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Die Apartheidmauer

Ein Siedlungsprojekt zur Annexion des palästinensischen Landes. Von Hasan Ayoub

Den folgenden Teyt haben wir mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber der vor kurzem erschienenen Broschüre "Weg mit der Mauer in Palästina" entnommen.*



Vorwort

Seit der Besatzung des palästinensischen Landes im Jahr 1967 ist ein Segregationskonzept für das Vorgehen der israelischen Regierung nichts Neues (Segregation: räumliche Absonderung von Personen mit gleichen sozialen Merkmalen). Die Idee taucht seit der Entwicklung des Siedlungsprojekts unter verschiedenen Namen immer wieder auf und steht in direktem Zusammenhang mit der israelischen Vision für das besetzte Palästina. Politische Widersprüche innerhalb Israels gab es immer wieder bezüglich der Größe des Landes, das annektiert werden soll, wenn die Umsiedlung beendet ist. Die Vorstellungen variieren einerseits zwischen den Richtlinien, die 1967 im Allon-Plan vorgeschlagen wurden (siehe Anmerkung unten), und andererseits der Annexion des größten Teils der besetzten Gebiete mit Siedlungen in allen Regionen unter dem Slogan „Groß-Israel“.

Die Positionen der Laborpartei, die lange dem Allon-Plan folgte, und der Likudpartei haben sich im Verlauf der Zeit jedoch angeglichen. Ausgehend von der Idee des Allon-Plans wurde das Siedlungsprojekt immer mehr ausgeweitet und von beiden großen Parteien Israels getragen. Die Jahre zwischen 1977 und 1983, als die Likudpartei erstmals Regierungsverantwortung übernahm, brachten eine neue Qualität im Ausweitungsprozess der Besiedelung. Die Investitionen in den Besiedlungsprozess stiegen stark an und ständig wurden neue Siedlungen geschaffen.

Seit jener Ära wird das Besiedlungsprojekt in der israelischen Öffentlichkeit als legitim angesehen und als ein Pionierprojekt von grundlegender, lebensnotwendiger Sicherheitsbedeutung. Das Siedlungsprojekt hat seitdem niemals aufgehört und ist immer weiter fortgeschritten, sowohl durch die Konfiszierung von Land als auch durch ständig neue Siedlungen. Diese Entwicklung hat die demografische und geografische Lage der besetzten palästinensischen Gebiete dramatisch verändert. 1992 gab es bereits 101.100 Siedler in der Westbank, 140.872 in Jerusalem und 4300 im Gazastreifen.

„Oslo-Ära“ – die Besiedelung im entscheidenden Stadium

Vor der Unterzeichnung der Verträge von Oslo 1993 hatte das Siedlungsprojekt ein Stadium erreicht, das in keiner politischen Lösung außer Acht gelassen werden konnte. Doch die Besiedlung hatte nicht das von Israel anvisierte Ziel erreicht, bis 1986 eine Million Siedler in die Westbank und Gaza zu bringen. Die Oslo-Ära brachte eine Verschiebung in den Prioritäten Israels und Rabin stellte seine Pläne zur Segregation der Palästinenser und Israelis in Verbindung mit einem „Rückzug“ vor. Damals wurde der Begriff Segregation zum ersten Mal in einem offiziellen politischen Statement Israels erwähnt. Auch die Idee des Rückzuges wurde zuvor seitens Israels nur selten erwähnt. 1994 präsentierte Moshe Shahal, der israelische Polizeiminister ein Projekt, das einen Rückzug und den gleichzeitigen Bau einer Mauer vorsah. Diese Mauer sollte bei zukünftigen Verträgen verhindern, dass die Palästinenser zusätzliches Land unter ihre Kontrolle bekommen. Israel forcierte in dieser Zeit die Besiedlung. Mehrere neue Siedlungen und Umgehungsstraßen wurden in den besetzten palästinensischen Gebieten gebaut. Die besiedelte Fläche wuchs um schätzungsweise 100 % und im Jahr 2000 überschritt die Anzahl der Siedler 200.000.

Zwischen 1996 und 1998 wurden etliche Pläne in der politischen Arena Israel diskutiert und alle basierten auf dem Segregationskonzept und folgenden Standards:
  • vollständige Abschottung entlang der Grenzlinie vom Juni 1967 unter israelischer Überwachung,
  • volle Kontrolle des Jordantals,
  • Abschottung Jerusalems von der Westbank,
  • Kontrolle vieler entscheidender Gebiete mitten in der Westbank,
  • Beibehaltung fast aller Siedlungen und ihre Annexion unter israelische Souveränität.
Diese Standards und das Segregationskonzept wurden als Einigungspunkte zwischen der Labor- und der Likudpartei vereinbart und 1997 in einem Memorandum beider Parteien festgehalten. Die Siedlungsfrage stellte den wichtigsten Teil dieses Memorandums dar. Eindeutig erklärt das Dokument, dass ein Rückzug hinter die Grenzen von 1967 ausgeschlossen sei und dass die meisten Siedlungen unter israelischer Hoheit verbleiben würden.

Neben diesem Dokument wurden viele Entwürfe zur Diskussion gestellt. Die Regierung Netanyahu schlug vor, dass Israel 75 % der Westbank einbehalten und die Segregation auf dieser Grundlage vollziehen sollte. Ein Vorschlag der israelischen Armee gemeinsam mit dem Verteidigungsminister Yitzak Mordechai und Ariel Sharon lautete, dass Israel 63 % der Westbank behalten sollte, einen sieben bis zehn Kilometer breiten Streifen entlang der Grünen Linie und einen 20 Kilometer breiten Streifen entlang des Jordan.

Die Apartheidmauer

Das Thema der Segregation mündete schließlich in der Idee, eine Mauer zu bauen. Die Segregation zwischen den Siedlungen und dem Rest der Westbank durch die Mauer ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Annexion des gesamten palästinensischen Landes westlich der Mauer.

Hauptziele der Mauer
  • die Übernahme des fruchtbarsten Ackerlandes und seine Annexion durch die Siedlungen entlang der Mauergrenze,
  • die Entwicklung der Siedlungen auf diesen Gebieten zu sicheren Vorstädten israelischer Städte,
  • die Kontrolle der Quellen auf den wasserführenden Bodenschichten im Osten und Westen der Westbank,
  • die Bildung einer Verbindung zwischen der Grünen Linie und dem Jordantal
  • die vollständige Kontrolle über die beiden Sicherheitszonen im Jordantal und westlich der Mauer
  • die Umformung der Westbank in drei voneinander isolierte Gebiete: erstens das Hauptgebiet mit 1,56 Millionen Palästinensern, zweitens die Enklaven und Jerusalem mit 440.000 Palästinensern, drittens die Siedlungen jenseits der Mauer mit 98% der Siedler.
Westbank-Land, das durch Mauer und Siedlungen beschränkt wird
  • Land außerhalb (westlich) der Mauer, einschließlich Ost-Jerusalem 419 qkm 7,4 %
  • Land innerhalb des „Ariel-Fingers“ 119 qkm 2,1 %
  • Siedlungsblöcke innerhalb (östlich) der Mauer 453 qkm 8,0 %
  • israelisch kontrolliertes Jordantal 1.613 qkm 28,5 %
  • Insgesamt 2.604 qkm 46,0 %
Direkt von der Mauer betroffene palästinensische Bevölkerung
  • außerhalb der Mauer 240.215 10,1 %
  • abgeschnitten vom kultivierten Land 210.551 8,9 %
  • abgeschnitten vom kultivierten Land des „Ariel Finger“ 75.066 3,2 %
  • Insgesamt 525.832 22,2 %
Auswirkungen der Mauer auf das palästinensische Leben
  • Wenn die Mauer in einer Gesamtlänge von 750 Kilometern fertig ist, werden 236.000 Palästinenser in abgeschlossenen Enklaven isoliert sein, 115.000 von ihnen im Gebiet zwischen der Mauer und der Grünen Linie.
  • Die Mauer wird 440 Quadratkilometer des Gebietes von Jerusalem für Israel annektieren. Der zweite Abschnitt des Mauerbaus wird die komplette Umzingelung Jerusalems mit 22 Kilometern Mauer im Norden und im Osten vervollständigen. Die Mauer um Jerusalem wird die palästinensischen Bewohner der Stadt von allen Teilen der Westbank abschneiden, ebenso wie er Dörfer und Städte von der Stadt abtrennt und den Menschen den Zugang zu ihren täglichen Beschäftigungen und Aktivitäten in der Stadt verwehrt.
  • Die Mauer wird nach ihrer Fertigstellung das Land von 75 Siedlungen mit 303.000 Siedlern annektieren. Die gesamte Siedlerzahl in der Westbank wird auf 411.000 Personen geschätzt. Gleichzeitig werden 185.000 Siedler im Gebiet um Jerusalem durch Annexion an Israel angeschlossen.
  • Bei Fertigstellung der Mauer wird die Westbank in drei Hauptteile geteilt sein:
  • Der Norden einschließlich der Städte Nablus, Jenin, Tulkarem und Qualqilia, die mit Ramallah nur durch einen schmalen Pfad verbunden sein werden. Die Fläche dieses Teils beträgt 1.930 Quadratkilometer.
  • Der Süden einschließlich der Städte Hebron und Bethlehem mit einer Fläche von 710 Quadratkilometer.
  • Die Zone um Jericho mit einer Fläche von 60 Quadratkilometer.
Das sind insgesamt 2.700 Quadratkilometer, was 10 % des palästinensischen Mandatsgebietes entspricht und ungefähr 42 % der besetzten palästinensischen Gebiete von 1967.
  • Der erste Schritt des Mauerbaus im Norden der Westbank zerstörte 112 Quadratkilometer fruchtbarsten Ackerlandes und verursachte die Isolation von 442 Quadratkilometer zwischen Mauer und Grüner Linie.
  • Am 21. Februar 2004 ordnete der israelische Verteidigungsminister die Beschleunigung des Mauerbaus bei Hebron an. Hebron und weitere 71 Orte werden vom Rest der Westbank abgeschnitten sein. Die Mauer wird de facto 27 Siedlungen annektieren, in denen mehr als 12.000 Siedler leben.
  • Zu Beginn des Jahres 2005 beschloss die israelische Regierung den Beginn des Mauerbaus um die Ariel-Siedlung in der Mitte der Westbank. In diesem Abschnitt wird die Mauer das Ackerland von zehn Dörfern vernichten, die Besitzer von ihrem Land trennen und vier Dörfer mit ihren Einwohnern hinter der Mauer isolieren. Dieser Abschnitt wird 22 Kilometer tief in die Westbank hinein schneiden, sie mittendurch teilen und eine Barriere für den freien Transport in der Westbank bilden.
  • Bei Bethlehem ist eine 50 Kilometer lange Mauer geplant, von der 15 Kilometer bereits seit Ende Juli 2004 fertig sind. Dieser Teil besteht aus einer Militärstraße, Zäunen und Schützengräben von 60 bis 100 Meter Breite und 1,1 Kilometer Betonmauer mit einer Höhe von neun Metern. Sie wird 11,5 % des Gebiets der Region Bethlehem abtrennen. Das sind ungefähr 608 Quadratkilometer. Um zu diesem Land zu gelangen, müssen Palästinenser eine besondere israelische Genehmigung einholen.
  • Israel arbeitet intensiv an der Konstruktion eines parallelen Transport-Netzes mit Umgehungsstraßen, Kreuzungen, Tunnel und Brücken: ein Transportsystem für die palästinensische Bevölkerung, eins für die israelischen Siedler und die Armee.
Wirtschaft, Erziehung und Gesundheit
  • Die Mauer verursacht den Verlust von 12 Millionen Kubikmetern an Wasserressourcen, weil Israel die wasserführenden Bodenschichten im Westen dominiert und faktisch 40 Wasserquellen durch die Mauer konfisziert hat, was 80 % der palästinensischen Wasserressourcen entspricht.
  • Sie richtet schweren Schaden im Erziehungssystem an. Allein 170.000 Studenten und Schüler besuchen 320 Schulen, die jetzt hinter der Mauer liegen. Diese jungen Leute und ihre Lehrerinnen und Lehrer müssen jetzt täglich und zu bestimmten Stunden die Tore passieren, die von israelischen Soldaten kontrolliert werden.
  • Das Dorf Em Errehan im Nordosten von Jenin ist eines der grausamsten Beispiele für das Gesicht der Isolation und der Belagerung. Das Dorf ist von seiner Umgebung vollkommen isoliert, und nur ein absurdes Tor führt auf einem kleinen Pfad hinein und hinaus. Die Einzigen, die das Tor passieren dürfen, sind die Dorfbewohner. Israelische Ordnungsmächte haben nur fünf Lehrern den Zugang gestattet. Die Rettungswagen brauchen eine spezielle Erlaubnis, um hinein zu kommen. In einem Fall bekam ein Lehrer die Erlaubnis zum Zutritt in das Dorf erst ein Jahr, nachdem er die Erlaubnis beantragt hatte.
  • Auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheitsversorgung hat die Mauer 30 Wohnkomplexe von den Krankenhäusern und Arztpraxen abgeschnitten, die die Bewohner vorher versorgt hatten. Das bedeutet, dass 22.000 Menschen die medizinische Versorgung verweigert wird.
  • Der erste Mauerbau-Abschnitt von Jalboon-Jenin nach Qualqilia über eine Länge von 128 Kilometern hat den Verlust von 2.200 Tonnen Olivenöl verursacht, die jährlich gepresst wurden, eine Folge der Abholzung von 38.000 alten Olivenbäumen. Darüber hinaus bedeutet dieser Bauabschnitt den Verlust von 50 Tonnen Früchten und von 100.000 Tonnen Gemüse jährlich, sowie die Zerstörung von 174 Läden und 22 Fabriken.
  • 6.500 Landbesitzer und weitere 3.500 Bauern mussten den Verlust oder den drohenden Verlust ihrer Arbeit und ihrer Lebensgrundlagen hinnehmen. Als unmittelbare Folge dieser Mauer hat das Ackerland dramatisch abgenommen, allein in der Gegend um Jenin um 50 %, in Tulkarem um 58 % und in Qualqilia um 46 %.
Schlussfolgerung

Der Bau der Apartheidmauer ist Teil eines Siedlungsprojekts, das auf den Schutz und die Verewigung der Siedlungen abzielt, wie aus den dargelegten, lange zurück reichenden politischen Strategien Israels hervorgeht. Es ist deshalb äußerst schwer, die israelische Behauptung zu akzeptieren, der Mauerbau sei eine Sache des Schutzes gegen den so genannten palästinensischen Terrorismus. Vielmehr geht es darum mehr als 50 % der palästinensischen Gebiete zu annektieren. Diese Landstriche sind die wertvollsten der Westbank, sowohl was die Fruchtbarkeit als auch was die Wasserressourcen betrifft. Die Frage der Besiedlung soll seitens Israels im Sinne der Vision „Groß-Israel-Minus“, also abzüglich bestimmter Regionen gelöst werden. Es ist gerechtfertigt, die Mauer als ein Apartheidprojekt zu bezeichnen, denn sie teilt nicht zwischen zwei unabhängigen Parteien, sondern eine Partei reißt große Teile des Landes der anderen Partei an sich, kolonisiert es und grenzt die andere Partei systematisch aus.

Die politischen Konsequenzen des Mauerbaus sind die geografische und demografische Zerstörung der Einheit und Integrität der Westbank. Die Möglichkeit eines selbstständigen und unabhängigen palästinensischen Staates, der frei von Besatzung und Siedlungen ist, wird verhindert.

Doch die Auswirkungen der Mauer gehen weit über diese politischen Konsequenzen hinaus, sie erstrecken sich auf alle Grundlagen palästinensischen Lebens und verwandeln das Leben von Hunderttausenden von Palästinenserinnen und Palästinensern in eine „mission impossible“. Das heißt, dass diese Menschen in naher Zukunft gezwungen sein werden, ihr Land und ihre Häuser zu verlassen, und unter dem täglichen Druck der Mauer und der israelischen Maßnahmen auswandern müssen, weil ein Leben hinter der Mauer unerträglich ist.

(Übersetzung: Annette Schiffmann)

Anmerkung:
Der Allon-Plan des israelischen Verteidigungsminister vom 26. Juli 1967 (kurz nach dem Sechstagekrieg) sah Folgendes vor: Beibehaltung der Kontrolle über das Jordantal, um die Westbank militärisch zu kontrollieren; Beibehaltung des Jordan als Ostgrenze Israels und damit die Bildung einer militärischen Pufferzone gegenüber ausländischen Armeen; Annexion von Gebieten im Jerusalem-Korridor, um den Zugang zu Jerusalem zu sichern; Übergabe der Kontrolle über drei dicht bevölkerte Enklaven an die Palästinenser: eine Nord-Enklave mit Nablus, Jenin, Tulkarem und Ramallah, eine Süd-Enklave mit Hebron und Bethlehem und eine Enklave mit Jericho und einer Verbindung zum Jordan.
Die Politik der Laborpartei folgte lange diesem Plan. Die Siedlungen in Hebron und Ariel wurden deshalb auch gegen ihre Opposition durchgesetzt. Doch dieser Plan verschaffte Israel beispielsweise nicht die Kontrolle über die wasserführenden Schichten im Boden unterhalb der Westbank. So gab es in den folgenden Jahren noch mehrere Variationen des Allon-Plans. Der Plan selbst wurde zwar irrelevant, doch seine Elemente beeinflussen bis heute das strategische Denken Israels.


* Hasan S. Ayoub ist Direktor des National Bureau for the Protection of Land and the Resistance of Settlements (NBPRS) in Nablus.
Dieser Artikel stammt aus der Broschüre „Weg mit der Mauer in Palästina“, herausgegeben im Juli 2005 vom Koordinationskreis Stoppt die Mauer in Palästina: www.stopptdiemauer.de



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