den Klagen der Palästinenser, denen die endlos verschleppten Friedensverhandlungen weder ein gerechtes Abkommen noch ein menschenwürdiges Leben eingebracht haben. Während zugleich für die Bewohner der Palästinensergebiete die Auswirkungen der Osloer Verträge unübersehbar sind: Sie leben eingesperrt in Dutzenden von Käfigen, die Kolonisierung der besetzten Gebiete wurde verstärkt, und die wirtschaftliche Entwicklung ist an die Bedingung geknüpft, dass sich die palästinensische Autonomiebehörde einem neuen Typ von israelischer Kontrolle fügt.

dt. Passet/Petschner

Aus: Le monde diplomatique, Beilage zur taz, 10. November 2000

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