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In der Konsensfalle

Israels konformistische Linke

Von Moshe Zuckermann *

Die alte marxistische Denkfigur von Basis und Überbau, die sich bei Marx noch primär auf die sozial-ökonomischen Produk¬tionsverhältnisse und ihre direkten wie indirekten Legitimierungen in den Bereichen der Politik, des Gesetzes, der Religion und der Kultur bezog, ist bekannterweise ihrer ursprünglichen Bedeutung weitgehend entwachsen, der Ideologiebegriff mithin inzwischen solchermaßen transformiert worden, daß sich seine binäre Urfassung kaum noch zu halten vermochte. Dennoch darf Ideologiekritik – trotz aller inzwischen erfolgten Aufweichungstendenzen – weiterhin als ein brauchbares, ja unabdingbares Instrument der Dekodierung von manipulationsträchtigen Diskursmechanismen und des von ihnen herrührenden falschen Bewußtseins angesehen werden. Das Problem besteht halt nur darin, daß die Dekonstruktionspraxis ungleich komplexer geworden ist, nicht zuletzt, weil oft nicht mehr für selbstverständlich erachtet werden kann, was als Realität anzusehen sei, aus der sich Ideologie herausbildet, und auf die sich dann Ideologiekritik ihrerseits bezieht. Schon im Adornoschen Begriff der Kulturindustrie spiegelte sich das strukturelle Ineinandergreifen, mithin die dichte Verzahnung von Basis und Überbau wider. Kaum noch eindeutig zu bestimmen, wie der kausale Wirkzusammenhang von Sein und Bewußtsein, von Praxis und Meinung, von Realität und ihrer ideologischen Entstellung sich bildet und verdichtet.

Fundamentaler Patriotismus

Geht man nun davon aus, daß es traditionell die Linke (bzw. die linke Intelligenz) war, die als Platzhalterin rigoroser Ideologiekritik fungierte und als solche den Anspruch auf fortwährende Anprangerung von Bewußtseinsdefiziten im Hinblick aufs schlecht Bestehende erheben durfte, so war die diesbezügliche Stellung von Linken in Israel von Anbeginn prekär. Aus der Chronik des Zionismus leitete sich nämlich ab, daß die Hauptbewegungen, Gruppen und Parteien, die die Infrastruktur des Staates bereits in der prästaatlichen Phase errichteten und das politische Establishment nach der Staatsgründung bildeten, dem Lager sozialistischer bzw. sozialdemokratischer Gesinnung entstammten. Bedenkt man zudem, daß die Errichtung einer nationalen jüdischen Heimstätte den allermeisten Juden nach der Shoah als historische Notwendigkeit galt, bildete die unsichtbare Glocke eines fundamentalen Patriotismus die unhinterfragbare Rahmenbedingung für soziale und politische Kritik im gängigen öffentlichen israelischen Diskurs.

Entsprechend geht man wohl nicht fehl mit der Behauptung, daß die kritische zionistische Intelligenz Israels von Anfang an zur Elitenkonstellation der neuen Gesellschaft und ihrer kulturellen Hegemonie zählte. Sie durfte sich kritischer journalistischer, publizistischer und belletristischer Praxis befleißigen, politische Opposition bilden, schwierige Fragen ans real Bestehende in Israel stellen, aber eben nur bis zur selbst auferlegten Tabubarriere, die Grenzen des kollektiven Konsenses nie überschreitend. Daß dabei Kritik nur die »von oben« zugelassene sein durfte, schlug sich in Ben Gurions paradigmatisch gewordenem Diktum nieder »Ohne Kommunisten und Cherut-Partei«, was soviel hieß wie: Nie und nimmer dürften die nicht- bzw. antizionistischen Kommunisten, aber eben auch die dem ehemaligen Lager der rechtsgerichteten Revisionisten entstammenden oppositionellen Hyperzionisten der Cherut-Partei Begins als Koalitionspartner der herrschenden Regierungspartei zugelassen werden.

Es ging dabei weniger um brachiale Verfolgung (obgleich es auch diese zuweilen geben mochte) als vielmehr um eine umso strenger eingehaltene politische wie gesellschaftliche Exklusionspraxis. Vieles von dem, was späterhin in Israels politischer Kultur als »links« wahrgenommen und apostrophiert werden sollte, entstammt den Politkoordinaten jener staatlichen Gründerzeit, in der die international ausgerichtete Linke (freilich im Kontext eines bereits wütenden Kalten Krieges) tabuisiert wurde, das linke Establishment der Arbeiter- und späteren Arbeitspartei selbst aber zum Pejorativum der Ausgegrenzten von rechts geriet.

Soziale Frage ausgeblendet

Als Begins Likud-Block dann im Jahre 1977 an die Macht gelangte, verschoben sich die Krite¬rien der Rechts-Links-Zuordnung vollends. Denn nicht nur kam damit eine mehrere Jahrzehnte währende Vorherrschaft der Arbeiter- bzw. Arbeitspartei an ihr Ende, sondern der charismatische Führer der Likud-Bewegung schaffte es (mit den Mitteln eines zuweilen kruden demagogischen Populismus), seine liberal, mithin dezidiert kapitalistisch ausgerichtete Partei als neue politische Heimstätte für die unteren Schichten der israelischen Gesellschaftsordnung darzustellen und anzubieten. Dabei stützte er sich auf das zu jenem Zeitpunkt zur Kulmination gelangte Ressentiment der orientalisch-jüdischen Bevölkerungsschichten gegenüber der für »aschkenasisch« erachteten Herrschaftshegemonie der Arbeitspartei, womit denn »aschkenasisch« und »links« mutatis mutandis gleichgesetzt und mit entsprechender unverhohlener Aversion besetzt wurden.

Die Überlappung der Klassen- mit der ethnischen Dimension in der israelischen Gesellschaft birgt tatsächlich einen historischen Wahrheitskern: Da sich der politische Zionismus ursprünglich als ein westlich-modernes Projekt mit europäischen Wurzeln generierte, dominierten anfangs primär aschkenasische Protagonisten seine Aufbaupraxis und das ihr verschwisterte ideologische Diskursfeld. Als aber nach der Shoah die Millionen Juden Europas, denen die zionistische Lösung der »Judenfrage« eigentlich zugedacht gewesen war, nicht mehr am Leben waren, griff man, die demographische Not im gerade errichteten Judenstaat gewahrend, auf den staatlich organisierten Bevölkerungsimport aus den arabischen Ländern zurück (allen voran aus Marokko, Jemen und dem Irak). Die offensichtlichen sozia¬len, ökonomischen wie kulturellen Gegensätze zwischen den nunmehr zusammengekommenen europäischen und orientalischen Juden sollten zwar – zukunftsfroh und durchideologisiert, wie man im Pathos jener Gründerzeit nun mal war – im Laufe der Jahre kraft eines sogenannten nationalen »Schmelztiegels« überwunden werden; aber real bildete sich schon damals, was späterhin das politische Schicksal Israels maßgeblich bestimmen sollte: die Klassenhierarchie samt der ihr eigenen und sie mitbestimmenden ethnischen Dimension.

Für ironisch darf dabei erachtet werden, daß ein Großteil der unterbemittelten Juden in der israelischen Gesellschaft von da an, entgegen ihrem objektiven Klasseninteresse, einer nicht minder »aschkenasisch« beherrschten Partei das Wort redeten, welche nichts für ihre sozialen Belange zu unternehmen gedachte, ihnen dafür aber als Antipodin der verhaßten Arbeitspartei ein neues ideologisches »Zuhause« anzubieten beanspruchte. Nicht zuletzt infolge dieser bemerkenswerten Verkehrung des Verhältnisses von gesellschaftlicher Struktur, Gesinnung und parteilicher Zugehörigkeit verlor der Begriff »links« in Israel nach und nach seine soziale Bedeutung und mutierte ganz zum Repräsentationsbegriff der Positionierung in außenpolitischen Fragen, mithin im israelisch-palästinensischen Konflikt und seiner möglichen Lösung.

Pro Zwei-Staaten-Lösung

Für links werden seitdem jene erachtet, die eine politische Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts im Sinne einer das Kernproblem des Konflikts bildenden Teilung des Gesamtterritoriums Israel-Palästina anstreben. Als rechts gelten entsprechend jene, die einen Rückzug aus den im 1967er Krieg besetzten Gebieten entweder ganz verdammen oder doch zumindest nur eingeschränkt und unter Wahrung der israelischen »Sicherheits«-Hegemonie zulassen möchten. Dabei unterzogen sich freilich beide Lager im Laufe der Jahre einem gewissen Wandel. Denn wenn Begins Likud-Partei in ihren Regierungsanfängen, die Gesinnung der ursprünglichen Cherut-Partei wahrend, einer Großisrael-Ideologie das Wort redete, derzufolge zumindest das Westjordanland als integraler Bestandteil von Erez Israel anzusehen sei, so verblaßte die ehemals befeuernde Wirkmächtigkeit dieser Ideologie inzwischen solchermaßen, daß sie als historisch ad acta gelegt gelten darf. Das schlägt sich nicht zuletzt auch im familiären Generationsgefälle israelischer Spitzenpolitiker der Likud- und Kadima-Parteien nieder: Väter und Mütter von Personen wie der gegenwärtigen Außenministerin Zipi Livni, des ehemaligen Justizministers Dan Meridor oder etwa des Kadima-Ministers Zachi Hanegbi gehörten zu den Hardlinern der Großisrael-Ideologie. Ihre Kinder geben sich – realpolitisch »geläutert« – als deutlich moderiert. Einzig der jüngst zur Likud-Partei zurückgekehrte Sohn Begins, Benjamin Zeev Begin, hält unter den sogenannten »Prinzen« der Likud-Partei weiterhin an der überlebten Ursprungsideologie seines Vaters fest.

Das linke (wie gesagt, sich fast nur noch um außenpolitische Belange kümmernde) Lager unterteilt sich seit jeher in den Löwenanteil der zionistischen Linken und die immer schon eher randständige nicht- bzw. antizionistische Linke, die sich allerdings – insofern nicht parlamentarisch in der Kommunistischen Partei und den sektoralen arabischen Parteien zusammengefaßt – eher außerparlamentarisch profiliert.

Was dabei in Deutschland oft nicht verstanden wird, ist, daß niemand in der israelischen Linken – auch nicht ihre dezidierten Zionismuskritiker – das Existenzrecht Israels je in Frage gestellt hat. Es gab zwar immer vereinzelte Stimmen, die einer binationalen Lösung des Konflikts das Wort redeten, sich mithin auch in ferner Zukunft eine israelisch-palästinensische Konföderation vorstellen könnten, aber die mächtige Überzahl der Linken Israels plädiert für und kämpft um eine Zwei-Staaten-Lösung, welche freilich die Bewältigung einiger Neuralgien des zionistischen Selbstverständnisses zur Voraussetzung hätte: nicht nur die Räumung der im 1967er Krieg besetzten Gebiete und den Abbau des in ihnen errichteten Siedlungswerks, sondern auch die politische Lösung der Jerusalem-Frage sowie die symbolische Anerkennung des Rückkehrrechts der Palästinenser.

Ende eines Tabus

Daß besagte Neuralgien in den letzten Jahren überhaupt angerührt werden können, ja Postulate der einst geschmähten und verfolgten Matzpen-Gruppe [1] mittlerweile Eingang in den israelischen Politdiskurs gefunden haben und etabliert worden sind, hat zum einen mit objektiven Entwicklungen des Nahostkonfliktes in den letzten Jahrzehnten zu tun, zum anderen aber auch mit einer im 1982er Libanonkrieg errungenen öffentlichen Legitimation der rigorosen Hinterfragung von kontroversen politischen Entscheidungen und militärischen Praktiken israelischer Regierungen. Die inzwischen legendär gewordene Protestkundgebung der »Vierhunderttausend« angesichts der Massaker von Sabra und Schatila darf, so besehen, in der Tat als tabubrechender Meilenstein in der Herausbildung einer radikalisierten kritischen Öffentlichkeit in Israel angesehen werden.

Die fortwährende Wirkmächtigkeit solch publiker Hinterfragung der zu nationalen Ausnahme- und Katastrophenzuständen führenden (außen)politischen Prozesse und Entscheidungen schlug sich dann in der ersten Intifada von 1987 nieder, als die Brutalität der israelischen Armee bei der Niederschlagung des (nicht militarisierten) Volksaufstandes der Palästinenser schockierte Reaktionen in der jüdischen Bevölkerung des Landes zeitigte. Sie verfestigte sich dann nachgerade zur Matrix einer Gesinnungseuphorie der Linken im Verlauf des Oslo-Prozesses der 1990er Jahre, als es über Strecken scheinen mochte, daß sich historische Chancen für eine friedliche Beilegung des über Jahrzehnte durchideologisierten »Sicherheitsproblems« eröffnet hatten. Die Kittfunktion der politisch fetischisierten »äußeren Bedrohung« lockerte sich dabei in einem Maße, daß die (nicht zuletzt akademische) Enttabuisierung zentraler Mythen des israelischen Nationalkonsenses – etwa das staatsoffizielle Narrativ des 1948er Krieges, die Shoah als Legitimationsbasis des zionistischen Staates, die schmelztiegelhafte Integration jüdischer Ethnien in Israel, ja sogar das unantastbare geschichtliche Selbstbild des Zionismus – möglich wurde.

Hervorgehoben sei allerdings, daß die damalige hoffnungsfrohe Tauwetterstimmung unter den zionistischen Linken auch sehr genau um ihre eigenen unüberschreitbaren Grenzen wußte, eben die des zionistischen Konsenses. Dies schlug sich z. B. in der hochbrisanten Frage der Reservedienstverweigerung in den besetzten Gebieten nieder: Die linkszionistische Merez-Partei widersetzte sich konsequent dieser Möglichkeit des Protestes gegen die oppressive Okkupationspolitik und -realität, während Ikonen der außerparlamentarischen Oppositionen wie Yeshayahu Leibowitz (freilich Zionist im Selbstverständnis), aber auch israelkritische Organisationen wie Yesh Gvul darauf insistierten, daß eine massenhafte Verweigerung der Teilnahme an der israelischen Unterdrückungspraxis nicht nur legitim, sondern politisch auch wünschenswert sei.

Jedoch nicht nur bei solchen Grundsatzfragen, denen die Kontroverse von vornherein mit eingeschrieben ist, sondern auch da, wo sich die linke Positionierung hätte eindeutig homogen wissen müssen, erwies sich die zionistische Linke stets als von staatstragendem »Verantwortungsgefühl« beseelt und entsprechend in ihrer Gesinnungsfestigkeit aufweichbar: Was hätte die israelische Linke als solche mehr konsolidieren müssen als die Ermordung Yitzhak Rabins? War doch der Träger der verheißungsvollsten Friedensinitiative seit Bestehen des Staates von einem politisch motivierten rechtsradikalen Siedleranhänger vorsätzlich umgebracht worden. Die Rechte, die an Rabins systematischer Delegitimierung monatelang mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln agitatorisch laboriert hatte, hätte auf Jahre hinaus politisch diskreditiert werden können (und müssen). Statt dessen heulten sich linke Jugendbewegungen am Ort des schicksalsträchtigen politischen Verbrechens eine Woche lang unpolitisch aus, ließen sich den ideologischen Schmarren einreden, sie grenzten die gesamte Rechte von der »nationalen Trauer« aus, beteiligten sich an der politisch inszenierten Kollektivkitsch-Kampagne der »nationalen Versöhnung«, um sechs Monate später registrieren zu dürfen, daß nicht Peres, sondern der Likud-Führer Benjamin Netanyahu zum nächsten israelischen Ministerpräsidenten gewählt wurde. Die Linke hatte es im kritischsten Moment der israelischen Friedenschronik geschafft, sich ihrer eigenen Raison d'être zu begeben.

Auf Konsolidierungskurs

Und als nach dem Zusammenbruch des Oslo-Prozesses die zweite Intifada ausbrach, ließ es sich die gesamte zionistische Linke nicht nehmen, in »Verwirrung« zu geraten, sich das offizielle »Kein Verhandlungspartner«-Narrativ der israelischen Teilnehmer an den Camp-David- und Taba-Gesprächen einreden zu lassen, um somit der Politik Scharons, die auf nichts anderes aus war als auf die systematische Zerstörung der PLO, die Demontage der palästinensischen Autonomiebehörde und die Paralysierung Arafats, direkte wie indirekte Rückendeckung zu verschaffen. Es mochte zuweilen scheinen, als atmete die zionistische Linke nahezu auf, nachdem sie solcherart in den Schoß der durch »äußere Bedrohung« notwendig forcierten nationalen Konsolidierung zurückgeschreckt worden war. Und so segnete sie auch die unmäßig brachiale Gewalt Scharons bei der Bekämpfung der Palästinenser eher volens als nolens ab, ohne sich im geringsten Rechenschaft darüber abzulegen, welches Machtvakuum in den besetzten Gebieten überhaupt, besonders aber im Gazastreifen nach Arafats Tod entstehen mußte, ein Vakuum, das den rasanten Aufstieg der Hamas in der Tat beförderte.

Es steht außer Zweifel, daß mit der Hisbollah im Norden und der Hamas im Süden, beide verlängerte Arme iranischer Machtinteressen in der Region, Israel ein Feind erwuchs, dem kein israelischer Linker übermäßige Sympathien entgegenzubringen vermag. Indes, nicht dies steht im hier erörterten Zusammenhang zur Debatte. Denn abgesehen davon, daß man Israels ureigensten Schuldanteil an der Heraufkunft dieses neuartigen Feindes eingehend zu analysieren hätte, stellt sich doch die Frage, wie sich die zionistische Linke bei den periodischen Kriegskonstellationen der letzten Jahre positioniert.

Man muß nicht lange nach Antworten suchen – das althergebrachte Verhaltensmuster zionistischer Linker in Kriegszeiten hat sich auch beim zweiten Libanon-Krieg von 2006 wie beim Gaza-Krieg der Jahreswende 2008/2009 wieder vollends bewährt: Sobald »die Würfel gefallen sind«, unterwirft sich diese Linke stets einer mehr oder minder gefestigten Loyalität dem Staat, der Regierung, dem Militär gegenüber, und zwar unabhängig davon, ob der Krieg gerechtfertigt ist, mit welcher Brutalität er geführt wird und welchen Schaden er anrichtet – der schiere Tatbestand, daß Krieg herrscht, läßt das kritische Reflexionsvermögen der zionistischen Linken so sehr erlahmen, daß sie sich im besten Fall in Schweigen einhüllt, im gängigeren aber ihr symbolisches Kapital in einer Weise einsetzt, daß sie der hurrapatriotisch tobenden vox populi inhumana in nichts nachsteht; was die unselige talkback-Kultur des Internets an verbalen Überspanntheiten und ideologischem Gedröhn zutage fördert, kleidet sie lediglich in schönere Worte ein. Und wenn schon einzelne Gerechte in Sodom wie Amira Hass oder Gideon Levy ihr mutig Redliches leisten, um den erhitzt-verblendeten Jubelkonsens gegen den Strich zu bürsten, avancieren sie im lautstarken Gefauche der Urständ feiernden »Patrioten« alsbald zu »schändlichen Araber-Liebhabern«, »verräterischen Nestbeschmutzern« und »verruchten Vergiftern der nationalen Moral«.

Eine publizistische Melange aus zweckrationaler »Analyse« kriegsimmanenter Begebenheiten und Abläufe (die den Entstehungszusammenhang des So-Gewordenen unreflektiert beläßt), aus sentimentaler Selbstgerechtigkeit, damit einhergehender Selbstviktimisierung und lakunenhaften Spuren dessen, was eigentlich zu sagen wäre, sich aber aus selbstauferlegter Schweigepflicht verbietet, beherrscht die Medienwirklichkeit der Kriegstage, legt sich mithin auch aufs Gemüt der vor sich hindämmernden zionistischen Linken – bis dann die Barbarei zum Ende gelangt, die Kriegseuphorie versiegt, das »linke Gewissen« nach und nach erwacht und man sich allmählich bewußt wird, womit man sich verbündet, welchen Zuspruch man geleistet hat und wes Geistes Kind man freiwillig geworden ist. Bald wird man wieder für den Frieden sein, der Zwei-Staaten-Lösung das Wort reden, gegen die Likud-Partei und alles, was rechts von ihr liegt, wortgewandt und mit Emphase wettern – bis zum nächsten »ungewollten, gleichwohl unabwendbaren« Krieg, wenn barbarische Gewalt und ideologische Verblendung vorherrschen und die Würfel wieder einmal gefallen sein werden.

[1] Matzpen (hebr.: Kompaß), revolutionär-marxistische und antizionistische Organisation, die 1962 in Israel gegründet wurde und bis in die 1980er Jahre aktiv war. – d. Red.

* Der Soziologe Prof. Moshe Zuckermann lehrt seit 1990 am Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas (Universität Tel Aviv) und war von 2000 bis 2005 Direktor des Instituts für Deutsche Geschichte in Tel Aviv. Zuletzt erschien von ihm »Zeit der Lemminge. Aphorismen«, Passagen Verlag, Wien 2007 (dieser und andere Titel des Autors auch im jW-Shop erhältlich). Am 10. Februar kommt bei Pahl-Rugenstein, Bonn, Moshe Zuckermanns Band »Sechzig Jahre Israel. Die Genesis einer politischen Krise des Zionismus« heraus (166 S., brosch., 16,90 Euro, ISBN 978-3-89144-413-9)

* Aus: junge Welt, 24. Januar 2009



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